Süddeutsche Zeitung - 21.03.2020

(C. Jardin) #1

 Fortsetzung von Seite 11


Er ist immer auf der Suche, er spricht vom
„Castingblick“, mit dem er ruhelos durchs
Dorf zieht. Cengiz Görür hat er vor vier
Jahren im „Eiscafé Paradiso“ in Oberam-
mergau angesprochen. Auch seine aller-
wichtigsten Rollen findet er auf diese Wei-
se. Stückl, der Jesusmacher.


Szene 3: Die Entstehung


November 2019. In der Schneiderei rattern
seit Wochen Nähmaschinen. 1500 neue
Kostüme müssen neu geschneidert wer-
den, bis auf etwas Römerzubehör wird
nichts von 2010 verwendet. Bei den Bild-
hauern schneit es Styropor, als die Säulen
in Form gefräst werden. In der „Flügelei“
verbringen Künstlerinnen ihre Tage da-
mit, Tausende Federn zu bügeln und zu rie-
sigen Engelsflügeln zusammenzukleben.
Es entstehen zwölf neue „Lebende Bilder“,
für die die Passion auch berühmt ist: Sze-
nen aus dem Alten Testament,
die von echten Menschen nach-
gestellt werden und ein paar Mi-
nuten still stehen, während der
Chor die Szene besingt.
Der erste Schnee ist gefallen
in Oberammergau, nicht der Re-
de wert in einem Alpendorf, in
dem im Winter sowieso alle in
dicken Stiefeln und Skijacken
herumlaufen. Nur Stückl trägt
wie immer Jeans, Hemd, Haferl-
schuhe, Zigarette. Eine Jacke
scheint er nur anzuziehen,
wenn er beim Herumeilen im
Theater zufällig eine zu greifen
kriegt.
Das Theater wurde 1830 auf
der sogenannten Passionswiese
errichtet, weil der Pfarrer es
nicht mehr aushielt, dass man
für die Spiele auf seinem Fried-
hof herumtrampelte. Das Ge-
bäude wurde immer wieder um-
gebaut, heute haben im Theater rund 4500
Menschen Platz, es ist die größte Freiluft-
bühne mit überdachtem Zuschauerraum
weltweit. An der Rückseite des Theaters
hat Stückl sein Büro, das Atelier, mit gro-
ßer Glasfront. Jeder kann reinschauen.
Das ist wichtig in einem Dorf, in dem die
Passion Allgemeingut ist. Wenn Deutsch-
land 80 Millionen Bundestrainer hat, die al-
les besser wissen, beschreibt es Bürger-
meister Arno Nunn einmal, hat Oberam-
mergau 5500 Spielleiter.
Es ist der letzte Tag einer kleinen Klau-
sur, in die sich der offizielle Spielleiter frei-
willig begeben hat. Er hat zwei Rabbiner
und einen Religionswissenschaftler aus
den USA einfliegen lassen und geht am gro-
ßen Holztisch des Ateliers mit ihnen Zeile
um Zeile seiner neuen Textfassung durch.
Im Büro steht der Rauch, pro Gedanke
braucht Stückl etwa eine Zigarette. Einer
der Rabbis stellt fest, dass das Volk Jerusa-
lems 2010 bei der Verurteilung Jesu alle in


derselben dunklen Farbe gekleidet war.
Das wirke pauschal verdächtigend. Stückl
prüft jeden Einwand. Die Passion ist ein
Sammelsurium an Texten aus dem Neuen
Testament, mittelalterlichen Pestspielen
und Dichtungen diverser Mönche. Der
darin verankerte Antisemitismus hat lange
niemanden gestört. Als Hitler 1934 die Spie-
le zum 300-jährigen Bestehen besucht, ist
er entzückt, die Passion wird „reichswich-
tig.“ Nach dem Krieg will zwar niemand
mehr was mit der Nazi-Zeit zu tun haben,
mit einer Aufarbeitung aber auch nicht.

Szene 4: Der Besessene


Stückl übernimmt die Spielleitung 1986,
da ist er 24. Das Dorf ist damals tief zerstrit-
ten über die Auslegung der Passion – über
eine konservative oder eine sehr konserva-
tive Auslegung. Zu der Zeit dürfen nur
Katholiken mitmachen und die Maria nur
unverheiratete Frauen spielen. Stichwort
unbefleckte Empfängnis. Oberammergau,
das ist frömmelndes Bauernthe-
ater. Sie wollen die Tradition be-
wahren, indem sie das Alte ein-
fach kopieren.
1990 will Stückl den soge-
nannten Blutruf aus dem Text
tilgen, eine Stelle im Matthäus-
evangelium, laut der die Juden
die Verantwortung für den Tod
Jesu übernehmen. Die Kürzung
aber erlaubt der Aufpasser
nicht, von dem Stückl sich da-
mals beraten lassen muss. „Also
hab ich den Satz den drei ältes-
ten Männern mit Gebiss gege-
ben“, sagt Stückl heute, „die ha-
ben ihn weggenuschelt, sodass
ihn kaum einer hörte.“ Er muss
Wege finden, Tradition zu erhal-
ten und gleichzeitig zu erneu-
ern. 2000 war der Satz dann
gestrichen.
Auch die Religion der Spieler
ist mittlerweile unerheblich, so-
gar Evangelische dürfen mitmachen. Allen
voran diesmal der evangelische Pfarrer,
der inbrünstig im Chor mitsingt. 2015 er-
nennt Stückl den muslimischen Regisseur
Abdullah Karaca zum zweiten Spielleiter,
einen potenziellen Nachfolger. Wenn Öku-
mene überall so gut funktionieren würde
wie hier, hätte nicht nur die Kirche weniger
Probleme.
Allein mit der Gleichberechtigung ha-
pert es. Die Bibel ist nicht gerade ein femi-
nistisches Manifest. Blöd für alle Frauen,
die gern spielen würden. Stückl bemüht
sich immerhin, die drei Frauenfiguren
spannender zu machen: Maria, Maria Mag-
dalena und Veronika. Jahrelang müssen
drei Oberammergauerinnen kämpfen, bis
sie 1990 vor dem Verwaltungsgericht Mün-
chen ein Spielrecht für alle Frauen erwir-
ken, auch für die verheirateten und über
35-jährigen. Die angebliche Jungfräulich-
keit Marias und die Rolle der Frau zu Zei-
ten Jesu lässt das Gericht nicht gelten.

Dass die Passion durch Stückl offener
wird, das gefällt längst nicht jedem im Ort.
Schon kurz nach seiner Ernennung zum
Spielleiter schreiben ein paar Oberammer-
gauer an seine Tür: „Totengräber von Am-
mergau, zieh Leine, sonst bekommst du
nasse Beine“.

Szene 5: Der Auserwählte


Ein gespielter Jesus ist immer noch echter
als gar kein Jesus. Deshalb wollen sich er-
fahrungsgemäß viele Besucher mit einem
der beiden Darsteller fotografieren lassen,
manche wollen ihn berühren. Frederik
Mayet, 40, kennt dieses Begehren, er war
2010 schon der Jesus. Seine erneute Ernen-
nung – neben dem 24 Jahre alten Studen-
ten Rochus Rückel – finden manche im
Dorf ungerecht, schließlich will jeder gern
Jesus sein. Vom Alter her kommen für die
Männer nur zwei Spielzeiten in Frage.
Stückl aber findet, Mayet hätte sich 2010
nicht richtig freigespielt. Nebenbei ist May-
et auch noch Pressesprecher der Spiele
und damit bei Interviews genauso oft Ver-
mittler wie Gesprächspartner. Einen Nach-
mittag lang muss er von Jerusalem aus mit
deutschen Medien telefonieren. Eine Tier-
schutzorganisation fordert, Jesus, also er,

möge doch, statt auf einem echten Esel ins
Passionstheater zu reiten, auf einem
E-Scooter einfahren. Sehr ökologisch ge-
dacht, aber nein danke, sagt Mayet. San-
cho, der Passions-Esel, sei in bester Verfas-
sung.

Szene 6: Der Text


Stückl hat eine ganz genaue Vorstellung da-
von, wie die Sätze klingen sollen, er spielt
sie sogar vor. Der Passionstext ist kein zu-
gänglicher Stoff, er klingt vergeistigt, veral-
tet. Maria sagt da: „Um meines Sohnes wil-
len will ich dir Frieden wünschen, Jerusa-
lem, um des Tempels des Herrn willen, un-
seres Gottes, will ich dir Glück erflehen.“
Wer bitte will was warum erflehen?
Stückl versucht, Bilder zu finden, das
Abstrakte ins Alltägliche übersetzen. Der
verzagte Engel soll so tun, als spräche er
mit seiner Mutter. Das letzte Abendmahl
gleicht einer Firmenversammlung: „Ihr
müsst’s euch vorstellen, das ist Jesus’ Moti-
vationsrede. Der Chef tritt ab und übergibt
die Firma an die Jünger.“ Und wenn gar
nichts hilft: „Sag’s mal auf Bairisch!“
Die Spieler sind Studenten, Beamte, Ar-
chitektinnen, selbständige Unternehmer,
Forstingenieure, Bildhauerinnen, eine Ma-

ria ist Flugbegleiterin, ein Pontius Pilatus
hat ein Hotel im Dorf. Was sie nicht sind:
professionelle Schauspieler. Natürlich ist
es verrückt, dass ausgerechnet Laien die
hochtrabendsten Texte sprechen.
Seit Dezember proben die Spieler jeden
Abend im „Kleinen Theater“, auch am
Wochenende. Montag Empörung, Diens-
tag Kreuzigung, Mittwoch Auferstehung.
Der Probenplan ist für alle einsehbar auf
der Webseite der Gemeinde, Hunderte
Spieler lassen sich ja schlecht in einer
Whatsapp-Gruppe organisieren. Die vie-
len Leuten treiben Stückl an die Grenze
des inszenatorisch Möglichen. Zum Glück
hat die Bibel ein paar Massenszenen parat,
etwa den Einzug nach Jerusalem.
„Hosianna!“, jubelt beim Einzug der Ju-
das, also Cengiz Görür, es ist der 25. Januar
2020, die erste Probe auf der großen Büh-
ne des Passionstheaters. Es riecht nach nas-
sen Sägespänen und Heizlüftern. Im halb
offenen Theater ist es trotzdem immer ge-
fühlt fünf Grad kälter als draußen, Görür
hat die Kapuze seines Pullis über den Kopf
gezogen. 400 Menschen sind da, Eltern ha-
ben ihre Säuglinge umgeschnallt, Kinder
springen herum. Massenmotivator Stückl
spricht ins Mikrofon: „Rennverbot im The-
ater! Nur auf den Jesus zurennen dürft ihr.“

Cengiz Görür, 20,
spielt den Judas, im
Dorf eine der angese-
hensten Rollen. Er
hat die Schule unter-
brochen, jetzt möchte
er es auf der Schau-
spielschule probieren.

Die Frauen
mussten
einst
für ihr
Spielrecht
gar vor
Gericht
ziehen

Links oben: Im Okto-
ber 2018 schreibt
Lena Rödl auf eine
Tafel, wer wen spie-
len darf. Alle Haupt-
rollen sind gleichwer-
tig doppelt besetzt.
Daneben: Christian
Bierling arbeitet an
der Paradies-Schlan-
ge für eines der
„Lebenden Bilder“,
unten links zu sehen.
Bei den Volksproben,
hier mit Rochus
Rückel als Jesus,
üben sie den „Einzug
nach Jerusalem“.

12 BUCH ZWEI Samstag/Sonntag, 21./22. März 2020, Nr. 68 DEFGH


Am 7. Dezember 2019 beginnen die Proben. „Ich höre den Text heute
auch zum ersten Mal“, sagt Spielleiter Stückl. Er möchte in seiner Inszenierung
einen menschlichen Jesus zeichnen und eine Passion ohne Antisemitismus.
Free download pdf