Neue Zürcher Zeitung - 27.03.2020

(Jeff_L) #1

6 INTERNATIONAL Freitag, 27. März 2020


Millionen verlieren ihre Krankenversicherung

In den USA kann der Verlust des Arbeitsplatz es dramatische Nebenfol gen haben


PETER WINKLER,WASHINGTON


Das Tempo, mit dem Amerikanerinnen
und Amerikaner bei denArbeitsämtern
ihre Gesuche um Arbeitslosenunter-
stützung einreichen,ist atemberaubend.
Laut den neuesten Zahlen vom Don-
nerstag stieg die Zahl der Gesuche in
der letztenWoche auf fast 3,3 Millionen.
Das ist die höchste Zahl, die je in einer
einzigenWoche gemessen wurde. In den
USA hat dies e katastrophale Entwick-
lung oft eine dramatische Nebenwir-
kung: Mit der Arbeitsstelle geht auch
die Krankenversicherung verloren, die
oft einenTeil der Entlöhnung darstellt
und vom Arbeitgeber organisiert wird.


Politik gegenVolksgesundheit


Damit kollidieren diePolitik und die
Gesundheitsfürsorge in den USA fron-
tal. Für dieVolksgesundheit ist es es-
senziell, dass Menschen mit schweren
Covid-19-Symptomen getestet, isoliert
und gepflegt werden. Aber eine feh-
lende Krankenversicherung verleitet
dazu, den Gang zum Arzt oder ins Spi-
tal aufzuschieben oder ganz zu vermei-
den. Dies trifft nicht nur auf jene zu, die
nun plötzlich ohneVersicherungsschutz
dastehen,sondern auch auf jene rund 30
MillionenAmerikanerinnen undAmeri-
kaner, die schon vor demAusbruch der
Seuche nicht versichert waren.
Ohne triftige Gründe für eineAus-
nahme kann man sich in den USA nur
während eines Zeitfensters im Herbst an
einer staatlichen Börse einenVersiche-
rungsschutz für das kommendeJahr
kaufen. Doch angesichts der gegenwär-


tigenLage haben elf Gliedstaaten und
derHauptstadtbezirkWashingtondieIn-
itiativeergriffenundeineweitere,ausser-
ordentlicheEinschreibefristgeöffnet.Ob
die RegierungTrump in Washington das
Gleiche für die zentraleVersicherungs-
plattform tun wird, die 32 Gliedstaaten
ohne eigene Börsen abdeckt, ist unklar.
Der Entscheid ist auch politisch heikel.
Die Republikaner und ihr Präsident
DonaldTrump sind nämlich immer noch
daran,die Gesundheitsreform aus dem
Jahr 2010 – und damit die einzige be-
stehende Alternative zum privaten
Versicherungsschutz über den Arbeit-
geber – zu demontieren.Konkret geht
es um eine Klage von über einemDut-
zend Gliedstaaten mitrepublikanischen
Gouverneuren, wonach die Gesund-
heitsreform, imVolksmund «Obama-
care» genannt, nicht mehr gesetzeskon-
form ist. Sie stützen sich auf vollendete
Tatsachen,die derKongress mitrepubli-
kanischenMehrheiten in beiden Kam-
mern 2017 geschaffen hatte, als er in der
Steuerreform kurzerhand dasVersiche-
rungsobligatorium abschaffte.
Nach der Meinung vieler Experten
wurde damit derReformeinerseits die
wirtschaftliche Grundlage entzogen.
Im Modell von «Obamacare» hatte das
Obligatorium auch fürJüngere und Ge-
sunde die hohenKosten für Ältere und
bereits Kranke quersubventioniert und
damit einigermassen tragbar gemacht.
Mit dem Obligatorium fiel aber auch
die rechtliche Grundlage weg, welche
der Supreme Court in seinem Urteil zu
«Obamacare» 2012 definiert hatte:Das
Gerichthatte mit knapperMehrheit
entschieden, die Bussen, mit denen der

StaatPersonen bestrafen kann,diekeine
Versicherung kaufen, stellten imrecht-
lichen Sinnkeine Strafe dar, die illegal
wäre, sondern eine Steuer. Und derKon-
gress , der die Gesundheitsreform verab-
schiedet habe, sei durchaus befugt, eine
Steuer zu erheben.
Trump hatte seit seinem Amtsantritt
im Januar 2017 in wechselnder Intensi-
tät versucht, «Obamacare» abzus chaf-
fen oder mindestens auszuhöhlen. Das
kommt ihm jetzt, in Zeiten der Seuche,
nicht wirklich zupass. An einer Presse-
konferenz der Coronavirus-Task-Force
am Sonntag wollte er mit der Klage der
republikanischen Gouverneure denn
auch nichts zu tun haben, obwohl seine
Regierung vor dem Supreme Court für
das Anliegen der Kläger plädiert.

TrumpsleeresVersprechen


Die Aussagen von DonaldTrump spie-
geln beispielhaft, wie dasWeisse Haus
seit Jahren versucht, ein besseresSys-
tem einer Krankenversicherung herbei-
zur eden, ohne wirklich etwas zu tun–
weil dasTun bedeutend schwieriger ist
als dasReden.In einemSystem,dasrein
auf den Marktkräften basierte, würden
Personen mit existierenden Leiden ent-
weder sehr teurePolicen kaufen müs-
sen oderVorbehalte akzeptieren, wo-
nach Behandlung en für diese Leiden
nicht gedeckt wären.
In den USA gibt es aber ausserordent-
lich viele Menschen mit solchen «pre-
existing conditions». «Obamacare» hatte
denVersicherungenuntersagt,solchePer-
sonen zu diskriminieren, was allerdings
die Versicherungen für Gesunderecht

teuer machte. Die Republikaner finden
sich nun im Dilemma, dass der Schutz
für Personen mit existierenden Leiden in
der Bevölkerungausserordentlich popu-
lär ist. Sie haben bisherkeine überzeu-
gende Alternative gefunden, die ohne
Versicherungsobligatorium auskäme.
Trump spricht zwar unablässig davon, er
werde eine viel bessere Gesundheitsvor-
sorge anbieten, aber ohne je einenkon-
kreten Plan vorgelegt zu haben.
Der Supreme Court hat Anfang
März entschieden, die Klage derrepu-
blikanisch geführten Gliedstaaten gegen
«Obamacare» anzuhören, allerdings
nicht im beschleunigtenVerfahren, wie
das die Demokraten eigentlich gefor-
dert hatten.Das heisst, dass das Gericht
die mündlicheVerhandlung irgendwann
nach dem Oktober ansetzen wird, aber
sicherkein Urteil vor denWahlen fällt.
So oder so ermöglicht dies den Demo-
kraten,dasThema Krankenversicherung
ins Zentrum ihresWahlkampfs zu stel-
len, wie sie es bei den Zwischenwahlen
im Herbst 2018 erfolgreich vorgespurt
hatten.Für zusätzliche Dringlichkeit
dieser Debatte sorgt der lange Schatten
der Covid-19-Pandemie.

Hassliebe zu «Obamacare»


Am Montag waren es genau zehnJahre
her, seit der damalige PräsidentBarack
Obama die nach ihm benannte Gesund-
heitsreform mit seiner Unterschrift in
Kraft gesetzt hatte. Sie war damals in der
Bevölkerungsehrunpopulärundmusste
mitallerleiTricksdurchdenKongressge-
drückt werden,obwohl die Demokraten
inbeidenKammernMehrheitenstellten.

Als konkretesResultat dieses unge-
liebtenGesetzessankzwischen2010und
2018 der Anteil der nicht versicherten
Amerikaner im Alter von18 bis 64Jah-
ren von 22,3 auf 13,3 Prozent. Dies geht
aus der Befragung hervor, welche unter
dem Dach der Centers for Disease Con-
trolandPreventionjährlichdurchgeführt
wird. Mindestens die Hälfte dieses Er-
folgs stützt sich auf dieAusdehnung der
staatlichenVersicherung für Bedürftige
(Medicaid) auf der Ebene der Gliedstaa-
ten, die mit einer Senkung der Eintritts-
schwelle beim jährlichen Einkommen
erfolgte. DieseAusdehnung war zu Be-
ginn obligatorisch gewesen. DieRepu-
blikaner fochten das mit Erfolg vor dem
Supreme Court an.Doch dann vollzogen
vielerepublikanische Gouverneure den
Schritt freiwillig. Heute haben nur noch
14 Gliedstaaten die Medicaid-Auswei-
tung nicht mitgemacht.
Diese Geschichte ist beispielhaft für
das ganze Gesetz.Trotz allen und erheb-
lichen Mängeln hat es Standards gesetzt,
die viele Amerikanerinnen und Ameri-
kanernichtmehrmissenmöchten.Eswar
genau das, was dieKonservativen 2010
befürchtet hatten:Wenn der Staat ein-
mal eine Leistung angeboten hat, ist es
fast unmöglich, den Schritt wieder rück-
gängig zu machen.Vor allem dann,wenn
gerade eine tödliche Seuche tobt. Dann
dürfte vielmehr derRuf nach mehrVer-
sicherung lauter werden,also genau,was
die Demokraten fordern – unabhängig
davon, ob es nunJoe Bidens Idee eines
freiwilligen staatlichenAngebots als Er-
gä nzungzudenprivatenVersicherungen
ist oder Bernie Sanders’Vorschlageines
Obligatoriums.

Leichter


als


Luft


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