Süddeutsche Zeitung - 21.03.2020

(C. Jardin) #1
von philipp bovermann

J


annis Niewöhner hat ein Problem,
er sieht zu gut aus. Schöne Men-
schen überstrahlen sich ja leicht
selbst, sie brauchen also einen
Plan, um das zu verhindern. Nie-
wöhner demonstriert erst mal jenen Cha-
rakterzug, mit dem einem in Berlin alle
Türen offenstehen: souveräne Verpeiltheit.
Der 27-Jährige kommt ein paar Minuten zu
spät zu dem Treffen in der Pizzeria in Ber-
lin-Lichtenberg, „casually late“, wie man in
den lokalen Szenebezirken sagt, entschul-
digt sich aufwendig und scheitert während-
dessen beim Versuch, die Pizzeria zu betre-
ten, denn die hat noch gar nicht auf.
Was nun? Niewöhner schaut sich um, er
kennt die Straße, das erfrischend unschi-
cke, von Dönerbuden geprägte Lichten-
berg ist sein Kiez, noch immer. Bis vor Kur-
zem hat er hier gewohnt, in einer WG mit
zwei befreundeten Studenten, bis er dann
doch in eine eigene Wohnung umgezogen
ist, weil er, nun ja – allmählich ein Star ge-
worden ist, einer der bekanntesten Schau-
spieler der Generation unter dreißig, auf
dem direktem Weg in die erste Riege in
Deutschland, sofern er dort nicht längst
angekommen ist.


Ein paar Tage nach dem Gespräch wird
er mal wieder einen Award gewinnen, dies-
mal den Askania Award als „Shooting Star“.
Für seine Rolle in der Amazon-Serie „Beat“
über einen Berliner Techno-Promoter, der
im Tanz durch die Delirien der Nacht in ei-
nen kriminellen Sumpf hineintaumelt, war
er international für einen Emmy nomi-
niert. Er spielt häufig solche Rollen: Idealis-
ten, die hungrig sind, die glühen und strah-
len, dabei aber Gefahr laufen, der Sonne zu
nahe zu kommen. Wer sie anfasst, ver-
brennt sich an ihnen.
Am 8. und 10. April ist er im Ersten in
„Der Überläufer“ zu sehen (ab 1. April in der
ARD-Mediathek), einer Verfilmung des Ro-
mans von Siegfried Lenz. Als Wehrmachts-
soldat, der die Seiten wechselt, aber dann
nicht aufhört, zu zweifeln und die Seiten zu
wechseln. Auch nicht in seiner Ehe. Immer-
hin ist ja gerade auf das Fernsehen noch
Verlass, während die Kinos wegen der Coro-
na-Krise längst geschlossen haben. Was
auch zur Folge hat, dass der Film „Narziß
und Goldmund“ nach dem Kultroman von
Hermann Hesse, in dem der gebürtige
Krefelder den ungestümen Klosterschüler
Goldmund spielt, ohne Beachtung blieb.
Und die Dreharbeiten für Detlev Bucks Ver-
filmung von „Felix Krull“ nach dem Klassi-
ker von Thomas Mann mit Niewöhner in
der Hauptrolle erst einmal verschoben
sind. Das Virus hat jetzt auch das Film-
geschäft zum Erliegen gebracht.
Beim gemeinsamen Streifzug durch Ber-
lin kann man sich aber noch frei bewegen,
und Niewöhner hat eine Idee. Wie wär’s
denn mit dem „Späti“, dem 24-Stunden-
Spätkauf-Laden, hier gleich neben der Piz-
zeria? „Ist doch schön!“ An dem Tisch da-
vor könne man rauchen. Er geht rein, um
zwei Flaschen Mate-Limo zu kaufen,
kommt raus, begutachtet kurz den Journa-
listen und sagt, mit einem strahlenden Lä-
cheln: „Übrigens, geile Jacke!“ Er selbst
trägt eine schlabberige Jeans, eine simple
schwarze Winterjacke, eine graue Baum-
wollmütze – so wie sich vielleicht ein Zivil-
polizist anziehen würde, beim Versuch,
möglichst „normal“ auszusehen. Er zündet
sich eine Zigarette an. Niewöhner braucht
keine geile Jacke.
Überrollt von so viel zutraulicher Nettig-
keit muss man sich erst mal sortieren. So
fällt einem ein Satz ein, den der Produzent
Bernd Eichinger einmal über einen ande-
ren jungen Mann mit einem besonders net-
ten Grinsen sagte, nachdem er ihn 1991 in
„Manta Manta“ gesehen hatte – einen ge-
wissen Til Schweiger: „Der Junge hat Star-
potenzial!“ Ein Satz, so einfach und trotz-
dem so voller Geheimnis. Was verleiht ei-
nem Menschen eigentlich „Starpotenzial“?
Und kann man darüber etwas lernen, wenn
man Jannis Niewöhner beobachtet?
Irgendwas scheint es schon mit dem Äu-
ßeren zu tun zu haben, allerdings nicht nur
mit den Proportionen von Nase, Mund, Au-
gen, dem Schwung des Kiefers und so wei-


ter. Bei Niewöhner ist alles am richtigen
Fleck, das schon. Aber was hat er da eigent-
lich für einen gelben Fleck an der Kante
seines Schneidezahns?
„Ach, das!“ Er grinst, zeigt das gelbe Ir-
gendwas her. „Ich weiß nicht, einfach ’ne
gelbe Stelle, die da schon immer irgend-
wie ... Zahnschmelz nennt sich das, glaub
ich! Vielleicht lass ich es irgendwann mal
wegmachen. Ich dachte immer, okay, geht
noch.“ Ein Markenzeichen? „Klar, aber
nicht so cool. Stell dir vor, diese Wahnsinns-
nase bei Gérard Depardieu! Dieser Wahn-
sinnszahnschmelz bei Jannis Niewöhner!“
Wieder dieses Lächeln. Es gab eine Zeit,
da schien Niewöhner nur aus diesem offe-
nen, trotzdem irgendwie geheimnisvollen
Lächeln zu bestehen. Bekannt wurde er vor
allem mit der Edelstein-Trilogie, die er von
2013 bis 2016 drehte, einer Filmreihe für
Teenager-Mädchen, die sich wünschen,
ein „besonderes Gen“ zu besitzen, mit ei-
nem sanften, sie beschützenden Adligen
durch die Zeit reisen zu können – mit ei-
nem Mann wie Jannis Niewöhner. Über
ähnliche Rollen, etwa in den „Ost-
wind“-Pferdefilmen, entstand ein Bild von
ihm, das zwar irgendwie männlich war,

aber so, wie stolze Araberhengste irgend-
wie männlich sind: auf eine harmlose
Weise. Im Teeniefilm „Doktorspiele“ gab
er, diesmal für ein männlich pubertieren-
des Publikum, den coolen Schönling, auf
den man neidisch ist, weil er so gut mit
Frauen kann – der sich aber letztlich als
schwul entpuppt. Seinem Lächeln fehlte
der „Zahnschmelz“.
Bei Til Schweiger lief es damals genau
andersherum. Der Anfang seines festen
Rollenbildes war „Der bewegte Mann“ im
Jahr 1994. Darin spielte er einen von allen
Frauen angeschmachteten heterosexuel-
len Typen, untergebracht in einer Schwu-
len-WG; der Kontrast machte seine Hetero-
sexualität gewissermaßen zu seiner
definierenden Charaktereigenschaft, ver-
stärkt durch Machosprüche. Nur so konnte
die deutsche Öffentlichkeit damals offen-
bar männliche Schönheit genießen: Wenn
klipp und klar war, dass der Typ hetero ist,
und zwar so was von! Gut aussehen, schön
sein, sich am Ende noch um seinen Körper
kümmern, das hatte damals gefälligst nur
beim „schönen Geschlecht“ was zu suchen.
Zwanzig Jahre später, die Gesellschaft
war jetzt eine andere, rasierte Niewöhner

sich die Haare ab. Ihn habe das damals echt
sauer gemacht, sagt er. Immer wieder sei
er zu Castings gegangen, wo ihm gesagt
wurde, er sei zu sauber, zu sehr der Sunny-
boy. „Ich wusste, da ist noch so viel mehr
Energie.“ Für den Film „4 Könige“, in dem
er für die Rolle eines jungen Mannes mit
Aggressionsproblemen vorsprach, er-
schien er also mit geschorenen Haaren und
einer Bomberjacke zum Casting. Er brüllte
herum, verschoss bohrende Blicke, schüch-
terte ein. Und bekam die Rolle. „Zu glau-
ben, man müsse als Schauspieler Ab-
gründe haben, ist auf jeden Fall die falsche
Herangehensweise“, sagt er. „Ich glaube
einfach, dass jeder welche hat.“
Irgendwann habe er zu seinem Vater ge-
sagt, er wolle nicht immer der Strahle-
mann sein. Worauf sein Vater entgegnet ha-
be: „Das musst du auch nicht. Ich sage dir,
du bist trotzdem ein Mensch, der ganz viel
Glück empfinden kann.“
Dieser einfache, kleine Satz, der habe ge-
zündet, sagt Niewöhner. Immer wieder
lenkt er das Gespräch auf seine Eltern, dar-
auf, was für tolle Menschen sie seien, vor al-
lem seinen Vater bewundert er. Der hat ein
Kindertheater in Duisburg mit aufgebaut –
das „Kom’ma“-Theater, das so heißt, weil
der kleine Jannis „Kom’ma!“ rief, also
„Komm mal!“, während der Theaterleiter
telefonieren wollte. Sein Vater habe eine
„wahnsinnige Strahlkraft“ und sehe in je-
dem nur das Gute. „Das gibt’s ja nicht so
oft, dass Menschen so im Reinen mit sich
sind. Und das ist der irgendwie. Da bin ich
einfach froh, dass ich der Sohn dazu bin.“
Dort sitzt er heute also, dieser Mensch,
der „ganz viel Glück empfinden kann“. Ein
kleines bisschen klingt das, was er erzählt,
natürlich zu schön, um wahr zu sein – aber
vielleicht ist es ja genau das, was Menschen
strahlen lässt, ihnen „Starpotenzial“ ver-
leiht: eine gesunde Mischung aus Men-
schenliebe, die man nicht heucheln kann,
und obendrauf ein bisschen freier Über-
schuss, ein unbeschwerter Wille „zu tun,
als ob“. Auf diese Weise beschreibt Niewöh-
ner seine ersten magischen Momente im
„Kom’ma“-Theater, als er selbst auf der
Bühne stand und ahnte, dass er sich in alles
verwandeln kann, dass er sich in alles ver-

wandeln darf, und seine Eltern wachen
über ihn, niemand weist ihn zurecht.
Die Pizzeria hat inzwischen geöffnet.
Niewöhner begrüßt das Personal kumpel-
haft, klopft auf ein paar Rücken, er hat hier
früher häufig gegessen. Wenn er steht, mit
geöffneter Jacke, und man die Muskeln un-
ter dem grauen Fleecepullover ahnt, wirkt
er größer, derber. Im Außenbereich unter
einem Pavillonzelt, neben einem Heizstrah-
ler, bestellt er eine Pizza Parma ohne Par-
maschinken, dafür mit Kirschtomaten. Er
hat Hunger und mampft genüsslich vor
sich hin, spricht über „magische“ Momen-
te, über „tolle“ Menschen, sagt Sätze wie:
„Ich glaube daran, dass man sich durch In-
teresse am anderen viel intensiver begeg-
nen kann“ – natürlich ist er auch Profi, in
Interviews sagt man so was halt gern mal.
Natürlich tut er ein bisschen so, „als ob“.
Aber er denkt nach, bevor er antwortet,
gibt sich sichtlich Mühe, keine Phrasen zu
dreschen.

Manchmal wirft er einem Blicke zu, die
zu sagen scheinen: Ich meine das übrigens
wirklich so; es ist zwar die schönste
mögliche Wahrheit, aber trotzdem eine
Wahrheit. Dann strahlt er wieder und faltet
Pizza Parma ohne Parmaschinken auf
seiner Gabel.
Draußen vor dem Lokal bei einer Zigaret-
te spricht er noch über Schauspieler, die er
bewundert. Ja, mit Til Schweiger werde er
immer wieder verglichen. „Könnt anner
Stimme liegen, nä“, näselt er. Dann fallen

ihm aber schnell noch zwei weitere Namen
ein: Joaquin Phoenix und Ryan Gosling. An
Letzterem fände er so interessant, dass die-
ser in einem Frauenhaushalt aufgewach-
sen sei und es offenbar viele nicht so tolle
Männer gab, die seine Mutter bedrängten.
Weshalb er zu ihrem Beschützer geworden
sei, später auch der Beschützer von Frauen
auf der Leinwand.
„Die Rollen, die ich bei ihm am meisten
mag, haben so was Ritterliches“, sagt Nie-
wöhner. „Der ruhige, zurückgezogene Be-
schützertyp.“ Den spielt Niewöhner eben-
falls häufig. Auch Ryan Gosling startete als
Kinderdarsteller und dann als Teenie-Star.
Auch er wurde anfangs verspottet, was er
doch für ein Hübscher sei, halb Sixpack,
halb Honiglächeln, ein Mann für Frauen,
ein Frauenmann sozusagen, also kein rich-
tiger Mann. Irgendwann hörte das Geunke
auf, obwohl Gosling sein Image nicht we-
sentlich verändert hatte. Möglicherweise
war ihm der Zeitgeist hinterhergewachsen.
Sollte Jannis Niewöhner, der „Shooting
Star“, die Starschnuppe, nun in eine perma-
nente Umlaufbahn um die Kinolandschaft
eintreten, wäre das auch im Til-Schweiger-
Land ein Bekenntnis zu einem Typ Mann,
der männlich sein darf, ohne zugleich ein
angeblich „liebenswertes“ Macker-Arsch-
loch sein zu müssen. Oder man findet ihn
halt zu glatt, zu lieb, immer noch. Feminis-
ten sollten die Diskussion um Niewöhner
jedenfalls im Auge behalten.
Denn die Geschichte dieses neuen Ty-
pus Mann fängt gerade erst an. „Ich kann
so viele Fragen noch gar nicht klar beant-
worten“, sagt Niewöhner. „Dann denke ich
mir, warum weiß ich das eigentlich nicht,
wer bin ich denn eigentlich?“
In der Woche nach dem Gespräch wird
er in einem schwarzen Anzug über den ro-
ten Teppich der Berlinale schreiten und
lächeln, lächeln. Seine Eltern werden vor-
beikommen, zusammen werden sie auf die
Premierenparty des Sozialdramas „Kids
Run“ gehen, in dem Niewöhner zu sehen
ist. Es ist sein 48. Film, inzwischen hat er
schon vier weitere gedreht, aber diesmal
ist er besonders gespannt, was seine Eltern
sagen: Er spielt darin das erste Mal einen
Vater.

Dann denke ich mir,


warum weiß ich


das eigentlich nicht,


wer bin ich


denn eigentlich?“


Wir hören wieder Stimmen, und das ist aus-
nahmsweise eine gute Nachricht. Denn am
liebsten hören wir in diesen Stunden die
vertrauten Stimmen unserer Freunde, die
noch nie weiter von uns entfernt waren als
im Augenblick, auch wenn sie in der glei-
chen Stadt wohnen, die einen um die Ecke,
die anderen in einem ferneren Bezirk. Die
großen Stimmenübertragungs-Unterneh-
men Vodafone und Telekom merken jetzt,
dass die Zahl der Telefonate größer gewor-
den ist als in den Zeiten vor dem Virus.
Kleiner Rückblick auf hustenfreie Ta-
ge: Parallel zur Abnahme der Telefonate
war unser Hochmut stark angestiegen, un-
ser Hochmut gegenüber den schönen alten
Errungenschaften der Technik, zu denen
das Telefon natürlich gehört. Wozu über-
haupt noch telefonieren, wenn alle Men-
schen dieser Erde das, was sie einander sa-
gen möchten, auch knapp und schriftlich
mitgeben können? Wenn wir mitten im
Sturm sind, im Sturm der Daten, Verabre-
dungen, Verpflichtungen und Konferen-
zen, können wir auf jede weitere Stimme
gut und gerne verzichten. Den Freund, die
Freundin sehen wir ohnehin heute Abend
in der Paris Bar, da reichen ein paar SMS-
Koordinaten und ein eilig hinterherbuch-
stabiertes „Ich freue mich“.


Leider sehen wir niemanden heute
Abend, weder in der Paris Bar noch im
Schumann’s noch an einem anderen Ort,
wo Freunde trinkend neben Fremden ste-
hen. Wir würden die Paris Bar oder das
Schumann’s ja gerne bei uns zu Hause ein-
richten, können aber nicht garantieren,
dass der gesetzlich geforderte Mindestab-
stand eingehalten wird. Deshalb rufen wir
an oder wir werden – weil das böse Virus ja
auch einen kleinen freundlichen Bruder
hat, den Sozialkontakte-Sehnsuchts-Virus


  • vielleicht sogar angerufen.


Und dann ist es wieder ein bisschen so
wie früher, als man im Telefon ein kleines
imaginäres Konversationskabinett gese-
hen hat. Die Quasselstrippe, erinnert sich
noch jemand an dieses hübsche Wort? Es
hatte natürlich eine Referenz zum Telefon,
das an einer Strippe hing, die das Quasseln
geduldig und vorurteilsfrei in die Welt ver-
schickte. Sie taugte seinerzeit als, heute
würde man sagen: misogyne Karikatur.
Die heute nicht ganz zu Unrecht vergesse-

ne Komikerin Gisela Schlüter machte ein
Geschäftsmodell daraus und wurde zur
„Quasselstrippe der Nation“ erhoben.
Das Telefon jedenfalls ist uns jetzt so
lieb wie schon lange nicht mehr. Und weil
es heute mit Facetime oder Whatsapp sozu-
sagen zu den bildmächtigen Verfahren ge-
hört, heilt uns das ins Visuelle verlängerte
Fernsprechgerät von Fernweh und Sehn-
sucht nach dem anderen, ein bisschen je-
denfalls. Hier und da ist zu lesen, dass eine
Krise wie die gegenwärtige viele Men-
schen dazu veranlasst, die Nachteile der
Globalisierung nun besonders schwer wie-
gen zu lassen und vermehrt darauf zu set-
zen, dass die alten Tugenden des Hier und
Jetzt wieder in ihr Recht gesetzt werden.
Wenn es noch lange dauert, werden wir
vielleicht sogar ein Telefonbänkchen in
den Flur stellen, schön mit grünem Ve-
lours überzogen, und wir werden stunden-
lang dort sitzen und quasseln. Wir werden
plötzlich erkennen, dass die Freundin, de-
ren stimmliche Schrillheit wir in der Paris
Bar oft belächelt haben, eigentlich ein schö-
nes samtenes Timbre in ihre Stimme legen
kann, und der tiefe Bass von Ulf kommt
jetzt erst richtig zur Geltung, er beruhigt
und schützt uns wie der Zottelbär von Ja-
nosch. Wir werden, nunmehr vollends sen-

timental geworden, zu überzeugten Telefo-
nikern und schaffen uns den Bakelit-Appa-
rat von Manufactum an, weil wir uns noch
mehr in die alte Fernsprechkultur zurück-
gewöhnen wollen.
Aber vielleicht sind wir auch einfach
nur erstaunt über uns selbst, weil wir spü-
ren, wie viel uns die Stimme des anderen
bedeutet. Und haben wir, den Hörer in der
Hand, nicht plötzlich eine besondere Emp-
findsamkeit für die Zwischentöne in der
Rede unserer Freunde entwickelt? Und wir
selber? Reden wir nicht auch anders, freier
und behutsamer zugleich, weil niemand
das, was wir sagen, an unserer Mimik über-
prüfen kann?

Während wir so reden und zuhören,
kommt uns ein beschämender Gedanke:
Haben wir das Telefon, das allzeit verfüg-
bare, in den letzten Jahren nicht unbotmä-
ßig als schnelles Kommunikationsmittel
missbraucht oder zumindest verbraucht,
so lieblos wie wir mit dem Telefon umge-
gangen sind? Jetzt, da wir einander nicht

mehr sehen können, möchten wir das Tele-
fon nicht mehr so en passant im Bus oder
in der Bahn (das geht ja ohnehin nicht
mehr) als Gerät zum Hineinbrüllen nut-
zen, sondern wir möchten in aller Ruhe da-
sitzen und reden, so als hätten wir ein leib-
haftiges Gegenüber. Und haben wir das
nicht auch, selbst wenn wir es nicht sehen?
Zu Zeiten unserer Großeltern hieß das
Telefon auch „Apparat“, weil es eines der
wenigen technischen Geräte im Haushalt
vorstellte. „Am Apparat“ lautete die Ant-
wort auf die Frage, ob man mit Herrn oder
Frau Sowieso spreche. Auf einen solchen
distinguierten Ausdruck der Befremdung
und Distanz kämen wir heute natürlich
nicht mehr.
Das Handy ist für uns kein Apparat, son-
dern eine Verlängerung der Extremitäten
und ein erweitertes Sinnesorgan. In der
Zeit der Krise und der Einsamkeit müssen
wir es mit Fantasie und Assoziation neu ka-
librieren, denn zum Telefonieren braucht
es Vorstellungskraft. Die Stimme des ver-
trauten Freundes rückt uns dann sein Bild
vor Augen, und wir müssen aus seinen Wor-
ten und seiner Stimme schließen, ob er
noch Lust hat weiterzuplaudern. Oder ob
er jetzt nicht doch auch genug von unserer
Stimme hat. hilmar klute

Die Kunst des Lauschens:
Vielleicht stellen wir auch wieder
ein Telefonbänkchen in den Flur Zum Telefonieren braucht

man kein Smartphone,
sondern Vorstellungskraft

Glück


im


Spiel


Jannis Niewöhner zählt


zu den besten jungen


Schauspielern des Landes.


Unterwegs mit einem,


der gerade lernen muss,


was es heißt, ein Star


zu sein


Zum Vorsprechen rasierte er sich


die Haare ab, damit man ihm


auch mal Abgründe zutraute


DEFGH Nr.68, Samstag/Sonntag, 21./22. März 2020 GESELLSCHAFT 47


Ruf einfach an


Das Telefongespräch hatte schon fast ausgedient. Jetzt ist es wichtiger denn je, eine menschliche Stimme zu hören


Er macht auch in Uniform eine gute Figur:
Jannis Niewöhner (re.) und Sebastian Urzendowsky im
ARD-Zweiteiler „Der Überläufer“, der Anfang April läuft.
FOTOS: IMAGO STOCK, NDR/DREAMTOOL ENTERTAINMENT

Auch wenn es solche Wählscheiben nur
noch im Technikmuseum gibt: In diesen
Zeiten greift man wieder gerne zum Hö-
rer. FOTO: ALL MAURITIUS IMAGES
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