Süddeutsche Zeitung - 21.03.2020

(C. Jardin) #1
FOTO: EDDIE MULHOLLAND/AFP

S


ie hat keinen Namen, diese Kata-
strophe, sie verbindet sich mit
keinem Gefühl. So wie das Coro-
navirus nicht zu riechen, zu
schmecken und zu sehen ist, so
ist das Ausmaß seiner zerstörerischen
Kraft noch nicht mit Worten zu fassen. Ein
Notstand? Eine globale Apokalypse? Eine
Menschheitskrise? Begriffe vermitteln
nur unzureichend, welche Kraft den Erd-
ball gepackt hat.
Die Menschheit hat diesen kollektiven
Ausnahmezustand seit dem Zweiten Welt-
krieg nicht mehr erfahren. Sie erlebt nun
eine gemeinsame Bedrohung, sie fürchtet
simultan um Leib und Le-
ben, um Stabilität, Wohl-
stand, Arbeit, Sicherheit.
Gesellschaften verschlie-
ßen sich in existenziellen
Augenblicken, achten auf
das eigene Überleben, ent-
wickeln ungeahnte Kräfte



  • im Zusammenhalt, aber
    auch in der Destruktion.
    Schon die ersten Wo-
    chen zeigen, welch kons-
    truktive, aber auch welch
    zerstörerische Wucht in
    der Corona-Pandemie
    steckt. Demokratien re-
    agieren anders als totalitä-
    re Strukturen. Die Radikal-
    Isolierung der Menschen
    in Wuhan mit Mitteln der
    Repression und der Zen-
    sur war unbarmherzig.
    Was hinter der Mauer
    geschah, wird man in all
    seiner Grausamkeit viel-
    leicht später erfahren.
    Kaum eine Demokratie
    kann diesen Druck auf Dauer aushalten.
    Demokratien reagieren zunächst mit
    einem Ausbruch von Solidarität und
    Geschlossenheit. Was aber, wenn diese
    Gemeinsamkeit nicht den erwünschten
    Erfolg liefert? Wenn die Methoden der
    Seuchenbekämpfung infrage gestellt wer-
    den? Zeit zu gewinnen sei nun der ent-
    scheidende Faktor, sagen die Experten,
    aber Zeit ist ein subjektiver Begriff. Nicht
    jede Psyche wird die Isolation über Wo-
    chen hinweg aushalten. Keine wissen-
    schaftliche Logik wird den freien Geist
    und das Gefühl einsperren können.
    Demokratien führen keine Kriege,
    heißt es. Demokratien sind auch nicht ge-
    schaffen für den Ausnahmezustand, je-
    denfalls nicht auf Dauer. Demokratie
    braucht Widerspruch und verlangt nach
    Aufklärung: warum es etwa so schwierig
    ist, Masken oder Schutzanzüge herzustel-
    len oder Millionen Bürger binnen kürzes-
    ter Zeit auf das Virus zu testen.
    Das größte ethische Dilemma kann al-
    lerdings auch die Demokratie nicht lösen:
    Wie viel Schaden ist ein Gemeinwesen in
    der Lage zu ertragen, um Menschenleben
    zu retten? Oder umgekehrt und in aller
    Härte formuliert: Muss die Gesellschaft
    sich entscheiden, ob sie lieber Menschen
    vor dem Tod bewahren will – oder ob sie ih-
    ren gemeinschaftlichen Charakter erhal-
    ten möchte mit all seinen Arbeitsstruktu-


ren, dem Lebensstil, den Institutionen aus
der Zeit vor der Krise? Dabei geht es nicht
um die Spaßgesellschaft und ihre Spiel-
wiesen. Es geht um grundlegende Errun-
genschaften wie etwa die Europäische Uni-
on und ihre Währung, um gesellschaftli-
che Stabilität dank niedriger Arbeitslosig-
keit oder das Sicherheitsversprechen für
Rentner und junge Leute gleichermaßen.
Keine Gesellschaft, kein ethisch den-
kender Mensch kann diese Antwort ge-
ben. Wer seine Liebsten verliert durch das
Virus, wird es der Gesellschaft und den
Verantwortlichen möglicherweise nicht
verzeihen, wenn sie nicht alles Erdenkli-
che zur Rettung unter-
nommen haben. Wer sei-
ne wirtschaftliche Exis-
tenz verliert, wer nach der
Krise mit leerem Blick auf
den politischen Trüm-
mern sitzt, wird fragen,
ob es das Opfer wert war.
Dieser moralische Zwie-
spalt wird sich Bahn bre-
chen – und er muss thema-
tisiert werden, in vernünf-
tigem Ton. Politische Füh-
rung in Krisenzeiten zeich-
net sich nicht durch de-
monstrative Härte aus,
sondern durch Sensibili-
tät. Sie muss der Gesell-
schaft die Entscheidung
zwischen Leben und Tod
ersparen.
Das Vertrauen in die In-
stitutionen des Staates, in
das Gesundheitssystem,
auch in die demokrati-
sche Vernunft der Gewähl-
ten ist hoch. Das macht
Deutschland, anders als etwa die USA, zu
einer berechenbaren Demokratie selbst in
existenziellen Momenten.
Krise aber muss diese Demokratie ler-
nen, weil das Virus heimtückisch ist. Es
kann selbst die Demokratie befallen. Frei-
heiten werden abgebaut, Rechte gebeugt,
Sicherheiten genommen. Die Gemein-
schaft wird das nicht ertragen, wenn sich
nur der Hauch eines Verdachts ergibt,
dass die Rechte nicht wieder zurückkeh-
ren. Israel hat die Gewalten außer Kraft ge-
setzt, in den USA glauben nun auch die Ver-
nünftigen, dass sie sich mit Waffen schüt-
zen müssen. Irrationalität und Angst kön-
nen fürchterliche Kräfte freisetzen, die
keine Ausgangssperre bändigen kann.
Die Menschheit wird die Kraft nicht auf-
bringen, auf die größte momentan denk-
bare Herausforderung gemeinsam zu ant-
worten. Führungsnationen wie die USA ha-
ben abgedankt, neue Mächte wie China er-
weisen sich zur Führung als ungeeignet.
Der Staatstheoretiker Thomas Hobbes
stellte lakonisch fest, dass der Mensch
dem Menschen eben ein Wolf sei, dass
sich Staaten im Angesicht von Konflikten
zerfleischen, aber nicht helfen. Das ist die
bittere Erkenntnis nach der kurzen Kri-
senzeit. Gesellschaften ziehen sich zu-
rück, suchen das Heil in immer kleineren
Gemeinschaften. Aber auch vor ihnen
wird dieses Unheil nicht haltmachen.

D


ie mildere Form der Aus-
gangssperre, die Beschrän-
kungen, wie sie Bayern als ers-
tes Bundesland verhängt hat,
ist richtig. Es gibt leider zu vie-
le Menschen, die sich, zumal bei Sonnen-
schein und Klimawandelwärme, in den Co-
rona-Ferien wähnen. Und da die Krank-
heit nun mal von Mensch zu Mensch über-
tragen wird, muss man die Möglichkeiten
der Übertragung weiter einschränken.
Dies greift in die Freiheit der Einzelnen
ein. Wenn aber viele Einzelne ihre Frei-
heitsrechte so interpretieren, dass sie das
wichtigste Grundrecht, das Recht auf Le-
ben, vieler anderer durch ihr Verhalten ge-
fährden, dann ist eine Einschränkung der
Freiheit aller nicht nur legitim, sondern ge-
boten. Man muss kein Virologe sein, um
zu verstehen, dass immer mehr Infizierte
immer noch mehr Menschen infizieren.


Wer in den letzten Tagen an einem bay-
erischen See die Radfahrer-Pulks sah, die
Picknick-Gruppen, die Fußballspieler, die
lustigen Burschen mit dem Biertragl, der
sah auch ein Abbild des sorg- und verant-
wortungslosen Teils der Gesellschaft. Ei-
gennutz ist alles, das Gemeinwohl scheint
wenig zu zählen. Und wenn die SPD-Che-
fin Saskia Esken trotzdem glaubt, „die frei-
heitliche Gesellschaft“ brauche keine Aus-
gangsbeschränkungen, dann hätte sie viel-
leicht etwas genauer hinschauen sollen in
Berlin und in Freiburg, in München und in
Stuttgart, bevor sie twitterte.
Ja, der demokratische Staat muss das
Individuum und seine Rechte schützen.
Dazu gehört übrigens auch das Recht, gut
leben zu wollen, was die Amerikanerthe
pursuit of happinessnennen. Gerade in
der deutschen Geschichte hat leider zu


häufig der angebliche „Schutz“ eines sehr
subjektiv interpretierten Gemeinwohls
Rechte, Freiheit und manchmal auch Le-
ben der Einzelnen bedroht.
Es ist also wichtig, bei so scharfen Ein-
griffen in das Privatleben aller Menschen
sehr genau darauf zu achten, dass auch
ein Gemeinwesen nicht nur an einem Vi-
rus erkranken kann, sondern im Extrem-
fall an zu wenig Freiheit zugrunde geht.
(China übrigens ist ein Beispiel dafür, wie
der Tod der Freiheit mit dem Virus begrün-
det werden kann.) In Deutschland aller-
dings besteht diese Gefahr nicht. Hier be-
reitet niemand einen Putsch im Schatten
des Virus vor, und niemand wird die
Grundrechte aushebeln. Das Konjunktiv-
Geraune über solche Szenarien ist natür-
lich erlaubt, aber es ist grundlos. Leider
kann Karlsruhe nicht die Ausbreitung des
Virus verbieten.
Natürlich lässt die Krise auch die Eigen-
schaften einzelner Politiker schärfer
hervortreten. Bayerns Ministerpräsident
Markus Söder zum Beispiel ist einer, der
nie warten will, der im Zweifelsfall die
föderale Abstimmung unterläuft und der
einen gewissen Hang zum Effizienz-Auto-
ritarismus hat. Wer ihn in diesen Tagen
sieht, der sieht einen Mann, der noch
nicht da ist, wo er mal sein will, und der im
Zweifelsfall auch mal das Gemeinwohl für
seinen Eigennutz instrumentalisiert.
Gewiss, auch das ist für einen Politiker
legitim. Aber dennoch kommt Söder das
besorgte Landesvatertum gerade so was
von zu den Ohren raus, dass man das Ge-
fühl hat, er wolle Sebastian Kurz sein, nur
nicht in Österreich.
Ja, Bayern und Baden-Württemberg
sind als südliche Grenzländer in einer an-
deren Situation als Hessen oder Sachsen-
Anhalt. Dennoch wäre es angebracht,
wenn es eine einheitliche Reaktion der
Bundesländer in einer so wichtigen Frage
wie den Ausgangsbeschränkungen gäbe.
Das geht aber mit einem wie Söder nicht.

Elisabeth II. ist am Donnerstag in einen
verlängerten Osterurlaub aufgebrochen.
Eigentlich hätte ihr alljährlicher Aufent-
halt in Windsor über die Feiertage erst
kommende Woche beginnen sollen, aber
nun ist die Queen, von ihrem Schloss in
Sandringham kommend, nach einem län-
geren Zwischenstopp im Buckingham-Pa-
last gleich weitergereist. Ihr Verhalten
wird als vorbildlich beschrieben; die Köni-
gin, heißt es, mache vor, dass Selbstisolati-
on in der Corona-Krise unabdingbar sei.
Zwar darf bezweifelt werden, dass eine
Frau, die daran gewöhnt ist, angekleidet
und rund um die Uhr bedient zu werden,
tatsächlich in die völlige Isolation geht,
auch wenn sie mit ihren 93 Jahren natür-
lich zur Hochrisikogruppe gehört. Aber
immerhin hat sie vor ihrem Rückzug noch
eine sehnlichst erwartete Botschaft an ihr
Volk abgesetzt; in den vergangenen Ta-
gen war in den sozialen Medien wie in der
Presse die Frage immer lauter geworden,
wo eigentlich die Queen sei und ob nicht
jetzt der richtige Zeitpunkt wäre, um sich
mit einer Rede an die Briten zu wenden.
In anderen Ländern, die keine Monar-
chen haben, mussten das eine Angela Mer-
kel, ein Donald Trump oder ein Emmanu-
el Macron – mit unterschiedlichem Erfolg


  • selbst erledigen, während es in Großbri-
    tannien bisher Premierminister Boris
    Johnson überlassen blieb, in Pressekonfe-
    renzen die Bevölkerung mehr zu verwir-
    ren als aufzuklären. Am Donnerstag hatte
    Downing Street nach einem Aufritt John-
    sons nachlegen müssen und versichert, in
    London komme keine Ausgangssperre;
    am Freitag musste der Premierminister
    sich dann fragen lassen, auf welcher Basis
    er denn optimistisch andeute, in drei Mo-
    naten werde alles wieder gut sein.


Elisabeth II. hat nun zwar nicht gespro-
chen, aber ihren Untertanen immerhin ge-
schrieben. Sie dankte Wissenschaftlern,
Medizinern, Pflegern und Behörden und
versuchte, Trost zu spenden in „einer Zeit
der Unsicherheit“. Sie sei sicher, dass das
Land diese Herausforderung meistern
werde, was nichts anderes bedeutet als:
Wir schaffen das. Ihre jährliche Garten-
party ist längst abgesagt, auch andere Ver-
pflichtungen wurden verschoben.
Noch in ihrer jüngsten Weihnachts-
ansprache hatte die Königin eingeräumt,
dass ihre Familie ein schwieriges Jahr hin-
ter sich habe: die Krankheit ihres greisen

Ehemannes Philip, den Quasi-Ausstieg
von Meghan und Harry aus der royalen
Truppe, den Ärger von Sohn Andrew we-
gen seiner engen Bekanntschaft mit dem
pädophilen Millionär Jeffrey Epstein. Da-
zu kamen Brexit und Regierungswechsel,
welcher wiederum dazu führte, dass die
Monarchin 2019 gleich zweimal ins Parla-
ment fahren und eine Queen’s Speech hal-
ten musste. Es ist nicht überliefert, steht
aber zu vermuten: Sie war not amused.
Zuletzt hatte die Queen 1992 anlässlich
ihres 40. Krönungsjubiläums von einem
Annus horribilis gesprochen; damals hat-
te sich Andrew von seiner Frau getrennt,
ihre Tochter Anne hatte sich scheiden las-
sen, von Schwiegertochter Diana waren
zahlreiche, im Palast höchst unwillkom-
mene Intimitäten bekannt geworden.
Und in Windsor hatte es gebrannt.
In den vergangenen Wochen kursier-
ten nun angesichts der neuerlichen Unbill
Gerüchte, dass Elisabeth die Übergabe
der Amtsgeschäfte an ihren Sohn Charles
plane. Als der ganze Clan samt der kanadi-
schen Aussteiger zur Feier des Common-
wealth-Tages im März zusammengeru-
fen worden war, glaubte manch einer,
jetzt habe sie genug von ihrem Amt. Der
Prinz of Wales, mit seinen 71 Jahren auch
Corona-Risikogruppe, hätte das vermut-
lich begrüßt. Aber Elisabeth blieb Königin
und zog lieber aus London aufs Land. Die
Nation weiß sich getröstet, denn die
Queen ließ verlauten, ihre Familie und sie
selbst stünden bereit, eine wichtige Rolle
zu spielen, wenn es gelte, das Land zusam-
menzuhalten. „Viele von uns werden neue
Wege finden müssen, um in Kontakt zu
bleiben und sicherzustellen, dass ihre Lie-
ben gesund bleiben.“ Sie hat genau das
jetzt getan. cathrin kahlweit

von detlef esslinger

W


er derzeit nach der positiven
Nachricht sucht, nach wenigs-
tens etwas Anlass zu Zuver-
sicht, dem kann man zum Wochenende
nicht bloß ein Fünkchen, sondern immer-
hin eine Taschenlampe bieten. Das eine
ist ja, dass Menschen sich sorgen um die
Gesundheit; oder darum, wie die Welt ins-
gesamt beschaffen sein wird, wenn die-
ses Virus eines Tages eingedämmt ist.
Das andere sind die Ängste um die ökono-
mische Existenz: Wie zahle ich meine
Miete? Die Versicherungen? Das Auto?
Vier Millionen Arbeitnehmer und ihre An-
gehörigen haben Anlass, zumindest in
dieser Hinsicht ein wenig durchzuatmen.
Die Arbeitgeber der Metall- und Elek-
troindustrie sowie die IG Metall haben
auf sämtliche Rituale verzichtet, die
sonst zu einer Tarifrunde gehören wie die
Forsythie zum Frühling. In aller Stille ha-
ben einige der ausgeglichensten, diplo-
matischsten Charaktere beider Organisa-
tionen einen Tarifvertrag vereinbart, der
den Beschäftigten ihren Job, 80 Prozent
ihres Nettolohns und auch noch etwas
Zeit für all die Schul- und Kindergarten-
kinder daheim sichern soll. Ohne diese
Regelung wären all diejenigen, die sehr
bald in Kurzarbeit müssen, auf ein Kurz-
arbeitergeld zurückgeworfen worden,
das 67 Prozent eines Nettolohns beträgt –
oder sogar 60 Prozent, falls man keine
Kinder hat. Wer könnte so etwas verkraf-
ten, von einem Tag auf den anderen?
Ja, es ist richtig, dass der Staat die vor-
übergehende Beteiligung an Firmen oder
gar deren Übernahme erwägt, Finanz-
garantien und anderes mehr. Aber letzt-
lich besteht „der Staat“ aus der Gesamt-
heit seiner Bürger – die im Idealfall nicht
nur auf Altmaier, Scholz und Heil warten,
sondern manche Dinge selbst in die Hand
nehmen. Insofern istdas, was die beiden

Unterhändler von IGMetall und Arbeitge-
bern, Knut Giesler und Arndt G. Kirch-
hoff, in aller Diskretion zustandege-
bracht haben, ein Hoffnung gebendes Bei-
spiel von Bürgersinn. Daran ändert
nichts, dass sie sich bei der Kurzarbeit ei-
nes buchhalterischen Kniffs bedienen,
der Arbeitnehmern und Betrieben hilft,
die Sozialversicherung jedoch belastet.
Der Schaden auch für Letztere wäre grö-
ßer, brächen die Betriebe der Metall- und
Elektroindustrie zusammen.

Es wird in nächster Zeit manche Bran-
chen geben, die sich an dieser Einigung
orientieren werden; noch am Freitag ha-
ben Gewerkschaft und Arbeitgeber der
Chemie-Industrie mit einer für ihre
600000 Beschäftigten passenden Rege-
lung nachgelegt. Es wird aber auch Bran-
chen geben, in denen dies schon deshalb
nicht der Fall sein dürfte, weil dort Tarif-
parteien traditionell kaum Bedeutung ha-
ben. Eine Friseurin bekommt monatlich
nicht einmal halb so viel wie ein Metall-
arbeiter – eigentlich müsste sie derzeit ei-
ne Gefahrenzulage erhalten. Viele in dem
Beruf wissen derzeit nicht, was schlim-
mer wäre: weiterzuarbeiten (sie dürfen
ja) oder auf 67 oder 60Prozent Kurzarbei-
tergeld gesetzt zu werden.
Für diese Menschen werden regierende
Politiker sich etwas einfallen lassen müs-
sen. Andernfalls führt Corona dazu, dass
ohnehin schon Benachteiligte noch weiter
benachteiligt werden. Vom bayerischen
Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger
kommt der Tipp, beim Spargelstechen zu
helfen. Sollte dies sein Verständnis von
Staatshilfe für diesen Personenkreis sein:
Da darf gern noch mehr kommen.

von jens schneider

B


ereits seit ihrer Gründung liegt das
Erfolgsmodell der AfD in ihrer Am-
bivalenz. Genau die wird für die Par-
tei nun zu einer Falle, aus der sie nicht her-
ausfindet. Das offenbart am Ende dieser
Woche der nicht einmal halbherzige Be-
schluss ihres Parteivorstands zum Um-
gang mit den übelsten Extremisten in ih-
ren Reihen.
Die Ambivalenz der AfD liegt in ihrem
Spiel mit zwei Gesichtern: Sie gibt sich
gern im Äußeren bürgerlich, als wäre sie
auf eine konservative Art zivil. Politisch
aber setzte sie auf Vorurteile und Ressenti-
ments, ihre Politiker haben das mit üblen
Tiraden gegen Menschen mit Migrations-
hintergrund, Muslime und politsche Geg-
ner oft vorgeführt. Ihr Rassismus, ihre
Fremdenfeindlichkeit kamen oft in einem
zivilen Gewand daher, selbst Rechtsau-
ßen wie Björn Höcke gaben sich zuletzt
harmlos. So holte die AfD Stimmen rechts
der Mitte und ganz rechts, sie sprach Bür-
ger mit Ressentiments genauso an wie un-
verhohlene Nazis.
Teil des Erfolgsmodells war, dass
Rechtsextremisten wie Björn Höcke und
sein „Flügel“ dazugehörten, die im Osten
Deutschlands Rekordergebnisse für die
AfD bei Wahlen holten. Nur zu gern be-
zeichnete ihr Stratege Alexander Gauland
einen wie Höcke als Teil der Mitte der Par-
tei. Damit ist die einst als „Professoren-
Partei“ gestartete AfD sieben Jahre nach
ihrer Gründung zu einer rechten Samm-
lungsbewegung geworden, die in diesem
Land schweren Schaden angerichtet, die
politische Kultur auf unerträgliche Art ver-
ändert hat. Zu Recht stufte der Verfas-
sungsschutz den „Flügel“ als rechtsextre-
mistisch ein, und sehr zu Recht will er sich
den Rest der Partei weiter genau anschau-
en, der mit diesem „Flügel“ gemeinsame
Sache machte.

Und auf einmal macht sich in den Rei-
hen der AfD Erschrecken breit, weil ihr üb-
les Spiel nicht mehr funktioniert: Beamte
bangen um ihre Positionen im Staat. Ge-
mäßigtere Kräfte aus dem Westen wollen
mit dem „Flügel“ nichts mehr zu tun ha-
ben. Plötzlich sind ihnen Leute wie Höcke
oder Andreas Kalbitz unangenehm.
Auch weil eine Austrittswelle drohte,
machten diese – im Rahmen der AfD – Ge-
mäßtigeren Druck, und herausgekom-
men ist eine wachsweiche Entscheidung,
die wenig ändern wird. Höckes „Flügel“
möge sich selbst auflösen, lautet die For-
derung – sogar dazu mussten sich Leute
wie Gauland noch durchringen, so verwo-
ben ist man miteinander.

Was aber ist dieser Beschluss wert?
Zum einen sind Mitglieder vom „Flügel“
auch ohne feste Strukturen vernetzt wie
rechte Kader. Daran können sie nach der
„Auflösung“ festhalten und einen Block
bilden. Denn, das ist die eigentliche Bot-
schaft: Sie bleiben in der Partei, sie wer-
den sie – mehrere Tausend Mitglieder
stark – weiter prägen, an führender Stelle
zum Beispiel in Thüringen, Brandenburg
und Sachsen. Sie bleiben, um Gaulands
verheerende Feststellung anzuführen,
Mitte der Partei. Was nicht überrascht, vie-
le vom Rest der AfD und die Rechtsaußen
sind ohnehin schwer zu unterscheiden.
So bliebe dieser Beschluss für die AfD
und ihre Entwicklung wertlos, wenn sich
die unruhig gewordenen Kräfte damit be-
gnügen. Wenn sie es wirklich ernst mein-
ten, müssten sie sich von vielen konse-
quent trennen – angefangen mit Höcke
und Kalbitz. Schwer zu sagen, was dann
noch von der AfD übrig bliebe.

HERAUSGEGEBEN VOM SÜDDEUTSCHEN VERLAG
VERTRETEN DURCH DEN HERAUSGEBERRAT
CHEFREDAKTEURE:
Kurt Kister, Wolfgang Krach
NACHRICHTENCHEFS:
Iris Mayer, Ulrich Schäfer
AUSSENPOLITIK:Stefan Kornelius
INNENPOLITIK:Detlef Esslinger (komm.)
SEITE DREI:Alexander Gorkow; Karin Steinberger
INVESTIGATIVE RECHERCHE:Bastian Obermayer,
Nicolas RichterKULTUR:Andrian Kreye, Sonja Zekri
WIRTSCHAFT: Dr. MarcBeise
SPORT: Klaus Hoeltzenbein WISSEN: Dr.Patrick Illinger
PANORAMA:Felicitas Kock, Michael Neudecker
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Gemessen an den reinen Zah-
len, macht die Eisbachwelle
nicht viel her. Sie ist etwa
zwölf Meter breit und an ih-
rer höchsten Stelle um die an-
derthalb Meter hoch. Und selbst wenn
man die Augen beim Surfen schließen
würde, bleibt das offene Meer unvorstell-
bar: Gleich oberhalb der Welle verläuft ei-
ne der viel befahrenen Magistralen Mün-
chens. Gleichzeitig ist die Eisbachwelle
die maximal verdichtete Freiheit. Das
liegt an den Flusssurfern, denen auf
kleinstem Raum oft große Akrobatik ge-
lingt. Dazu gehören 360-Grad-Drehun-
gen mit dem Brett, meterhohe Sprünge
und das Wellenreiten im Kopfstand. Die
relativ kleine Gemeinde wirklich geübter
Eisbachsurfer hat die Flusswelle so welt-
weit zu einer der berühmtesten gemacht.
Im Unterschied zum Meer, in dem der
Surfer eine Welle in Richtung Küste ab-
fährt, ist die Eisbachwelle eine stehende
Welle, auf der sich der Surfer hin- und
herbewegen kann. Sie entsteht durch die
hohe Fließgeschwindigkeit des Eisbachs
und einige Eingriffe, durch die in den
1970er-Jahren zuerst der Sportler Walter
Strasser den Bach surfbar machte. Legali-
siert wurde das Eisbachsurfen jedoch
erst 2010. Wegen der Ausgangsbeschrän-
kungen soll das Wasser des Eisbachs nun
gedrosselt und die Welle so gestoppt wer-
den. Anlass dafür sind nicht die Surfer,
sondern die oft vielen Zuschauer. jhd

Demokratien
sind nicht für den
Ausnahmezustand
gemacht,
jedenfalls nicht
auf Dauer.
Wie viel
Einschränkung
werden sie ertragen,
um Menschenleben
zu retten?

4 MEINUNG HF2 Samstag/Sonntag, 21./22. März 2020, Nr. 68 DEFGH


ARBEITSMARKT

Jeder tue, was er kann


Die gute Nachricht in der Krise:
IG Metall und Arbeitgeber finden
still zu einem neuen Tarifvertrag

AFD

Nicht mal ein Anfang


Eigennutz ist alles,


das Gemeinwohl


scheint wenig zu zählen


sz-zeichnung: luis murschetz

CORONA


Krise lernen


von stefan kornelius


AUSGANGSBESCHRÄNKUNGEN


Recht auf Schutz


von kurt kister


AKTUELLES LEXIKON


Eisbachwelle


PROFIL


Königin


Elisabeth


Monarchin,
isoliert und
doch präsent

Meinte es die Partei ernst,
müsste sie sich von vielen
Höcke-Leuten trennen
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