Süddeutsche Zeitung - 21.03.2020

(C. Jardin) #1

DEFGH Nr.68, Samstag/Sonntag, 21./22. März 2020 HISTORIE GESELLSCHAFT 51


W


umms. Es muss ein dump-
fer Knall gewesen sein, als
der Flieger auf den Boden
krachte. Dampf stieg aus
der sumpfigen Erde auf.
Als die beiden Insassen aus der zerbeulten
Maschine herauskrochen, kamen auch
schon die ersten Menschen herbeigerannt.
Ein paar irische Offiziere, einer fragte: „Je-
mand verletzt? Und wo kommt ihr eigent-
lich her?“ „Amerika“, antwortete einer der
Verunglückten. Da lachten die Iren.
Es war im Sommer 1919, der Erste Welt-
krieg war erst ein halbes Jahr vorüber. Wäh-
rend die Staaten über Reparationen und
Gebiete verhandelten, suchte die junge
Luftfahrtindustrie, die durch den Krieg
enorm gewachsen war, nach Alternativen.
Einige Firmen kündigten kühn die Eröff-
nung transatlantischer Fluglinien an. Da-
bei hatte es bisher noch kein Pilot ge-
schafft, den Atlantik ohne Halt zu überflie-
gen. Doch aus den klapprigen Fluggeräten
der ersten Stunde waren schon Maschinen
wie der englische LangstreckenbomberVi-
ckers Vimygeworden, ein solch riesiger
Doppeldecker lag nun im irischen Sumpf.
Wie konnten die lachenden Iren auch
ahnen, dass die beiden Männer vor ihnen,
der Pilot John Alcock und der Navigator Ar-
thur Whitten Brown gerade Geschichte
geschrieben hatten. Dass sie die ersten
Menschen waren, die das große Meer ohne
Zwischenlandung überquert hatten. Erst
als einer der beiden einen Postsack aus
dem Wrack zog, mit Briefen aus Amerika,
da hörten sie auf zu lachen.


Die Offiziere nahmen ihre Hände, drück-
ten sie so fest, dass es schmerzte, wie es
Brown später aufschrieb. Jetzt wussten
auch sie, dass sie Zeugen etwas ganz Gro-
ßen geworden waren. Brown, der Naviga-
tor, bekam das alles nur noch wie durch ei-
nen Nebelschleier mit, so geschafft war er.
Kein Wunder. Denn die letzten Stunden
hatten die beiden Männer um ihr Leben ge-
kämpft. Als sie mit ihrem umgebauten
Bomber an der Küste von Neufundland ab-
hoben, war noch alles ruhig gewesen. Kurz
darauf wurde der Himmel immer dunkler,
dichter Nebel zog auf. Die Sonne und das
Meer, an denen sich die Piloten damals ori-
entierten, waren nicht mehr zu sehen, Al-
cock verlor die Kontrolle. Plötzlich segelte
das Flugzeug in hohem Tempo nach unten.
Aber kurz unterhalb der Wolkendecke sah
er den Horizont. Er riss den Steuerknüppel
nach oben. Brown schrieb später, er habe
die Wellen bereits rauschen gehört.
Dann endlich sahen sie die Küste Ir-
lands. Nach 16 Stunden und 28 Minuten
landeten sie – wenig elegant zwar, mit der
Schnauze voran – im irischen Moor.
Aber warum riskierten die beiden Bri-
ten damals ihr Leben? Warum brachen sie
zu dem waghalsigen Abenteuer auf, das
die amerikanische Regierung beinahe ver-
boten hätte, weil sie es für Selbstmord
hielt? Ein Grund war sicherlich der Aufruf
in der englischenDaily Mail: 10000 Pfund
versprach die Zeitung denjenigen, die es
als erste nonstop über den Atlantik schaff-
ten. Aber es war auch der Zeitgeist, der Wil-
le, nach dem Krieg neue Wege zu gehen,
der viele Piloten und Navigatoren wie sie
zu halsbrecherischen Versuchen trieb.
Wenig verwunderlich, dass nur ein paar
Wochen später gleich die nächste Atlantik-
überquerung über den Luftweg glückte –
dieses Mal mit einem Flugschiff. Die gasge-
füllten Ballons, an denen eine Gondel ange-
bracht war, wurden schon im Krieg einge-
setzt. Nun sollte dasR34eine Gruppe Rei-
sender – darunter ein blinder Passagier
und eine Katze – nach Amerika bringen.
108 Stunden brauchte das Luftschiff vom
schottischen East Fortune bis New York –
und kam damit immerhin eineinhalb Tage
früher an als der schnellste Ozeandamp-
fer. Dafür mussten die Passagiere beim
Komfort große Abstriche machen: Es wur-
de eisig kalt, als das Luftschiff ein Unwet-
ter durchflog, Wasser lief in die Gondel. Im
Sturm wurde dasR34mehr als 100 Meter
in die Luft gerissen und sackte im nächs-
ten Moment rapide ab. Nach weiteren ban-
gen Stunden landete das Luftschiff endlich
auf Long Island. Im Tank war noch Treib-
stoff für vielleicht 20 Minuten.
Wie es in der Kabine eines solchen Luft-
schiffs aussah, wie sich die Insassen ge-
fühlt haben müssen, das zeigt die – nun we-
gen Corona geschlossene – Ausstellung
„Vernetzung der Welt“ im Zeppelin-Muse-
um in Friedrichshafen. Dort steht die ältes-
te erhaltene Gondel eines Zeppelin-Luft-
schiffs, des MarineluftschiffsL30– das
praktisch baugleich zumR34war.
Die Atlantiküberquerungen derVickers
Vimyund desR34gingen als Pionierflüge
in die Geschichte ein. Aber sie waren noch
viel mehr als das: der Anstoß für ein gewal-
tiges Wettrennen über den Wolken, der Be-
ginn einer ganz neuen Ära des Reisens.
Ingenieure und Unternehmer witterten
ihre Chance: Sie wollten möglichst schnell
und in festem Turnus Touristen und Ge-
schäftsreisende über den Ozean bringen.
Also tüftelten sie an immer neuen Model-
len. Als es dann 1927 Charles Lindbergh
mit seinerSpirit of St. Louisvon New York
nach Paris schaffte, bestand kein Zweifel
mehr, dass man den Ozean bald auch regel-
mäßig mit Passagieren auf dem Luftweg
überqueren konnte.
Noch war man sich allerdings unsicher,
welches Flugmittel dafür am besten geeig-
net war: das Flugzeug? Oder das Luft-
schiff? Und wie viele Menschen würde
man überhaupt zwischen den Metropolen
in Europa und Amerika hin- und herbrin-
gen? Schließlich war die Überquerung des
Atlantiks kein leichtes Unterfangen. Oft
brauten sich Gewitter zusammen, es gab
Orkanböen und Schneestürme. Außerdem
gab es keinen Ort der weiten Reise, an dem
sie bei Turbulenzen oder Treibstoffman-
gel zwischenlanden konnten.


„Luftschiffe waren da viel praktischer
als Flugzeuge“, sagt Jürgen Bleibler vom
Zeppelin-Museum. „Sie hatten einen gi-
gantischen Treibstoffvorteil.“ Dieser war
in großen Tanks im Bauch des Schiffs un-
tergebracht und genügte auch für sehr lan-
ge Touren. Damit waren sie deutlich besser
in der Lage, Dutzende von Passagieren
über weite Strecken zu transportieren.
Das wohl erfolgreichste Luftschiff sei-
ner Zeit war das deutscheLZ 127,auchGraf
Zeppelingenannt. Am 11. Oktober 1928 er-
hob es sich über den Bodensee und nahm
zum ersten Mal Kurs auf Nordamerika. Al-
lein der Start war wegen der enormen Grö-
ße des Luftschiffs ein Spektakel. Als „Rie-
sengoldfisch“ sollte der ungarisch-briti-
sche Schriftsteller Arthur Koestler das Luft-
schiff später beschreiben: Er „maß (...) von
der Nase bis zum Schwanz 235 Meter –
mehr als das Doppelte eines Fußballplat-
zes. Er war 35 Meter hoch, so hoch wie ein
zwölfstöckiges Haus oder ein mittlerer
Kirchturm“. Tatsächlich war dasLZ127fast
so lang wie die 1912 gesunkeneTitanic.

Mitfliegen durften ausgewählte Journa-
listen, Künstler, Politiker und ein paar we-
nige Großunternehmer, die sich den Kabi-
nenplatz für 3000 Dollar leisten konnten.
Insgesamt waren es 20 Passagiere – und
40 Besatzungsmitglieder. Die Gondel, die
an dem gasgefüllten Ballon hing, war wie
ein fliegendes Hotel: Im Speisesaal stan-
den Tische, gedeckt mit gestärkten Leinen-
tüchern und eigens angefertigtem Porzel-
lan. Zum Essen gab es Schmorbraten und
Obstplatten – alles frisch zubereitet in der
Bordküche. Schon mittags wurden die ers-
ten Weinflaschen entkorkt: „Man nimmt
ein Glas Bordeaux. Beschwingter vom Er-
lebnis als vom Wein trinken sich die Tische

einander zu. Man fühlt, wie Kamerad-
schaft wächst“, beschrieb es einer der
Passagiere.
Nach dem Essen zogen sich manche
zum Mittagsschlaf in ihre Kabine zurück,
andere nahmen im Salon Platz, an einem
der Fenster. Bei einer Flughöhe von durch-
schnittlich 300 Metern konnte man das
Meer sehen, die Wellen und vorbeifahren-
de Schiffe, die das Flugschiff gewöhnlich
mit lauter Sirene grüßten.
Aber auch die erste Atlantikfahrt des
LZ127verlief nicht ohne Turbulenzen. Als
der Zeppelin über den Azoren von einem
starken Westwind erfasst wurde, schüttel-
te es die Gondel hin und her. Die Passagie-
re waren gerade beim Frühstücken, als das
Luftschiff nach oben gezogen wurde. „Auf
mich kamen Teller, Sahnetopf, Wurst, But-
ter und belegte Brote“, beschrieb es der
preußische Innenminister Albert Grzesins-
ki später: „Kein Wegspringen schützte vor
den einstürzenden Ereignissen!“
Da ahnte noch niemand, dass es noch
schlimmer kommen würde. Der Sturm hat-
te die Stoffbespannung einer Stabilisie-
rungsflosse zerrissen. Das Schiff drohte
manövrierunfähig zu werden. Sogleich
meldeten sich einige Besatzungsmitglie-
der, sie kletterten angeseilt ins Innere der
Flosse. Zusammengenähte Wolldecken,
die wie das Porzellan extra für dieGraf
Zeppelinentworfen worden waren, wur-
den über die aufgerissene Stelle gezogen
und mit Seilen festgebunden. Umso grö-
ßer war die Erleichterung, als die amerika-
nische Küste in Sicht geriet. Nach rund
111 Stunden hatte es das Luftschiff nach
Lakehurst in New Jersey geschafft.
Die große Zeit des Reisens mit dem Luft-
schiff war angebrochen. Es folgten mehre-
re spektakuläre Werbefahrten derGraf
Zeppelinerst in den Orient, dann in sechs
Etappen um die ganze Welt. Von 1931 an
begann auch der regelmäßige Passagier-
verkehr über den Atlantik, etwa von
Deutschland nach Brasilien. Bis Rio de Ja-

neiro brauchte das Luftschiff mit Pausen
circa vier Tage – Ozeandampfer benötig-
ten dafür noch mehr als zwei Wochen.
Weil die Atlantikfahrten, trotz horren-
der Preise, fast immer ausverkauft waren,
sollte noch ein weiteres Luftschiff gebaut
werden, noch größer und luxuriöser als die
Graf Zeppelin. So entstand dieHindenburg


  • mitfinanziert von den seit 1933
    herrschenden Nationalsozialisten, die es
    sogleich als fliegendes Propagandamittel
    nutzten. Das Luxusluftschiff mit Piano,
    Promenadendeck und Rauchersalon brach-
    te regelmäßig Passagiere von Europa nach
    Süd- oder Nordamerika. Etwa 63 Fahrten
    hatte es zurückgelegt, als das große Un-
    glück geschah: Am 6. Mai 1937 ging dieHin-
    denburgin Lakehurst in Flammen auf.
    36 Menschen verloren ihr Leben. Die Besat-
    zung derGraf Zeppelinerreichte die Nach-
    richt in Rio de Janeiro. Nach ihrer Rück-
    kehr nach Deutschland stieg auch sie nie
    wieder auf. Die Zeit der Luftschiffe hatte
    ein abruptes Ende genommen.


Die Zeit der Flugzeuge hingegen schien
gerade erst gekommen zu sein. Fast zwei
Jahrzehnte nachdem Alcock und Brown im
irischen Sumpf gelandet waren, starteten
die ersten Flugzeuge regelmäßige Touren
über den Ozean. Mit den heutigen Linien-
maschinen hatten die Flieger allerdings we-
nig gemeinsam. Denn die Flugzeuge, die
den kommerziellen Passagierverkehr in
den Dreißigerjahren zum Laufen brach-
ten, landeten nicht auf präparierten Pis-
ten, sondern im Wasser. Diese sogenann-
ten Flugboote hatten einen entscheiden-
den Vorteil: Wenn der Treibstoff knapp
wurde oder sie einen Sturm meiden woll-
ten, konnten sie zwischenlanden.
Auch waren sie – anders als heute –
nicht für die breite Masse gedacht. Die Plät-
ze an Bord der amerikanischen Boeing 314
Clipperoder der deutschen Flugboote wie
der legendären DornierDo Xwaren wohl-
habenden Reisenden vorbehalten. Die Pas-
sagierräume waren größer und noch luxu-
riöser als die der Luxusluftschiffe. Es gab
Hochzeitssuiten, Bars, Ankleidezimmer,
Speisesäle mit chinesischem Porzellan
und frischen Blumen, in der Küche stan-
den nicht selten Sterneköche. Im Inneren
der Flieger war Platz für 70, manchmal so-
gar 160 Passagiere.
Doch auch die Ära der Flugboote dauer-
te nicht lange. Gut zwei Monate nachdem
dieDixie Clipperim Juni 1939 den Passa-
gier-Linienverkehr über den Atlantik eröff-
net hatte, marschierte Deutschland in
Polen ein. Während des Zweiten Welt-
kriegs wurde die meisten Transatlantik-
flugzeuge in den Militärdienst gestellt
oder zerstört. Danach waren viele Maschi-
nen technisch überholt.
Im Sommer 1946, als der Zweite Welt-
krieg vorüber war und der Flugverkehr
langsam wieder anlief, überquerte der Na-
vigator Arthur Whitten Brown noch ein-
mal den Atlantik – als Passagier in einem
britischen Überseeflugzeug. Er war ent-
täuscht: „Sie haben dem Fliegen den gan-
zen Spaß genommen“, sagte er damals ei-
nem Journalisten: „Das ist, als säße man in
seinem eigenen Salon.“

Wie riesige


Goldfische


Wegen des Coronavirus schottet


sich Amerika von Europa ab.


Zeit, sich zu erinnern, wie die USA


und die Alte Welt sich vor 100 Jahren


viel näher kamen: durch die


Sensation der Transatlantikflüge


von michaela schwinn


10 000 Pfund verspricht die


„Daily Mail“ dem ersten, der


nonstop über den Atlantik fliegt


Eine Windbö trifft das Luftschiff:
„Auf mich kamen Teller,
Sahnetopf, Wurst, Butter“

Auf den Flugschiffen gab es
Hochzeitssuiten, Bars,
Speisesäle und Sterneköche

Im Zeichen des Hakenkreuzes: ZeppelinLZ 129
Hindenburgin den Dreißigern über New York, die Flüge
dienten auch der Propaganda (großes Bild). Pioniere:
Arthur Whitten Brown (links) und John Alcock schafften es
schon 1919 über den Atlantik – nonstop (kleines Bild,
oben). Galt als Wunderwerk: das deutsche FlugbootDo X,
gebaut ab 1929 (Mitte). Purer Luxus: Salon im
ZeppelinLZ 127.FOTOS: IMAGO IMAGES (2), ALL MAURITIUS IMAGES, DPA
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