Frankfurter Allgemeine Zeitung - 25.03.2020

(Joyce) #1
Esis tnicht so,dassGertraudKlemmals
Autorinkeinen Erfolg hätte. Ihr „Mut-
tergehäuse“wurdevielgelobt;ihr„Aber-
land“bekamdenPublikumspreisinKla-
genfurtund wurde 2015 für den Deut-
schenBuchpreisnominiert.Dassesden-
nochnur für den IrseerPegasus gereicht
hat, wurmt Klemm aber doch. Jeden-
falls hat sichinihr einiges anWutauf
den männlich dominierten Literaturbe-
trieb aufgestaut, der dengroßen Wer-
kengroßeralterFrauenim Zweifel doch
lieberdie provozierendenGeniestreiche
männlicher Langweilervorzieht.Dar-
unterleidendannMärtyrerinnenwieIn-
geborgBachmann oder eben Helene
Schulze, die heuteschon wiederverges-
sene Ikone der „spätenfeministischen
Avantgarde“, eine Erfindung Klemms
für ihrenRoman „Hippocamus“–die
Autorinorientierte sichdabei wohl
auchamSchicksal vonBrigitteSchwai-
ger(„Wie kommt das Salz ins Meer“),
die nacheiner Reihe vonEnttäuschun-
gen2010 Suizid beging.
In den Siebzigernwurde Helene
selbstvon den herrschenden Männchen
in denFeuilletonredaktionen und Preis-
jurys gefeiert. Aber dannwarsie plötz-
lichnur nochdie „alterndeKarwall-
emanze“,sopeinlichwieeinebreithüfti-
ge Oldschool-Feministin in lila Latzho-
sen neben einer Influencerin der Gene-
ration MeToo.Überfordertund angewi-
dertvom sexistischen Literaturbetrieb,
vonFigurenwiedemkleinendickenKri-
tikerArthurB.LiebigoderdemAktions-
künstlerKöll, derFrauen als Material
für seine Blut-und-Hoden-Kunstmiss-
brauchte,floh Schulze in eine Ehe in
der Pr ovinz. Nach zwei Kindern, sinnlo-
ser „Aufopferung“ und einigen literari-
schen Flopswarsie reif für die Donau.
Die Schulze und ihre„Zombiethe-
men“ warenmausetot, bis ihrealte
FreundinElviraKatzenschlagerkam, in
mancher Hinsicht eine Gesinnungs-,
Leidens- und Generationsgenossin der
Autorin. Gertraud Klemmwarbei der
Stadt Wien als Beamtin für dieTrink-
wasserkontrolle zuständig, bevorsie
sichals Autorinselbst ändig machte. El-
viralebteineiner Frauen-WG mit Hele-
ne, ehe sie mit einem Haizirkus durch
Osteuropa tingelteund neun Jahreauf
Gomeraüberwinterte. Jetzt fasst sie
denEntschluss,dieHeiligeHelenezure-
habilitieren, rekonstruieren, rächen, je-
denfalls wieder „sichtbar zu machen“.
Elvir areaktiviertihren alten Hippiebus
und engagierteinen jungen Assistenten
fürsGrobe.Adrianis tprekärbeschäftig-
terNatur filmer,internetaffiner Digital
Nativeund gerade unglücklichindie
schöne jungeKatalynverliebt.Genau
der richtigeMann also für Elvira: Ihr
Leibsklave kochtundchauffiert, fotogra-
fiertunddokumentiertundstelltnursel-
tendummeFragen.
Zusammenmitihrem Mädchenfüral-
lestourtElviradurch diefinstersteöster-
reichische Provinz und hinterlässt über-
allihr eDuftmarke als Männerkunstvan-
dalin undfeministische Denkmalschän-
derin. In Hintermoos drapiertsie den
Hochsitz einesObersenatsrats mit ihren
Fäkalien, in Erpendorfeinen gekreuzig-
tenJesus mit einem selbstgehäkelten
Jäckchen und ein Kriegerdenkmal mit
einer Pappmaché-Vulva. In Linz be-
schmiertsie das Museum des übergriffi-
genAktionskünstlersKöll, in Salzburg
blamiertsie bei einer Preisverleihung
den kleinen dickenKritiker ,inKlagen-
furtverwandelt sie den Bachmann-Sa-
lat auf den Speisekarteninein Fanal
weiblichen Protests. Am Ende ihresRa-
chefeldzugskann Adrian Elviranur mit
Mühe daran hindern, einenwertvollen
antikenRiesenphallusineinemneapoli-
tanischen Phallusmuseum zu zertrüm-
mern. Zweitausend JahreMännerherr-
schaf tsind genug.

IhrekühnenKunstins tallationen sig-
niertElviramit einem Seepferdchen.
HippocampusistnichtnurdieGehirnre-
gion,diefürKonsolidierungundKoordi-
nation des Gedächtnisses zuständig ist,
sondernauchdas einzige Tier,bei dem
die Männchen die Kinder austragen. So
bleibt die Spur derVerwüstung im Lite-
raturbetrieb nicht langeunbemerkt.He-
lenes Roman „Der Drohnenkönig“ wird
posthum auf die Buchpreis-Shortlistge-
setzt, ihreengagierteNachlassverwalte-
rinalsMutterCourageimGeschlechter-
krieg gefeiert. DieKatzenschlager ist
nicht immungegendie Versuchungen
vonRuhmundPreisen,aberfürdieKro-
kodilstränenunddummenInterviewfra-
gender Feuilletonmännchen und ah-
nungslosen Kulturmagazinweibchen
hat sie nur Hohn und Häme übrig.
Dafürkommt sieaufihremRoad-Trip
Adrian näher.Anfangs nur der Depp im
Frauentaxi, wirderamEnde fast so et-
waswie einFreund. Klemm ist, nicht
einmal zuUnrecht, stolz auf die Sexsze-
nenzwischendemknackig-unbedarften
Jüngling und der „vertrocknetenalten
Intellektuellen“. Keine Missionarsstel-
lung, keine SpurvonScham oder De-
mut, nur einwenig Mitleid, Lässigkeit
und Alt-68er-Schmuddelchic. Elvira
nimmt sich,wassie braucht, und zer-
stört, wasMänner und Medien lieben,
auchwenn sie dabei nurverlieren kann.
Siegehtdorthin,wo’swehtut, wo alleso-
zialen Netzwer ke und feministischen
Seilschaften reißen: „Gesetze brechen.
Regelnmissachten. Männer aufreißen“.
Klemm istvielleichtkeine Jelinek,
auchkeine Str eeruw itz, nicht einmal so
ätzend wieStefanie Sargnagel, aber sie
hat auchMut undWitz und Schmäh.

Fast fünf Jahrearbeitetesie an ihrem
viertenRoman. Anfangs lief es beim
Schreiben zäh, aber dann, bei einem Ar-
beitsstipendium in Schottland,flosses
offenbar wievonselbst. Das sieht man
dem Roman dann manchmal auchan:
Füreine Literatursatireist er zu lang.
DieAbrechnungmitdemHaizirkusLite-
raturb etrieb is tgallenbitter,die kompli-
zierte Beziehung zwischen Elviraund
Adrian fein beschrieben.Aber auf die
Dauerwerden die Endlosschleifen und
Schleifchen weiblicher Aktionskunst
dochein bisschen lang und larmoyant.
Die Hippocampus-Happeningssind
gut konzipiertund mittig im Gesicht
der Watschenmänner plaziert, aber
zwölf hättenesnicht seinmüssen.
Klar,Herkuleshat auc hzwölf Helden-
taten absolviert. Aber frau mussja
nicht jeden mythologischenKeulen-
hiebmitmachen,denMänne rsichinih-
rer„heiligen Dreifaltigkeit derDurch-
schnittlichkeit “–Grillzan ge,Fußball
und Bier–ausdenken.
Dabei verfügt Klemm über genug
grimmigeSelbstironie, um dieganz gro-
ße Moralkeule im Hüftgürtelsteckenzu
lassen. Elviraist nicht nur Opfer,son-
dernauchTäterin, Kratzbürste, Säufe-
rin, sogarRomantikerin,wenn sie sich
mit ihrem Assistenten auf dem Cam-
pingplatzinden Sonnenuntergang
trinkt .Adrian hadertimStillen mit der
„alten Hexe“. Aber weil er ein höflicher,
geduldiger Kulturbanause und Elvira
die verschwindendeFuriedes altenRa-
dikalfeminismus ist, kommen Mann
und Frau eigentlichganz gut miteinan-
der aus. MARTINHALTER

D


ie Zukunftist urban, sofasst
der aktuelle UN-Bericht zur
Weltbevölke rungdiePerspekti-
veneinerrasantendemographi-
schen Entwicklung zusammen. Im Jahr
2008 haben zum ersten Mal in der Ge-
schichtemehr Menschen in derStadt ge-
lebt als auf dem Land, und solltesichder
gegenwärtig eTrend fortsetzen,werden es
im Jahr 2050weltweit mehr als zwei Drit-
telsein. Nurauf die Industrieländer bezo-
gen, is tdie Prognose nochdrastischer:
Dortwürdelediglichetwa jederachteEin-
wohner im ländlichenRaum verbleiben.
Gegen das deprimierende Szenariovon
menschenleeren Einöden, die im besseren
Fall Naturschutzgebiete und im schlechte-
renagroindustrielle Monokulturen sind,
hat derKulturgeograph Werner Bätzing
ein engagiertesBuchgeschrieben. Bätzing
hat jahrelang an derUniversität Erlangen
gelehrtund sic himmer wieder für den Er-
halt der typischen ländlichenStrukturen
vorallem in der Alpenregionstarkge-
macht .Erkenntalsosowohldie Geschich-
te des Lebens auf dem Land wie auchdie
realen Gegebenheiten. Beidesverbindet
er zu einerweit ausholenden Darstellung,
die mit der Sesshaftwerdung der Men-
schen einsetzt und mit „Leitideen zurAuf-
wertung des Landlebens“ endet.
Vorallen Dingen scheut er sichnicht,
gleichzuAnfang seine „eigene normative
Position“kenntlichzumachen. Sie lautet,
dassStadt und Land zwarverschieden, je-
dochkomplementär aufeinander bezogen
sind, und dassein „gutes Leben“ nur im
Zusammenspiel beider möglichist.
Schließlich, so scheint er all jenen ins
Stammbuchschreib en zuwollen, für die
das Urbane dieNorm darstellt, liegt die
Quelle allerKultur auf dem Land,konn-
tenStädteerstindemMoment entstehen,
als durch die Bestellung des Bodens ein
ÜberschussanLebensmitteln erzeugt
wurde. IhreVerarbeitung brachtehand-
werkliche Spezialisierungen hervor, der

Handel mit ihnenwurde auf den ersten
Schriftzeugnissenfestgehalten.
Auch wenn Bätzingshistorische rAb-
riss notwendigerweisekursorischist,
machter in seinenstärksten Passagen
sichtbar, durch welche epochalen Schübe
dasLeben und dasWirtschaftenauf dem
Land in einerWeisegeprägt wurden, de-
renAuswirkungen bis heutesichtbar
sind.DazugehörentechnischeInnovatio-
nenwie Düngemittel,verbesserteNutz-
pflanzen oder Landmaschinen, inderen
GefolgeimmerwenigerArbeitskräfte im-
mer mehr Lebensmittel produzieren
konnten. Mit derNutzungfossiler Ener-
gieträger in derindust riellen Revolution
konzentriertesichdiewi rtscha ftlicheAk-
tivität in denFabriken aufvergleichswei-
sekleineFlächenundbrachteeineRaum-
strukturhervor, wie si eini hrenGrundzü-
genbisheutebesteht.
Die wahrscheinlichgrößteZäsur ereig-
nete sichschließlichinden sechziger Jah-
rendes vergangenen Jahrhunderts, als
technische und ökonomischeNeuerun-
genmit raumplanerischen Maßnahmen
ineinandergriffen. Im Gefolgeder neuen
stadtplanerischen Leitideen, wie sie 1933
inder„ChartavonAthen“formuliertwor-
den waren, zer fiel auc hauf dem Dorfdie
EinheitvonWirtschaftenund Leben. Die

Zersiedlung der Landschaftnahm ihren
Weg, in der dieFunktionen des Arbeitens
in Industrie- oder Gewerbegebiete ausge-
lager twurden und die desWohnens in
Vorstadtsiedlungen, dieweder Stadt noch
Land sind und daher treffend Zwischen-
stadt-Strukturen heißen.
Unterdieser Aufteilung litten aller-
dings vieleStädte, aus derenZentren der
Einzelhandelverschwand, nichtweniger
als das Land.Nunkann man einem Buch
über das Landleben nicht unbedingt zum
Vorwurfmachen, dassdie Stadt nur sehr
am Rande vorkommt, dochbleibt die
KomplementaritätderbeidenLebenswei-
sen überweiteStreckenbloße Behaup-
tung. Dassdas modernegroßstädtische
Wirtschaf tenunsereLebensgrundlagen
zerstöre, während sichdas Landleben in
enger Auseinandersetzung mit derNatur
abspiele, dassdas Leben auf dem Land
nur in Gemeinschaftgelinge,während in
der sonstigen modernenWelt der Indivi-
dualismus herrsche, würde man wohl
eher denStereotypen zurechnen, deren
Entstehung Bätzing in anderenPassagen
soübe rzeugen dnachzeichnet.Dortanaly-
sierter, wie imZeitalter der beginnenden
Industrialisierung das idyllische Landle-
ben und die schöne Landschaftverklärt
werden,abersichauchdieKluftzwischen
den fortschrittlichen Bürgern und den
konservativenLandbe wohnernauftut.Ei-
nen scharfenBlickhat er ebenfalls für
manchesKulissenhafte,etwawennTradi-
tionen nicht mehr mit Leben erfüllt sind,
sondernals Schaubräucheweiter geführt
werden, in denen die Landbewohner sich
sozusagen selbstspielen. DerTourismus
auf der Suche nachdem unverfälschten
Landlebentatdazu seinÜbriges.
Wasalso is tzutun,damitdas Lebenauf
dem Land wieder attraktiver wird? Die
Fragehatin ZeitenderpopulistischenK ri-
tikandenstädtischenEliten,diediekultu-
rellen und sozialenStandards setzen, eine
nicht zu unterschätzende politische Di-
mension, die man bei Bätzinggernekon-

kreter benannt sehen würde. Letztlich
sind die Maßnahmen, die ervorschlägt,
wenig überraschend undteilweisevonder
Politik bereits inFörderformategegossen:
Investitionen in Infrastruktur,etwafür die
Bereitstellung vonschnellem Internet, öf-
fentlicherNahver kehr,wohnor tnaheSchu-
lenund medizinischeVersorgung.Stellen-
weiseargumentiertBätzinggegenseineei-
genenAnalysenderwirtschaftlichen,poli-
tischen undgesellschaftlichen Kräfte,die
in derVeränderung des Landlebens am
Werk sin d. Denn so wünschenswertes
wäre,wenndieBauernstärkerinkleinräu-
migenStrukturen produziertenund regio-
nal vermarkt eten, dürften sic hdie Kon-
zentrationsprozesse dochnicht vonheute
aufmorgengegen dieherrschendenBedin-
gungen umkehren lassen. Der frischeste
Eindruck, den man imZentrumvonBer-
lin vorwenigenWochen zu diesem The-
magewinnenkonnte, wardervonTausen-
den protestierenden Bauernauf ihren im-
posantenTraktoren.
Auch dieSanierungvonDorfkernen
steht bereits auf der Liste der Fördermaß-
nahmen, die allerdings angesichts derge-
genwärti genDimensiondesWohnungsbe-
darfsvermutlichkaum einennennenswer-
tenEffekt haben dürften, wenn es darum
geht, den Siedlungsbau auf dergrünen
Wiese einzudämmen.Vielleicht liegt die
größteChancefür das Land inZeiten des
Wohnungsmangelstatsächlichweniger in
förderpolitischen Maßnahmenals viel-
mehr in der bloßenTatsache, dassdas
Wohnen in der Stadt für viele uner-
schwinglichwird. SONJAASAL

Im Jahr 1957 nahm Guy Debord, Chef-
theoretiker dergerade formierten„Situa-
tionistischen Internationale“, einen alten
Pariser Stadtplan, zerschnipselteihn und
setze dann einigeder Schnipsel, halbwegs
nachihrer ursprünglichen Lage, auf einen
weißen Grund. Zwischen sie, in diereich-
lichentstandenen Lücken, plazierte er
rote Pfeile verschiedenerStärke und Zahl.
Die entstandene neueKarte, tatsächlich
im Format einesfaltbarenStadtplans in
kleinerAuflagegedruckt, bekam denTi-
tel„Psychogeog raphischerParis-Führer“
(Guide psychogéog raphique deParis).
DenTerminus „Psychogeographie“
hatteDebord schon einigeJahrezuvor in
Umlauf gebracht.Jetzt gabesdazu eine
sinnfälligeIllustration:Die Pfeilewaren
so etwaswie Gradienten eineskompli-
zierten urbanenPotentialfelds,das auf
die Stadtbenutzer wirkt:Dicke Pfeile
standen für leicht gemachte, entspre-
chend oftgewählt eÜbergängezwischen
den ausgewählten Mikro-Stadtteilen,
kümmerliche Pfeile fürweit weniger at-
trakti ve Verbindungswege.OderinDe-
bords Worten: Sie ließenein „ps ychogeo-
graphisches Bodenprofil“ erkennen, „mit
beständigen Strömen, festen Punkten
und Strudeln, die den Zugang zugewis-

sen Zonen oder ihrVerlassen sehr müh-
sam machen“.
Mit einemVerweis auf diesen „Guide“
beginntAnnekeLubkowitz dasVorwort
der vonihr herausgegebenen Anthologie

psychogeog raphischerTexte. Oder vor-
sichtiger formuliert: vonTexten–jene
aus dem Kreis der Situationisten, die na-
turgemäß den Anfang machen, beiseite-
gesetzt –, derenAutorensichauf Debord

beziehen, odervonder Herausgeberin als
VariantenpsychogeographischerExplora-
tion vorgestellt werden.
Diebis in die Gegenwartreichende und
vonParis überLondon undNewYork stolz
nachBerlin führendeAuswahl istreizvoll,
gerade weil sie nicht auf derHand liegt.
Denn die „situationistische Theorie der
Psycheogeographie“, Lubkowitz hält das
auch fest,war alles andere alsein halbwegs
klar umri ssenes Konzept. Wiesichdie Mo-
ment eder individuellen,durch die Technik
deszweckfreien„Umherschweifens“ (dé-
rive)vonalltäglichenRoutinenderStadtbe-
nutzungbefreitenErf ahrungzudenkollek-
tivgeltenden„genauenGesetzenundexak-
tenWirkungen“ derStadträumeaddieren
sollten, welche eine„psychogeo graphische
Gliederung“der Stadt zu kartierengestat-
ten–mehr al sAndeutungen, die sichnicht
soleicht unt er einen Hut bringen lassen,
gibtesdazu bei Debord nicht.
DasSpielerische des Situationismus
schlägt sichind iesem„Theorie“-Entwür-
fennieder ,deren BeschwörungvonExakt-
heit wohl mehr mit der Distanznahmevon
den surrealistischenStadt- undSelbster-
kundungen zu tunhat als mitverwirklich-
terMethodenstrengebei der Arbeit an der
Subversion stadtplanerische rGewalttat en

(der enschlimmste damalsParissogarnoch
bevorstanden).
Weshalb die langfristigeWirkung von
Debordseinschlägi genTextendochvoral-
lem die eines einprägsamenWortes ist,
das viele Spielräume lässt,esmit Bedeu-
tung,literarischenStrategien und–durch-
ausaufsituationistischer Linie–Spielerei-
en zu verknüpfen. Selbstjene Autorinnen
und Autorender vorliegenden Antholo-
gie, die sichauchals Psy chogeog raphen
verstehen –wie Iain Sinclair,Will Self
und LauraOldfieldFord –, zerbrechen
sichnicht denKopf darüber,wie an De-
bords skizzierte Experimentalanordnun-
genanzuknüpfensei, sondernorientieren
sichvielmehrfreianderen subversiv-spie-
lerischen Charakter,umStadterkundun-
genganz verschiedener Artzuentwer fen.
Noch breiter wirddas Spektrum, blät-
tertmanweiter zu GarnetteCadoganund
AminattaForna, die sichkonkreten
Machtverhältnissen bei der Benutzung
des Stadtraums widmen, zwischenWei-
ßen und Schwarzen, Männern und Frau-
en. Undist man schließlich über dieSta-
tionenLondonundNewYorkinBerlinan-
geko mmen, würde einem die Psychogeo-
graphie als gemeinsamer Bezugspunkt
oftgar nicht in den Sinnkommen,wären

die Beiträgehier nicht unter diesemTitel
versammelt. Obwohl einem Guy Debord
zum Schlussdann dochwieder begegnet,
etwa im dadaistischverspielten „Manifest
für eine neueKultur des Gehens“ des
englischenKünstler kollektivs„Wrights&
Sites“ oder inFabian SaulsVariationen
über die „Stadt alsFriedhof“. Während
Kevin Braddocks „AlternativeNutzungs-
möglichkeiten für den Mittelstreifen der
Kantstraße“ (mit Bildbeigaben) einen
Schus sUlkerei beifügen.
Zeiten derPandemie sind zwarkeine
für ausgedehnteurbaneWanderungen,
selbstwenn diegeleertenStädteeigent-
lichdazu einladen.Aber mankann sic hja
schon einmal lesend einstimmen auf die
Zeit danach, auf das wieder erwachende
Treibenentlangder„Ströme,festenPunk-
te und Strudel“. HELMUT MAYER

Gertraud Klemm:
„Hippocampus“.
Roman.
Verlag Kremayr &
Scheriau,Wien 2019.
382 S.,geb., 22,90 €.

Werner Bätzing: „Das
Landleben“.Geschichte
und Zukunfteiner
gefährdeten Lebensfor m.
C. H. BeckVerlag,
München 2020.
302 S.,geb., 26,– €.

AnnekeLubkowitz (Hg.):
„Psychogeografie“.
Eine Anthologie.
Matthes&Seitz Verlag,
Berlin 2020. 239 S.,Abb.,
geb., 22,– €.

DasDorfsoll wieder attraktiv werden


Das Mitglied einer ländlichen Lebens- undWirtschaftsgemeinschaft, in diesemFall im hessischenWetteraukreis, auf derWeide Foto Frank Röth

Man kann sichdem Mittelstreifen auchspielerischnähern


VonderWirkungderStadträumeaufihreBenutzer:EineAnthologieversammeltErkundungenurbanerLandschaftenimZeichenderPsychogeog raphie


Guy Debords „Guide psychogéographique deParis“, 1957,Ausschnitt FotoArchiv

Protesthäkeln für Jesus


GertraudKlemmrächtin„ Hippocampus“ die späte


feministischeAvantgarde mitzwölf Heldentaten


Es be gann mi tder


Sesshaftwerdung:


Werner Bätzinglegt


eine Geschichtedes


Landlebensvor, die


sichauchfür dessen


Zukunftinteressiert.


SEITE 10·MITTWOCH,25. MÄRZ2020·NR.72 Literatur und Sachbuch FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG

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