Handelsblatt - 27.03.2020

(Tina Meador) #1
„Eine schlagartige Rückkehr zum
normalen Zustand ist kaum vorstellbar,
allenfalls ein stufenweises Vorgehen, das auch
immer wieder überprüft werden müsste. “
Stephan Weil, Ministerpräsident von Niedersachsen, macht der
Bevölkerung angesichts der Coronakrise wenig Hoffnung auf eine
schnelle Rückkehr ins normale Leben.

Worte des Tages


Tornado-Nachfolge


Für Europa


entscheiden


S


eit der Flüchtlingskrise und
der Entscheidung der Briten,
die Europäische Union zu ver-
lassen, klaffen Anspruch und Wirk-
lichkeit in der EU immer weiter aus-
einander – leider. Auch bei der Be-
wältigung der Corona-Pandemie, un-
ter der alle EU-Staaten leiden, wäre
es gut, wenn Europa Zusammenhalt
beweisen und gemeinsame Konzep-
te gegen die Ausbreitung des Virus
und die beginnende Rezession ent-
wickeln würde.
Gerade vor diesem Hintergrund
wird es umso wichtiger, dass die ge-
meinsame Verteidigungspolitik ge-
stärkt wird. Dazu gehört auch, Rüs-
tungsgüter, wo es irgend geht, euro-
päisch zu beschaffen, damit der
Kontinent zumindest ein wenig stra-
tegische Autonomie gegenüber den
auf Distanz gegangenen USA entwi-
ckeln kann. Für die anstehende Ent-
scheidung über neue Kampfflug -
zeuge als Ersatz für die veralteten
Tornados muss deshalb Industrie -
politik zum wichtigsten Kriterium
werden. Das heißt konkret: Für alle
Funktionen des Tornados sollten Eu-
rofighter bestellt werden – außer für
die nukleare Teilhabe. Da dürfte es
tatsächlich einfacher sein, das US-
Kampfflugzeug F-18 von den US-Be-
hörden zertifizieren zu lassen.
Gerade die Fähigkeit zur elektro -
nischen Kampfführung sollte Airbus
jetzt für den Eurofighter entwickeln.
Wenn die Briten dem europäischen
Flugzeugbauer Airbus dies zutrauen,
sollte das Heimatland der Airbus-
Tochter Defence & Space dahinter
nicht zurückbleiben. Bundesregie-
rung und Bundestag sollten zudem
bedenken, dass gerade elektroni-
sche Kampfführung die wichtigste
Schlüsseltechnologie für das
deutsch-französische Kampfflug-
zeugsystem der Zukunft, das FCAS,
ist: Alles, was Airbus jetzt für den
Eurofighter bauen kann, erleichtert
die technologische Entwicklung für
das FCAS.
Wahrscheinlich sind auf den ers-
ten Blick alle Waffen, die Europäer
dem weltgrößten Hersteller USA ab-
kaufen, etwas billiger als solche aus
der EU. Die europäische Verteidi-
gungspolitik aber würde dies lang-
fristig schwächen, wenn die EU-In-
dustrie immer weiter zurückfiele.


Bei der Entscheidung über die
nächsten Kampfflugzeuge für die
Bundeswehr sollte Industriepolitik
prioritär sein, sagt Donata Riedel.

Die Autorin ist
Hauptstadtkorrespondentin in
Berlin. Sie erreichen sie unter:
[email protected]


M


an hätte sich fürs künftige Kanzler-
amt einige Führungsfiguren vorstel-
len können: Friedrich Merz etwa
oder Armin Laschet, manche Ro-
mantiker sicher auch Robert Ha-
beck. Aber dass dort mal ein Arzt regiert – und das,
ohne je gewählt worden zu sein –, wäre wohl nie-
mandem in den Sinn gekommen: Er heißt Christian
Drosten und gilt laut der „Süddeutschen Zeitung“
bereits als „Sexsymbol“ und „Posterboy der Stun-
de“, nicht nur wegen seiner „weichen Lippen“, wie
die Autorin schwärmte. „Kann er Kanzler?“, wurde
bereits gefragt. Drosten ist Virologe an der Charité
und so etwas wie der Cheferklärer, aber auch Mitent-
scheider in der aktuellen Krise geworden wie sonst
nur noch Lothar Wieler, Chef des Robert Koch-Insti-
tuts. Damit fangen leider auch neue Probleme an.
Was Drosten via Twitter, Podcast oder Maybrit Ill-
ner sagt, ist Gesetz. Das kann man durchaus wörtlich
nehmen, denn egal, ob Versammlungsverbote, La-
denschließungen oder Ausgangsbeschränkungen –
Drosten hat eine Empfehlung kaum ausgesprochen,
da ist sie politisch schon beschlossen. Der Grund: In
der Bundespolitik hat ein bizarrer Wettbewerb be-
gonnen: Wer hat noch drakonischere Anti-Corona-
Maßnahmen in petto? Bayerns Ministerpräsident
Markus Söder und sein NRW-Kollege Laschet streiten
da nur stellvertretend. Und die Virologen nicken ge-
fällig, auch wenn sie sich untereinander selten einig
sind, was die Sache nicht klarer macht.
In den ersten Monaten der Coronakrise waren die
Politiker das größte Problem, weil sie keine Ahnung
von Virologie hatten. Jetzt, da die Seuchenexperten
übernommen haben, zeigt sich eine andere Schwä-
che: Virologen haben im Gegenzug wenig Ahnung
von Politik oder gar Wirtschaft. Das wiederum wäre
nicht weiter schlimm, wenn sie nicht beides weitge-
hend enthemmt und geradezu außerparlamenta-
risch radikal vor sich hertreiben würden wie weiße
Mäuse in einem Laborexperiment. Die Mäuse samt
Hamsterrad sind wir und die Weltökonomie. Die Ver-
suchsanordnung lautet in etwa: Sterben die Proban-
den eher an Sars-CoV-2 oder an Langeweile, Isolati-
on, Hunger, Psychosen oder Depressionen?
Die Infektion ist noch längst nicht ausgestanden,
aber die Weltwirtschaft schon jetzt an den Rand des
Ruins getrieben: An den Börsen lösen sich Billionen-
werte auf. Kompletten Branchen und Volkswirtschaf-
ten droht Schlimmstes. Kurzarbeit federt in der Bun-
desrepublik bislang noch das Gröbste ab, aber wie
lange noch? Jeder Tag im Ausnahmezustand lässt die
bereits sichere Rezession nur noch viel länger an-
dauern, wenn es überhaupt jemals wieder aufwärts-

geht. Was da vom Mietrecht bis zur Versammlungs-
freiheit gerade tagtäglich wegdesinfiziert wird, ist zu-
mindest erstaunlich. Wissen Drosten, Wieler und
ihre Kollegen eigentlich, was sie da anrichten? Wie
viele Jobs und damit ja auch Leben derzeit aufs Spiel
gesetzt werden?
Fast noch schlimmer ist eine Entwicklung, die
man bereits jetzt beobachten kann: Eine erschüt-
ternde Verzagtheit legt sich wie Mehltau übers Land
der Dichter und Denker, ein nie für möglich gehalte-
nes Phlegma bemächtigt sich selbst der Wall Street.
Und das alles eingebettet in eine Art Meinungs-Mo-
nokultur des #Wirbleibenzuhause. Die ganz Ent-
schlossenen wagen sich noch auf den Balkon und
singen „Freude, schöner Götterfunken“, weil so ein
musikalischer Flashmob ein irgendwie muggeliges
Gemeinschaftsgefühl verspricht. Aber weniger Tat-
kraft hat man selten erlebt.
Wirtschaft ist auch Psychologie. Insofern droht ei-
ne Herrschaft der Ängstlichkeit, der kleinen, noch
dümmeren Schwester der Angst. Aus Ängstlichkeit
wird Unsicherheit, wird Fatalismus, wird Unzufrie-
denheit, wird Zorn. Mit diesem Spirit der Verzagt-
heit hätte Carl Benz wohl nie das Auto erfunden und
Neil Armstrong nie den Mond betreten. Aber das ist
ja auch nicht das Terrain der Virologen, muss man
fairerweise sagen: Sie sind die Notfallmediziner,
nicht die Schmusetherapeuten. Nur: Was, wenn die
Operation Corona-Rettung am Ende gelungen und
der Patient trotzdem (und deshalb) tot ist?
Diese Woche war eine besondere in der bisherigen
Krise: Es zeigte sich ja nicht nur, dass das Primat der
Wissenschaft das brutalste Opfer überhaupt fordern
könnte – die Funktionstüchtigkeit der Weltgemein-
schaft, deren Treibstoff nun mal Produktion und
Handel, Innovation und Wettbewerb sind. Auf der
anderen Seite rührte sich erstmals Widerstand gegen
den rasenden Stillstand.
Man darf die beiden Seiten nicht gegeneinander
ausspielen. Wer den Kapitalismus retten möchte, will
doch keine Menschenleben opfern. Genauso klar
muss es sein, dass wir nicht sofort wieder alle
Schranken öffnen können. Aber im Stubenarrest ge-
winnt man keine Kriege. Es muss mehr über Mittel-
wege diskutiert werden. Medizin und Wirtschaft kön-
nen die Welt nur gemeinsam retten. Da ist nun eine
Politik gefragt, die abwägt und dann präzise entschei-
det, denn klar ist auch: Jeder Tag Stillstand zu viel
wird dramatische Konsequenzen für uns alle haben.

Weltwirtschaft


Operation gelungen



  • Patient tot?


Noch
ansteckender als
Sars-CoV-2 ist
das Virus der
Verzagtheit, das
sich schon
breitzumachen
droht, mahnt
Thomas Tuma.

Anfangs war die


Politik das


Problem, weil sie


keine Ahnung


von Virologie


hat. Nun


regieren die


Virologen, die


leider wenig


von Wirtschaft


verstehen.


Der Autor ist stellvertretender Chefredakteur.
Sie erreichen ihn unter:
[email protected]

Meinung


& Analyse


WOCHENENDE 27./28./29. MÄRZ 2020, NR. 62
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