Die Zeit - 02.04.2020

(Brent) #1

  1. APRIL 2020 DIE ZEIT No 15 POLITIK 5


In der Corona-Krise gibt Horst Seehofer das Tempo vor – auch weil er schon einmal gegen ein Virus gekämpft hat


VON MARC BROST

D


ieser Mann ist so etwas wie der See-
lendeuter der Deutschen: Heinz
Bude schrieb Bücher über Angst
und Solidarität, als die meisten
Bürger noch ziemlich sorglos auf
die nächsten Jahre schauten. Bude ist Soziologe,
thesenstark, sendungsbewusst. Aber eben auch
einer, der sich auf Neues einlässt und nicht darauf
beharrt, aus den Erfahrungen der Vergangenheit
alles über die Zukunft zu wissen.
Am 19. März bekommt dieser Mann einen An-
ruf aus dem Innenministerium, von Staatssekretär
Markus Kerber. Ob er Zeit habe, sich an einer Ex-
pertengruppe zur Corona-Krise zu beteiligen? Bude
sagt zu.
Man muss sich Markus Kerber als die politische
Ausgabe des Soziologen Bude vorstellen – mei-
nungsstark, umtriebig, vor allem aber: ähnlich
neugierig. Kerber hat 2005 für den damaligen
CDU-Innenminister Wolfgang Schäuble die Islam-
konferenz organisiert. Er war Schäubles Abteilungs-
leiter im Finanzministerium während der Finanz-
krise. Seit März 2018 ist er als Seehofers Staatssekre-
tär für Heimat zuständig. Und das bedeutet in
diesen Tagen vor allem: dem Land eine Antwort
darauf zu geben, wie es die Corona-Krise bewälti-
gen kann.
Wie sagen wir es den Leuten? Das ist die große
Frage, die im Augenblick alle Regierungsmitglieder
in Berlin umtreibt. Wie können wir ihnen Hoff-
nung machen, während sich das Virus immer noch
ausbreitet? Jeder merkt es ja an sich selbst: Nach fast
zwei Wochen Ausgangsbeschränkung sind viele
Deutsche isolationsmüde, sie wollen wieder raus,
wollen ihr altes Leben zurück. Und es ist nur allzu
verständlich, dass diese Menschen ein Licht am
Horizont sehen wollen – und sei es auch nur in
Form eines technischen Begriffs wie »Exit-Szena-
rio«. Aber gleichzeitig steigt die Zahl der Infizierten
im Land nahezu unvermindert an. Einen »Apollo-
13-Moment« für die Regierung nennt das Markus
Kerber, in Anlehnung an die Beinahekatastrophe
der Nasa-Raumfahrtmission 1970: Man hat ein
riesiges Problem – und muss gleichzeitig Zuversicht
ausstrahlen, es bald im Griff zu haben.
Genau daran arbeitet das Expertenteam des
Innenministeriums. Vergangene Woche wurde ein
Papier bekannt, das aus diesem Kreis kam: »Wie
wir Covid-19 unter Kontrolle bekommen«. Darin
wird ein Wunschszenario (»Schnelle Kontrolle«)
durchgespielt, in dem die Industrie nach sechs
Wochen Ausgangsbeschränkung und einem weite-
ren Monat massiver Störungen durch geschlossene
Grenzen langsam wieder hochgefahren werden
kann. Dazu aber müssten die Fallzahlen schon bis
zum Ende der Osterferien deutlich sinken und die
Testkapazitäten im Land »sehr schnell« ausgebaut
werden. Ende April, fordern die Experten, müssten
200.000 Tests täglich möglich sein. Im Augenblick
sind es 300.000 pro Woche.
In dem Papier steht noch mehr. So fordert die
Gruppe die staatliche Beteiligung an Unternehmen
durch einen Staatsfonds, ein größeres Engagement
Deutschlands in der EU (»politische Schockwellen
kennen keine Grenzen«), aber auch eine entschlos-
senere Krisenkommunikation seitens der Regie-
rung, »um die gesellschaftlichen Durchhaltekräfte
zu mobilisieren«. Das Motto, sagt Heinz Bude,
müsse jetzt sein: Wir sehen die Gefahr, aber ver-
lieren nicht den Stand.
Mehr als ein Dutzend Frauen und Männer um-
fasst die Gruppe, neben Bude unter anderem Chris-
tian Schmidt, den früheren Chef der Wirtschafts-
weisen, Michael Hüther vom Institut der deutschen
Wirtschaft, den Präsidenten des Robert Koch-In-
stituts, Lothar Wieler, den Gesundheitsökonomen
Boris Augurzky vom RWI, die Wirtschaftsjuristin
Denise Feldner und die Wissenschaftler Maximilian
Mayer und Otto Kölbl, die beide zum chinesischen
Gesundheitssystem geforscht haben.
Eine Entwicklung fürchten die Regierungsbera-
ter noch mehr als einen langen Shutdown: ein
Szenario, bei dem man die Beschränkungen


gelockert hat, das öffentliche Leben dann aber
wegen steigender Fallzahlen ein zweites Mal herun-
terfahren muss. »Wenn wir die Einschränkungen
aufheben, müssen wir sicher sein können, dass wir
das auch durchhalten. Eine erneute Kehrtwende
wäre für die Wirtschaft fatal und würde das Ver-
trauen in die Politik beschädigen«, sagt Christoph
Schmidt. Deshalb sei es so wichtig, dass die Epi-
demie wirklich unter Kontrolle sei und in den
Krankenhäusern genug Betten und Personal für die
Versorgung zur Verfügung stünden.
Parvo Virus B19 – das ist eine Antwort auf
die Frage, warum ausgerechnet das Innenminis-
terium derzeit so aktiv ist. Dieses Virus hätte
Horst Seehofer 2002 fast getötet. Herzmuskel-
entzündung, Herzpumpleistung unter zehn Pro-
zent. Die erstbehandelnden Ärzte hatten den
Minister schon auf die Transplantationsliste ge-
setzt. Es hat sein Leben verändert, das erzählt er
im kleinen Kreis immer wieder. Seehofer weiß,
wie bedrohlich Viren sein können. Er drang früh
auf Grenzkontrollen, um das Eindringen von
Corona nach Deutschland zu unterbinden. Und
er forderte als erster Politiker eine Absage der
Tourismusbörse ITB.
Markus Kerber, sein Staatssekretär, kann all das
gut nachvollziehen. Kurz vor Weihnachten 2006
lag er in der Berliner Virchow-Klinik. Ebenfalls
Herzmuskelentzündung. Beide, Seehofer wie Ker-
ber, wissen, dass die Krankheit ausgeheilt sein mag,
aber bleibende Spuren hinterlässt. Dazu gehört die
Angst vor einer neuen Entzündung, die mit jeder
kleinen Erkältung kommt. Ganz weg ist das Virus
nämlich nie. Es lauert.
Blickt man in diesen Tagen auf die deutsche
Krisenpolitik, dann sieht man zwei Geschwindig-
keiten. Da ist das sogenannte Corona-Kabinett mit
mehreren Ministern und Staatssekretären, in dem
es wie immer in großen Organisationen hierar-
chisch und ein wenig langsamer vorangeht. Da sind
auch die Zwänge des Föderalismus, die Rivalitäten
der Bundesländer, die vieles eher behindern. Um
den Ankauf der dringend notwendigen Schutz-
masken kümmert sich jedes Bundesland selbst,
anstatt gemeinsam die beste Versorgung zu organi-
sieren – zu einem günstigeren Preis. Aber gleich-
zeitig arbeiten Teile der Regierung unbürokratischer
zusammen denn je. »Wenn wir Covid-19 besiegen
wollen, müssen wir schneller digitaler werden,
müssen wir Datenbanken aufbauen und vernetzen,
muss unser staatliches Handeln transparenter auf
Fakten und Empirie basieren«, heißt es in einer
weiteren Studie des Expertenteams des Innenminis-
teriums. Dieser Vorschlag – der Aufbau eines digi-
talen Pools, in den die Daten und Messungen aus
allen Krisenbereichen einfließen – wird jetzt kurz-
fristig umgesetzt.
Und doch funktioniert noch nicht alles. Eigent-
lich hätte Ende dieser Woche die erste deutsche
Corona-App verfügbar sein sollen, mit der man per
Smart phone Infektionswege und Infizierte zurück-
verfolgen kann. In Österreich hat das Rote Kreuz
so eine App herausgebracht. Weil man die fertige
österreichische Variante nicht übernehmen, son-
dern in nationalem Überehrgeiz lieber eine eigene
deutsche herstellen will, dauert es hierzulande nun
länger. Regierungsintern ist jetzt von Ende April
die Rede. Manchmal versickern auch die besten
Ideen immer noch irgendwo zwischen den Mi-
nisterien und dem Kanzleramt.
Wenn 2015 die Flüchtlingsfrage als »Rendez-
vous mit der Geschichte« (Wolfgang Schäuble) galt,
was ist 2020 dann erst Corona? Und wenn man
damals erlebt hat, wie diese Flüchtlingsfrage die
Gesellschaft entzweite – was wird dann in den kom-
menden Wochen und Monaten passieren? Auch
solche Fragen hört man in der Hauptstadt jetzt. Je
länger die Krise und die Beschränkungen andauern,
desto größer wird für den Einzelnen der Gegensatz
zwischen »noch mehr aushalten müssen« und »nicht
mehr länger aushalten können«.
Mittendrin in diesem Konflikt steht die Par-
tei der Kanzlerin, die CDU. Als christliche

Partei wiegt der Schutz der Alten für sie beson-
ders schwer. Gleichzeitig spürt gerade die CDU
den enormen Druck aus der Wirtschaft, die
strengen Corona-Regeln so früh wie möglich
zu lockern.
In der Telefonschalte des CDU-Präsidiums
am Montag ging es Teilnehmern zufolge sehr
lange um ein mögliches Datum. Offiziell will

man die Beschränkungen bis zum 20. April auf-
rechterhalten. Es ist aber auch zu hören, dass das
Land erst zum 1. Mai wieder schrittweise in die
Normalität zurückkehren könnte. Dann wäre
der Tag der Arbeit in diesem Jahr so etwas wie
der Tag der Rückkehr zur Arbeit.

Mitarbeit: Mark Schieritz

VON KATJA BERLIN

Torten der Wahrheit


Was Corona auf einmal möglich
gemacht hat

Homeoice

Bargeldlos zahlen

Dafür gelobt werden, dass man auch bei
Sonnenschein den ganzen Tag Computer spielt

Leuten problemlos den Handschlag verweigern

Impfgegner

Prepper

Homeschooler

Randgruppen, die nach Corona auf noch
mehr Unverständnis stoßen werden

Nah am Herzen


Innenminister
Horst Seehofer
beim »social
distancing«
während einer
Kabinettssitzung

Foto: Fabrizio Bensch/Reuters/Pool/dpa

ANZEIGE

DANKE


FÜR SO WENIG


KONTAKTE WIE


MÖGLICH.


JETZT ZÄHLTDASWIR.


AktuelleInfo rmationen unterwww.bundesregierung.de/coro navi rus
Free download pdf