Die Euro-Frage
WOCHENENDE 27./28./29. MÄRZ 2020, NR. 62
50
Sandra Louven Madrid
W
enn das spanische Gesundheits -
ministerium um 12 Uhr mittags die
neuen Zahlen der Corona-Infizier-
ten bekanntgibt, schaut das ganze
Land hin. Inzwischen übersteigt die Zahl der Toten
in Spanien die von China. Insgesamt 4 089 Men-
schen sind bis Donnerstag in Spanien am Corona -
virus gestorben. Die besonders stark betroffene
Hauptstadt Madrid lagert ihre Toten schon in ei-
nem Einkaufszentrum mit Eislaufhalle, weil Krema-
torien und Bestatter überlastet sind. Spanien ist
nach Italien in Europa am stärksten vom Corona -
virus betroffen.
Das Virus wütet in einem Land, das für eine der-
artige Krise denkbar schlecht gerüstet ist. Zwar hat
die spanische Wirtschaft sich in den vergangenen
Jahren deutlich stabilisiert: Die Banken sind sa-
niert, die Unternehmen internationaler, und das
Wachstum lag mehrere Jahre lang über dem EU-
Durchschnitt. Doch die Folgen der vergangenen
Wirtschaftskrise wirken in der viertgrößten Volks-
wirtschaft Europas immer noch nach – in Form
von hohen Schulden und vielen Arbeitslosen. Hin-
zu kommt, dass ein Viertel aller Beschäftigten nur
zeitlich befristete Arbeitsverträge hat, von denen
viele in der Krise nicht erneuert werden dürften.
Diese schwierigen Startbedingungen führen zusam-
men mit der Abhängigkeit vom besonders gebeu-
telten Tourismus dazu, dass der Einbruch in Spa-
nien stärker ausfallen könnte als anderswo und die
Erholung länger auf sich warten lässt.
Zwar variieren die Schätzungen der Experten
deutlich – die Ratingagentur Standard & Poor’s et-
wa geht von einem Minus von nur 1,8 Prozent aus.
Doch zahlreiche Ökonomen erwarten einen noch
heftigeren Einbruch als in der vergangenen Krise
2009, als die spanische Wirtschaft um 3,8 Prozent
schrumpfte. Die Analysten der Investmentbank
Goldman Sachs rechnen damit, dass das spanische
Bruttoinlandsprodukt in diesem Jahr um 9,7 Pro-
zent einbrechen wird.
Madrid hält gegen, hat ein Paket über 200 Milli-
arden Euro Krisenhilfen aufgelegt, das sind 20 Pro-
zent der Wirtschaftsleistung. Das Gros besteht aus
100 Milliarden staatlicher Kreditgarantien, rund
weitere 100 Milliarden sollen die Banken beisteu-
ern. Verglichen mit dem deutschen Programm von
1,2 Billionen Euro ist das jedoch wenig.
Seit dem 15. März gilt der Alarmzustand, der eine
sehr strikte Ausgangssperre vorsieht und weite Tei-
le der Unternehmen lahmgelegt hat. Selbst einige
Branchen, in denen eigentlich gearbeitet werden
dürfte, wie die Automobilbranche, stehen still. Alle
17 Fabriken sind geschlossen – den Unternehmen
fehlen sowohl Lieferteile als auch Kunden. Spanien
ist der zweitgrößte Autoproduzent Europas, die
Branche macht zehn Prozent des Bruttoinlands-
produkts aus.
Einige Regionalpolitiker fordern eine komplette
Abriegelung des Landes wie in Italien, um das An-
steckungsrisiko zu senken. Wirtschaftsministerin
Nadia Calviño stemmt sich jedoch gegen die Bestre-
bungen. Schon jetzt belastet der Ausnahmezustand
die Staatsfinanzen erheblich. Zum einen sinken die
Einnahmen, etwa bei Gewerbe- oder Mehrwert-
steuer. Zum anderen steigen die Ausgaben etwa für
das Gesundheitssystem oder Kurzarbeiterregelun-
gen.
„Spanien kann sich mit einer Verschuldung von
fast 100 Prozent der Wirtschaftsleistung anders als
Deutschland keine ausufernden Hilfsprogramme
leisten“, sagt Arbeitsmarktexperte Marcel Jansen
von der Autonomen Universität Madrid. „Deshalb
besteht ohne Hilfe der EU die Gefahr, dass die spa-
nische Unterstützung für Unternehmen und Fami-
lien zu kurz greift und sich die Krise damit deutlich
verschärft.“
Brandbeschleuniger Arbeitsmarkt
In Spanien rächt sich nun, dass die Regierung es
trotz des starken Wachstums der vergangenen Jah-
re versäumt hat, ihr strukturelles Defizit – also die
Haushaltslücke, die unabhängig von Konjunktur-
einflüssen ist – zu senken. Die Krise dürfte das re-
guläre Defizit nun erheblich vergrößern. Fernando
Fernández von der Business School Instituto de
Empresa (IE) geht davon aus, dass das Haushalts -
defizit auf über zehn Prozent steigen wird, Gold-
man Sachs kommt zu derselben Zahl.
Und auch die Schulden dürften in die Höhe
schnellen. Finanzexperte Nuno Fernandes von der
Business School IESE rechnet mit einem Anstieg
auf 115 bis 120 Prozent. „In Spanien wird die Krise
größer sein als alles, was wir jemals erlebt haben“,
ist er überzeugt.
Problematisch ist vor allem das starke Gewicht
des Tourismus. Er macht zwölf Prozent der spani-
schen Wirtschaftsleistung aus, steht derzeit kom-
plett still und dürfte sich auch nach dem Ende der
Krise weniger schnell erholen als andere Bran-
chen. „Die Tasse Café, die nicht getrunken ist,
trinkt niemand mehr. Autos können dagegen nach
der Krise mehr verkauft werden als vorher“, sagt
John de Zulueta, Chef der Arbeitgebervereinigung
Círculo de Empresarios. Hinzu kommt, dass im
Tourismus Vertrauen eine große Rolle spielt.
„Wenn das Virus besiegt ist, werden die Leute
nicht gleich wieder reisen, aus Angst und Unsicher-
heit“, sagt IE-Ökonom Fernández. „Spanien wird
deshalb länger brauchen, bis es wieder aus der Kri-
se rauskommt.“
Ein weiterer Brandbeschleuniger ist der instabile
Arbeitsmarkt. Ein Viertel aller spanischen Beschäf-
tigten hat nur zeitlich befristete Verträge, insge-
samt 4,4 Millionen Menschen. Rund ein Drittel da-
von läuft über weniger als drei Monate. Zwar gilt
das Kurzarbeitmodell in der Krise auch für sie.
Doch wenn diese Verträge auslaufen, ist die Wahr-
scheinlichkeit hoch, dass viele Beschäftigte keine
neue Anstellung finden. „Diese Zeitverträge sind ei-
ne klare Schwäche im spanischen Arbeitsmarkt“,
sagt Alvise Lennkh von der Ratingagentur Scope.
„Spanien hat nach dem Fall von Lehman Brothers
1,3 Millionen befristete Verträge innerhalb von
sechs Monaten zerstört“, sagt Arbeitsmarktexperte
Jansen. „Jetzt könnte es kurzfristig sehr viel schlim-
mer werden, denn die Wirtschaft steht weitgehend
still.“ Für die spanische Sozialkasse wäre das ein
harter Schlag, denn schon jetzt liegt die Arbeitslo-
sigkeit bei 14 Prozent – das ist die zweithöchste hin-
ter Griechenland.
Spaniens
tiefer
Absturz
Hohe Schulden, ein volatiler
Arbeitsmarkt: Das Land ist
schlecht gerüstet für die Krise.
Festivalfigur in Valencia:
Keine Feiern mehr seit Wochen.
imago images/ZUMA Wire
Faktencheck Spanien
Bruttoinlandsprodukt (BIP)
Veränderung zum Vorjahr in Prozent
Staatsverschuldung
in Prozent des BIP absolut
in Mrd. €
Anteil der Staatsverschuldung an der
Verschuldung der Euro-Zone
Privatverschuldung im 3. Quartal 2019
(Unternehmen und Verbraucher)
in Prozent des BIP
Haushaltssaldo
in Prozent des BIP
HANDELSBLATT
Quellen: Thomson Reuters,
Bloomberg, EU-Kommission, BIZ
+4
+3
+2
+1
±0
-1
-2
-3
+1,9 %
1 201, 0
6 49,2
2010 2019
96,7 %
2010 2019 2010 2019
120
90
0
30
0
Euro-Zone
gesamt:
Spanien
1 201 Mrd. €
Anteil:
11,7 %
10 260,8
Mrd. Euro
-2,3 %
2010 2019
0
-3
-
-9
-12
Spanien:
Italien 15 2,4 %
Griechen-
land
Leistungsbilanz
in Prozent des BIP
2,4 %
2019
4
2
0
-2
-4
2010
IE
In Spanien
wird die
Krise größer
sein als alles,
was wir jemals
erlebt haben.
Nuno Fernandes
Professor an der
Business School IESE