Neue Zürcher Zeitung - 27.03.2020

(Jeff_L) #1

Freitag, 27. März 2020 INTERNATIONAL 3


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Rios Gangs verhängen Ausgangssperre


Das Coronavirus ist in den Armenvierteln angekommen– während die Regierungzögert, handelt das organisierte Verbrechen


NICOLE ANLIKER, RIO DEJANEIRO


Wie besorgt Rio deJaneiros Drogenban-
den über dieAusbreitung des Corona-
virus in denFavelas sind, zeigt sich die-
serTage:Im Armenviertel «Cidade de
Deus» (CDD) verhängte das berüchtigte
«ComandoVermelho» unverzüglich eine
Ausgangssperre,nachdem amWochen-
ende eine erste Ansteckung bestätigt
worden war. Wer sich nach 20 Uhr noch
auf der Strasse herumtreibe, bekomme
eine Lektion erteilt,davor warnteine
verfremdete Stimme die Nachbarschaft
in einerWhatsapp-Sprachnachricht. Die
Bande sei sich der Risiken von Corona
bewusst, sagt Carla Siccos, eine Bewoh-
nerin von CDD. Sie erzählt amTelefon,
wie der Dealer in ihrer Strasse neustens
Drogen mit Handschuhen verkaufe.


Banden als De-facto-Autorität


Aus anderenFavelas ist zu hören, dass
Drogenbanden ihre Verkaufsstellen
wegen der Ansteckungsgefahr geschlos-
sen haben. Auch einigeBaile-Funk-
Tanzpartys wurden nach Medienanga-
ben auf Befehl von Gangs bis auf weite-
res suspendiert.Banden zweier Armen-
viertel in der Südzone Rios haben
zudem den Zutritt vonTouristen verbo-
ten,die imRahmen organisierterTours
dieFavelas betreten. Die von kriminel-
lenFraktionen ausgerufenenAusgangs-
sperren verlaufenunkoordiniert und be-
treffen nicht alle Armenviertel. Offiziell
leben mehr als 1,5 Millionen Brasilianer
in den über 750Favelas von Rio.
DieBanden fühlen sich im Kampf
gegen diePandemie vom Staat offen-
bar im Stich gelassen. DieFraktion des
ComandoVermelhos, welche dieFavela
Rocinha in der Südzone Rioskontrolliert,
erklärtin ihremAufruf über die sozia-
len Netzwerke:«Wir wollen das Beste
für die Bevölkerung. Wenn dieRegie-
rung unfähig ist, das Problem zu lösen,
tut es das organisierteVerbrechen.» An-
gesichts der ausbleibendenRegierungs-
präsenz agierenBanden und Milizen in
vielenFavelas seit jeals De-facto-Autori-
tät. Die Bewohnerwürden dieAusgangs-
sperre respektieren,versichert Carla Sic-
cos. Nach 20 Uhr sei in CDD niemand
mehr auf der Strasse. Doch tagsüber, so
bedauert sie, seien immer noch zu viele
Personen unterwegs.
Auch RicardoFernandes bestätigt das.
Der 30-Jährige ist Mitglied des Krisen-
kabinetts, das 40 Anwohner der CDD im
Kampf gegen Covid-19 ins Lebengeru-
fen haben. Die Menschen seien zwar be-


sorgt, dass ein Anwohner positiv darauf
getestet worden sei. Doch viele tätensich
schwer, die vomVirus ausgehende Gefahr
zu verstehen, sagt der Mitinhaber eines
Kulturzentrums in derFavela.Darum
leistet das KrisenkabinettAufklärungs-
arbeit, verteilt Flyer mitVerhaltensricht-
linien, informiert perLautsprecher und
über soziale Netzwerke über die Risiken.
Rund 40 000 Einwohner leben in CDD,
in deren verletzlichsten Ecken verteilt das
Krisenkabinett auch Hygieneartikel.

Der Staat istabwesend


«Der Staat ist in denFavelasabwesend,
im Bezug auf das Coronavirus verhält
sich das gleich», stelltFernandes klar.
Deshalb haben sich auch in vielen ande-
ren Armenvierteln Nachbarschaftsorga-
nisationen mobilisiert. Sie haben Prä-
ventionskampagnen ins Leben gerufen,
verteilen Seife und Grundnahrungsmit-
tel. DerTenor ist überall derselbe: Man
hilft sich, wo man kann.
Brasilien zählt derzeit 61 Corona-
Tote. Bisher waren die Infektionsfälle

ausschliesslich in Riosreicheren Quar-
tieren der Mittel- und Oberschicht ver-
zeichnet worden. Mit demFall in CDD
ist diePandemie nunaber in den Armen-
vierteln angekommen. «Die Ironie ist,
dass die Krankheit von denReichen mit
dem Flugzeug nach Brasilien gebracht
wurde, aber unter den Armen explodie-
ren wird», sagte ProfessorPaulo Buss
vomForschungszentrumFiocruz gegen-
über der Nachrichtenagentur AFP. Rios
erste Corona-Tote bekam denn auch
traurigenSymbolcharakter: Es handelte
sichum eine 63-jährige Haushälterin, die
von ihrer aus Italien eingereistenVorge-
setzten angesteckt worden war.
Rio sei eine verdichtete Stadt; der
Gesundheitsminister zeigte sich Ende
Februar in Bezug auf dieAusbreitung
desVirus besorgt. Eine grosse Anzahl
vonPersonen lebe in Gebieten sozialer
Ausgrenzung mit geringen sanitären Ein-
richtungen.Das Viruskomme zu den be-
reits bestehenden Problemen derFavela
hinzu, erklärtFernandes vom Krisen-
kabinett. Erregt sichüber die verharmlo-
sende Haltung von PräsidentJair Bolso-

naro auf, der diePandemie am Dienstag
bei einer Ansprache als «Grippchen» ab-
tat. Auch der Gouverneur und der Bür-
germeister unternehmen seiner Ansicht
nach nicht genug gegen die Krise.

KeinWasser zum Händewaschen


In Rio wardas öffentliche Lebenver-
gangeneWoche weitgehend lahmgelegt
worden. Auf Druck von Bolsonaro er-
klärte der Bürgermeister nun, dass ge-
wisseLäden abFreitag wieder öffnen
dürften. Der Gesundheitsminister ruft
die Brasilianer aber generell dazu auf,
zu Hause zu bleiben,Körperkontakt zu
vermeiden und die Hygienevorschriften
einzuhalten. Die Empfehlungen sindmit
den Lebensrealitäten einerFavela aber
weitgehend inkompatibel.
«Wie soll ich mir die Hände waschen,
wenn eskein fliessendesWasser gibt?»,
fragtFernandes rhetorisch und erklärt:
Teile von CDD hätten während der vier
letztenTagekeinWasser gehabt. «Ein
konstantes Problem», brüllt er insTele-
fon. Bei der städtischen Ombudsstelle

gingen dieserTage knapp 500 Beschwer-
denwegenWassermangel ein – diegrosse
Mehrheit kamen ausFavelas. DieRegie-
rung schickte darauf 40Tanklastzüge mit
Wasser in betroffene Gegenden, was das
strukturelle Problem aber nicht löst.
Auch dieVermeidung vonKörper-
kontakt ist in einerFavela, in dem die
Bewohner auf engstemRaum zusam-
menleben,schwierig. Familien von fünf
bisachtPersonen aller Altersgruppen
hausen meist in zwei oder drei Zimmern.
Selbstisolation bei Corona-Verdacht sei

für die meisten in ihrer Nachbarschaft
unmöglich, sagt Mariluce Maria. Sie lebt
im Complexo de Alemao, einerBallung
von 14 Favelas im Norden der Stadt. Die
Anweisung der Behörden, zu Hause zu
blieben,seiebenso wenig mit ihrerRea-
lität vereinbar. «Und wie verdienen wir
dann Geld?Wie kaufen wir Essen?»,
fragt sie genervt amTelefon.
Die 38-Jährige weist auf einen ent-
scheidenden Punkt hin. In Brasilien
arbeiten 40 Prozent der Beschäftigten
im informellen Sektor: als Strassenver-
käufer, Motorradtaxi-Fahrer, Lieferan-
ten, Putzkräfte oder Kindermädchen.
Wenn sie nicht arbeiten, bleibt das Ein-
kommen aus, und es gibtkein Essen,ge-
schweige denn Geld für Desinfektions-
mittel. Die Einschränkungen im öffent-
lichen Leben haben finanziell bereits
viele von ihnen hart getroffen.
DieRegierung hat Sofortmassnah-
men eingeleitet. Arbeitnehmer im in-
formellen Sektor erhalten umgerechnet
knapp 40 Franken pro Monat. EineFami-
lie kann damit nicht ernährt werden.
Deshalb versuchen viele weiterzuarbei-
ten, quetschen sich in öffentlicheVer-
kehrsmittel und setzen sich der Gefahr
aus, angesteckt zu werden und dasVirus
heimzubringen. DieFolgenkönnten ver-
heerend sein. Maria sagt, sie fürchte sich
vor dem Coronavirus. Noch mehr Angst
mache ihr aber der Hunger.

Ein Helfer bringt einPaket mit Seifeund Reinigungsmitteln zurVerteilung in dieFavela Rocinha in Riode Janeiro. LEO CORREA / AP

Viel zu wenig Ausrüstung in der Corona-Krise


In Spanien liegt die Zahl der Toten höher als in China –dramatische Szenen in Klinikenund Altersheimen


UTE MÜLLER, MADRID


Fast dreiWochen haben die Spanierin-
nen und Spanierauf Schnelltests ge-
wartet, um effektiver gegen das grassie-
rende Coronavirus vorgehen zukönnen.
Doch kaum wurden zurWochenmitte
di e erstenTests für Covid-19 verteilt,
gab es eine Hiobsbotschaft: Die Zuver-
lässigkeit der 340 00 0 neuenTestkits
aus China sei gering und liege nur bei
30 Prozent, hiess es am Donnerstag nach
derAuswertung der ersten Ergebnisse.
Das ist ein schwererRückschlag, denn
amTag zuvor hatte dieRegierung von
MinisterpräsidentPedro Sánchez noch
stolz bekanntgegeben, dass sie für über
430 Millionen Euro Masken,Tests und
Beatmungsgeräte eingekauft habe.
Sánchez steht unter grossem Druck.
Mit 4089Toten (Stand Donnerstag-
abend) hat Spanien in der Statistik China
überholt, und auch die Zahl der Neuinfi-
zierten erreichte mit 8578 an nur einem
Tag einen neuenRekord. Mittlerweile
zählt Spanien 56188 bestätigteFälle.
Mit der Lieferung der erstenTests
hätte ein Massen-Screening desPerso-
nals in Spitälern und Altersheimen durch-


geführt werden sollen. «Dies ist nun fehl-
geschlagen, wir müssen weiter mit den nur
in geringer Zahl zurVerfügung stehenden
herkömmlichenTests zurechtkommen.
Diese sind zwar zuverlässig, aber ihre
Auswertung dauert viel zu lange», klagt
eine Mikrobiologin, die an einer Madri-
der Klinikarbeitet und namentlich nicht
genannt werden will.Ihre Vorsicht ist ver-
ständlich, denn vor wenigenTagen wurde
eine Chefärztin im galicischenVigo ent-
lassen, nachdem sie in den sozialen Netz-
werken den fehlenden Schutz für dasPer-
sonal kritisiert hatte.

Abfallsäcke als Schutzkleidung


Bis das angeforderte Material eintrifft,
müssen Ärzte und Pflegepersonal in vie-
len Spitälern fast schutzlos gegen das
Virus antreten. In einer der Madrider
Vorzeigekliniken, dem KrankenhausLa
Princesa,gingen einige verzweifelte Ärzte
dazu über, sich Abfallsäcke überzustül-
pen, um sich und diePatienten vor einer
Ansteckung zu schützen.
Doch es fehlt in den Spitälern auch
an Handschuhen, Masken und Schutzbril-
len. Besonders Atemmasken sind kaum

noch zu erhalten, in einigen Kliniken wer-
den dieLager sogar von derPolizei über-
wacht. Früher habe man 62 000 chirurgi-
sche Schutzmasken proWoche gebraucht,
mit dem Coronavirus sei die Zahl auf
25000 0 gestiegen, hiess es bei der kata-
lanischen Sozialversicherung Servicio
Catalán de Salud.Laut Zahlen derRegie-
rung wurden bis zum 24. März im gan-
zenLand 5,4 Millionen Schutzmasken
verteilt, bei 47 Millionen Einwohnernist
daseinTr opfen auf den heissen Stein.
Besonders dramatisch ist vor allem
in derRegion Madrid auch der Man-
gel an Beatmungsgeräten. In einer Kli-
nik imVorort Alcorcón etwa musste ein
48-jähriger Infizierter quälend lange 25
Stunden darauf warten, bis er ein Be-
atmungsgerät erhielt. Nach zwei Stun-
den habe er sich das Gerät mit einem
anderen Patienten teilen müssen, erzählt
seine Schwester.
Angesichts knapper Mittel und stei-
gender Patientenzahlen müssen die
Ärzteimmer öfter darüber entscheiden,
wer auf der Intensivstation behandelt
wird, wobei Menschen mitbesseren Ge-
nesungschancen in derRegel denVor-
rang bekommen.

Die begrenzten Mittel haben zumTeil
dramatischeFolgen. Esther Díaz etwa, die
Leiterin eines Altersheims im Zentrum
von Madrid, schlug am Mittwoch Alarm
und bat das Militär um Hilfe, weil sie nicht
mehr wusste, wie sie ihre Schützlinge ver-
sorgen sollte. In den letztenTagen waren
25 der dortresidierenden160 Senioren
demVirus erlegen, die halbe Belegschaft
musste sich in Quarantäne begeben.

Folgenreiche Demonstrationen


Längst sind der fehlende Schutz in Spi-
tälern und Altersheimen sowie die un-
gebremsteAusbreitung desVirus zum
Politikum geworden. Oppositionsführer
Pablo Casado warf Ministerpräsident
Sánchez vor, Pfleger und Ärztinnen
ihrem Schicksal überlassen zu haben. Die
Regierung habe auch verantwortungslos
gehandelt,als sie die Demonstrationen
amWeltfrauentag am 8. März nicht ver-
boten habe, mäkelte derkonservative
Politiker. In derTat stieg die Zahl der
Infizierten nach denAufmärschen vor
allem in Madridrasant an. EineWoche
später verhängte dieRegierung eine lan-
desweiteAusgangssperre.

Rios erste Corona-Tote
war eine 63-jährige
Haushälterin, die
von ihrer aus
Italien eingereisten
Vo rgesetzten angesteckt
worden war.

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