Der Historiker Rutger Bregman
glaubt fest an das Gute im Menschen.
Vor allem in Krisenzeiten Seite 52
Jannis Niewöhner ist ein großes
Schauspieltalent. Nun lernt er, was es
heißt, berühmt zu sein Seite 47
E
in Mann steht allein auf der Büh-
ne eines Theaters. Die Bühne ist
leer. Hinten, an der hohen ge-
mauerten Rückwand des Büh-
nenhauses leuchtet über einer
feuerfesten Metalltür ein Schild:Notaus-
gang– aber die Tür ist zu, fest verschlos-
sen. Ein paar Dekorationsteile lehnen noch
links hinten an der Wand, gestern wurde
hier vielleicht noch „Romeo und Julia“ ge-
spielt. Oder „Der zerbrochene Krug“ oder
ein irgendein anderes Stück, vielleicht so-
gar eines von mir, denn damit habe ich bis
vor Kurzem mein Geld verdient: mit den
Aufführungen meiner Theaterstücke.
Auf den Arbeitsgalerien links und
rechts an den Seiten hoch über der Bühne
hängen unzählige Scheinwerfer. Numme-
rierte Seilzüge führen rechts und links
unter die Decke des Theaters in den soge-
nannten „Schnürboden“, von dem große
Prospekte herabfahren können: Hier auf
dieser Bühne war bis gerade eben noch al-
les möglich, dieser Raum konnte sich in
eine Heidelandschaft in Schottland wie bei
„Macbeth“ oder in Fausts Studierzimmer
oder auch in einen abstrakten weißen Ku-
bus als Sinnbild der Welt verwandeln, auf
den Brettern dieser Bühne war alles, alles
möglich, denn die ganze Welt ist eine Büh-
ne, wie es bei Shakespeare heißt – aber das
einzige Licht, das jetzt noch brennt, sind
nur ein paar Leuchtstoffröhren, das soge-
nannte Arbeitslicht. Vielleicht brennt auf
der Bühne wie im Zuschauerraum sogar
nur noch die trübe Notbeleuchtung.
Der Mann, der allein auf der Bühne
steht, ist Anfang 50. Der Mann schwitzt
leicht und fröstelt gleichzeitig, die Gesten
des Mannes sind fahrig, nervös, der Mann
kann nicht stillstehen, er geht auf und ab,
und fährt sich dabei immer wieder mit den
Händen durch die verschwitzten Haare.
Der Mann hustet leicht, er versucht, den
Husten zu unterdrücken, aber er wird den
Hustenreiz nicht los, der einsame Mann
auf der Bühne hätte gerne einen Schluck
Wasser, er tritt an die Bühnenkante und
wendet sich zum Zuschauerraum, „hat je-
mand“, will der Mann sagen, „hat jemand
vielleicht einen Schluck Wasser für mich“
- aber dann überkommt den Mann ein wei-
terer Hustenkrampf, er versucht noch, sich
im letzten Moment die Hand vor den Mund
zu halten, aber der Hustenkrampf ist zu
stark, der Husten zerreißt ihn fast, und
jetzt muss der Mann gleichzeitig auch noch
niesen. Husten und Niesen wechseln sich
jetzt ab, der Mann auf der Bühne bekommt
sich nicht mehr unter Kontrolle.
Daraus könnte sich eine große komi-
sche Nummer entwickeln. Die ersten Zu-
schauer im Saal begreifen, dass dies alles
nur ein makabres, vollkommen überzoge-
nes Spiel ist. Eine Horrorvorstellung der
Tröpfcheninfektion wie im berühmten
Theatre du Grand Guignol. Vereinzeltes
Lachen. Vereinzeltes lautes Lachen im
Publikum.
Jedes Mal, wenn der Mann etwas sagen
will, muss er niesen oder husten, und das
Publikum lacht jetzt immer mehr.
„Was für eine widerliche Geschmacklo-
sigkeit, da draußen sterben Menschen –
und da draußen riskieren Leute ihr Leben,
um uns zu retten!“, ruft aber dann ein Zu-
schauer aus der siebten Reihe, steht auf
und verlässt Türen knallend den Saal. Der
Rest des Publikums in dem bis auf den letz-
ten Platz ausverkauften Theater lacht aber
immer mehr und mehr, lacht befreit, fast
schon hysterisch, manche Leute lachen so-
gar Tränen – so könnte es zumindest sein.
Aber so ist es nicht, denn es ist über-
haupt kein Publikum da. Der Zuschauer-
raum ist menschenleer. Die Theater sind
geschlossen, in Deutschland und Europa,
vielleicht schon bald weltweit. Pandemie.
Wenn aber im Parkett aber noch Zu-
schauer sitzen würden oder könnten, dann
würde der Mann, Anfang 50, oben auf der
Bühne schließlich sagen:
„Ich habe Angst. Ich befinde mich im
freien Fall. Und ich habe Angst vor dem Auf-
schlag. Ich habe so große Angst, dass ich es
kaum in Worte fassen kann“, und mit die-
sen Worten würde es still in dem vollen
Theater werden, das in Wahrheit wie ausge-
storben ist. Niemand lacht mehr.
„Ich befinde mich im freien Fall“, sagt
der Mann, der jetzt plötzlich wie ein Stand-
up-Comedian im Licht eines einzelnen
Scheinwerfers steht, „Wir befinden uns al-
le im freien Fall.“ An dieser Stelle des Tex-
tes breitet der Mann die Arme aus, als ob er
vom Himmel stürzen würde – oder das wür-
de der Mann vielleicht tun, wenn dieser
Theaterabend wirklich stattfinden könnte,
aber das kann er nicht mehr. „Keiner weiß,
was kommt“, sagt der Mann im Scheinwer-
ferlicht. „Ich habe keine Einkünfte mehr.
Es bricht alles zusammen. Ohne Hilfe halte
ich das hier noch 90 Tage durch, und was
kommt dann? Und was kommt überhaupt?
Was, wenn sie die Stadt zumachen? Was,
wenn die Ausgangssperre kommt? Natür-
lich kommt die Ausgangssperre. Was wird
aus uns? Und wovon sollen wir leben?“
Die Theater in Deutschland sind offi-
ziell bis nach Ostern geschlossen. Die Zahl
der Covid-19-Erkrankten und der unter
Beobachtung stehenden Personen wächst
weiter exponentiell, was die Vermutung
sehr nahelegt, dass die Theater in Deutsch-
land auch noch lange geschlossen bleiben
werden. Letzte Meldung: Theatertreffen in
Berlin – abgesagt. Und das wäre erst im
Mai gewesen, also in sechs Wochen. Alle
laufenden Vorstellungen sind abgesagt.
Der Vorhang – oder auch „der Lappen“, wie
Theaterleute intern den in Wirklichkeit so
magischen Stoff nennen, der die Realität
des Zuschauerraums von der Magie der
Bühne trennt – bleibt unten. Und dabei gilt
doch unter Theaterleuten wie im Zirkus
wie bei allen anderen darstellenden Künst-
lern der Welt die eine, einzige Regel: Der
Lappen muss hochgehen, the show must
go on – selbst wenn wir gerade vom Seil ge-
fallen sind oder eine Erkältung haben. Wir
leben vom Spiel, und keiner von uns kann
sich eine Pause leisten. „Freischaffende“
Theaterkünstler sind nicht die Leute, die
„Rücklagen“ schaffen, dafür reicht das Ein-
kommen nicht. The show must go on. Die-
se Regel ist nun außer Kraft gesetzt. Still-
stand. No show anymore. Der Albtraum
jedes Theatermachers ist eingetreten.
All die vielen „freien“ Künstler, all die
Menschen, die bisher unabhängig im
Schauspiel, im Musik- und Tanztheater, im
Zirkus oder Varieté oder wo auch immer
auf und hinter der Bühne ohne Festanstel-
lung gearbeitet haben und von befristeten
Gastverträgen und Abendgagen lebten, ha-
ben über Nacht ihre Existenzgrundlage ver-
loren und werden sehr, sehr, sehr schnell,
bereits innerhalb weniger Wochen auf
staatliche Hilfe angewiesen sein. Miete und
Krankenversicherung und Telefon müssen
weiter bezahlt werden, ganz zu schweigen
von den Einkäufen für die Familie.
Anders als im Kino oder in der Prosa ist
im Theater für Dystopien eher wenig Platz.
Es brechen in Theaterstücken selten Pande-
mien aus, ganz anders als im Kino. Im Kino
wimmelt es seit jeher von trotteligen Zom-
bies und globalen Virenausbrüchen. War-
um hat dieses Genre nicht das Theater
erreicht? Weil das Theater nicht von den
Untoten handelt, sondern von den Leben-
den, von uns, mit all unseren Ängsten und
Hoffnungen und Sehnsüchten. Das Thea-
ter ist ein Ort der Freiheit, des Dialogs, der
Zusammenkunft. Theater, egal wo, ob in
Bamberg oder in Berlin oder in München
oder in Wien oder in Würzburg oder in Kiel
ist ein Ort, an dem sich das Leben an sich
feiert, an dem Menschen sich versammeln,
weil dort andere Menschen für sie spielen,
weil über die Bühne und den Text die Ge-
sellschaft mit sich selbst in einen Dialog
tritt, etwas teilt, und das ist, um es mit ei-
nem einfachen Wort zu umreißen, schlicht
und einfach groß. Theater – ob im Staats-
schauspiel oder in der freien Szene – ist das
Gegenteil von Vereinzelung.
Diesen Ort, diese uralte Institution, die
ein entscheidender Teil unserer kulturel-
len Identität ist, haben wir jetzt, bis auf Wei-
teres, verloren.
Dabei erschien das Theater doch nahe-
zu unzerstörbar, denn es braucht so gut
wie nichts, es braucht kein Dach und kei-
nen Strom, Theater ist im Gegensatz zu
Radio, Fernsehen, Film und Internet so et-
was wie ein analoger Dinosaurier und Para-
diesvogel gleichzeitig, charmant, ruppig,
schlecht erzogen, eitel, manchmal aufge-
blasen und hohl, bisweilen aber auch er-
schreckend aufrichtig und ehrlich und not-
wendig, in seiner grundsätzlichen Anlage
very old school, oft aber auch maßgeblich
beteiligt an der permanenten Weitererfin-
dung der Moderne.
Theater macht sich schnell unbeliebt,
vor allem in Diktaturen, denn im Theater
werden Geschichten erzählt – und Ge-
schichten handeln von Veränderung. Thea-
ter ist wichtig.
Es ist schwer, ein Theater in einen
stromlinienförmigen, große Gewinne ab-
werfenden Betrieb zu verwandeln. Theater
kann Geld erwirtschaften, aber es muss
sich als Spiegel der Gesellschaft auch Risi-
ken erlauben dürfen, sonst verkommt es.
Theater braucht Schutz, und die Leute, die
Theater machen, brauchen Schutz, sonst
landet die Gesellschaft in der Entertain-
mentwüste, und genau in diese Wüste
schickt uns jetzt Covid-19.
Das Virus übernimmt das Regime, und
die Regeln dieses Regimes bedeuten das
Ende des Lebens, das wir hierzulande ken-
nen. Das Virus schickt uns nach Hause. In
die Einsamkeit, wenn nicht sogar in die
Quarantäne. Von nun an herrscht Ver-
sammlungsverbot.
Trotzdem suchen die Menschen natür-
lich weiter die Gemeinschaft, und dabei
stolpern sie durch das Internet: Wir verfol-
gen die Nachrichten im Zwanzig-Minuten-
Takt. Wir teilen rührende oder bewegende
oder lustige oder empörende Dinge auf
Instagram und Facebook: In Krankenhäu-
sern werden Atemmasken und Desinfekti-
onsmittel gestohlen, unter anderem auf
einer Kinderkrebsstation. Jemand will ber-
geweise Klopapier kaufen, aber die Kassie-
rerin macht nicht mit. Es fällt das lustige
Wort „bekloppt“, lange nicht gehört. Je-
mand soll versucht haben, 50 Kilo Mehl zu
kaufen. Hat er auch an die Hefe gedacht?
Leute stehen in Italien auf Balkonen und
machen Musik. Ganz Madrid applaudiert
gleichzeitig abends um 22 Uhr dem medizi-
nischen Personal der Stadt. Viele Men-
schen weinen. Donald Trump will einen –
potenziellen – deutschen Impfstoffherstel-
ler mit viel Geld in die USA locken. Und
sonst? Kursabsturz, Schließung der Börse.
Flughunde könnten das Virus auf den Men-
schen übertragen haben. Oder Fledermäu-
se. Was sind Flughunde? Bram Stoker und
H. P. Lovecraft scheinen sich im Jenseits
zusammengetan zu haben.
Alle wischen an ihren Telefonen herum,
und alle warten auf die ersten Anzeichen:
Halsweh und Fieber.
Kein Fußball mehr. Die Clubs in Berlin
geschlossen, warum ist das nicht schon vor
zwei Wochen passiert? Die Kurve der Infi-
zierten geht nach oben. Die Weltviruskrise
verdrängt alle anderen Themen. Gerade
hatten wir noch über die Klimakatastro-
phe und den mörderischen Rechtsradika-
lismus in diesem Land gesprochen. Gerade
ging es noch um das Massaker in Hanau.
Alle haben Angst, manche mehr, die an-
deren weniger, manche geben sich trotzig,
ironisch, bei anderen geht es bereits um
nicht weniger als Leben und Tod.
Und alle stehen plötzlich vor dem ganz
persönlichen:Was passiert, wenn.Was pas-
siert, wenn es nichts mehr in den Super-
märkten gibt, nein, nein, nein, es besteht
kein Grund zur Sorge, die Versorgungslage
ist ungefährdet, die Grundnahrungsmittel-
versorgung in Deutschland zu 100 Prozent
gedeckt, Schweinefleisch und Kartoffeln
gibt’s immer und wird es immer geben,
kann sein, ja, aber: Die Regale im Super-
markt waren gerade ziemlich leer. Das ein-
zige Produkt, das selbst im Angesicht der
Viruskrise niemand haben will, ist eine be-
stimmte Sorte von kurzen Eiernudeln.
Interessantes Phänomen in Berlin,
nördlicher Prenzlauer Berg: Je teurer die
Supermärkte, desto leerer die Regale.
Rewe: leer gekauft. Bei Lidl gibt es alles.
Verarmungsängste sind unter freien
Theatermachern absolut nichts Ungewöhn-
liches. Alle machen Notfallpläne, für wenn
die „Rücklagen“ nicht mehr reichen. Frei-
berufler und Selbstständige erhalten kein
Arbeitslosengeld. Alle fragen sich: Was pas-
siert, wenn das Konto leer ist?
Die Theater sind zu.
Wer kann, soll zu Hause bleiben.
„Geschlossen“ steht an den Türen des Ki-
nos an der Ecke. Die Welt verwandelt sich
in einen Archipel der Einsamkeiten. Das
Virus schickt uns alle in die Entertainment-
wüste der Streaming-Anbieter. Überall vor
allem Männer mit Waffen. Ben Affleck und
Mark Wahlberg zerschießen oder retten
gleichzeitig die Welt, nur Jean-Luc Picard
ist noch netter, als er es sowieso schon war,
ein „Troglodyt“ schneidet mit einem aus
Knochen geschnitzten Beil Kurt Russells
Bauch auf und steckt einen glühend hei-
ßen Flachmann direkt in seine Leber. Wir
müssen auf uns aufpassen, sehr sogar.
Vollkommene Stille im vollen Zuschau-
erraum. Nur manchmal hüstelt jemand
unterdrückt.
„Danke“, sagt der Mann im Licht des ein-
zelnen Scheinwerfers noch zum Publikum,
„danke für alles. Es war schön mit Ihnen.
Mit euch. Ich hoffe, wir sehen uns alle bald
wieder. Passt gut auf euch auf.“
Und dann erhebt sich ein wütender,
trotziger, Mut machender, das Leben fei-
ernder, solidarischer, großer Applaus, der
aber nicht dem Mann auf der Bühne gilt,
sondern dem Theater und seinem Publi-
kum an sich. Oder: Dann würde sich viel-
leicht ein wütender, trotziger, das Leben fei-
ernder Applaus erheben, aber in dem in
Wahrheit menschenleeren Theater bleibt
es still. Und es wird dort auch noch lange
still bleiben. Der verzweifelte Mann steht
in einem Geistertheater. Niemand ist da.
Nicht einmal er selbst.
Roland Schimmelpfennig, geboren 1967, schreibt
Theaterstücke, Romane und Hörspiele, das Münch-
ner Residenztheater brachte zuletzt „Der Riss
durch die Welt“ auf die Bühne. Er ist der meist-
gespielte deutsche Dramatiker der Gegenwart.
Hoffnungsvoll
Astronauten sind faszinierend. Sind sie auch Vorbilder
für die Quarantäne? Kann man von ihnen lernen,
wie man auf engstem Raum zusammenlebt? Seite 48
FOTO:THE CORRESPONDENT
Die letzte Vorstellung
Was passiert, wenn die Theater schließen und Künstler wie Zuschauer auf
sich selbst zurückgeworfen sind? Beobachtungen eines Dramatikers
von roland schimmelpfennig
DEFGH Nr.68, Samstag/Sonntag, 21./22. März 2020 45
GESELLSCHAFT
Wir haben das Theater verloren.
Dabei erschien es doch bis eben
noch unzerstörbar
Der Kunst hat das
Virus ihre Lebensgrundlage
entzogen: Sie hat
kein Publikum mehr.
FOTO: GETTYIMAGES/IMAGO/COLLAGE SZ
„Ich habe keine Einkünfte
mehr“, sagt der Mann.
„Es bricht alles zusammen.“
Das Virus schickt uns in die
Entertainmentwüste im Netz.
Überall Männer mit Waffen
Vielversprechend
FOTO:IMAGO IMAGES/ANDRE POLING
Raumgreifend
Weil sich viele Menschen gerade nicht treffen
können, wird das gute alte Telefongespräch
wieder wichtig. Wie schön! Seite 47
Ruf doch mal an