Süddeutsche Zeitung - 20.03.2020

(nextflipdebug5) #1
interview: javier cáceres

D


amiano Tommasi, 45, ist seit 2011
Chef der italienischen Fußballer-
gewerkschaft AIC. Der ehemalige
defensive Mittelfeldspieler begann seine
Profikarriere 1991 bei Hellas Verona, seine
größte Zeit erlebte er bei der AS Roma
(1996 bis 2006), bevor er seine Laufbahn
im Ausland beendete: bei UD Levante (Spa-
nien), Queens Park Rangers (England),
Tianjin Teda (China) und SP La Fiorita (San
Marino). Tommasi spielte 25 Mal für die ita-
lienische Nationalelf und nahm unter Trai-
ner Giovanni Trapattoni an der WM 2002
teil. Dort schoss Tommasi sein berühmtes-
tes Tor – gegen Co-Gastgeber Südkorea:
Obwohl es ein klar regulärer Treffer war,
verweigerte der ecuadorianische Schieds-
richter Byron Moreno (2011 in den USA we-
gen Heroinschmuggels verurteilt) dem Tor
die Anerkennung: Italien schied aus. Jetzt
steht Tommasi als Gewerkschaftschef im
Zentrum der Corona-Krise, die Italiens
Fußball bisher am härtesten getroffen hat.


SZ: Herr Tommasi, Italien ist in Sachen
Corona zur Kristallkugel für ganz Europa
geworden – auch im Profifußball. Wo er-
reichen wir Sie?
Damiano Tommasi: In Verona. Wir sind
hier in unserem Haus auf dem Land. Wir
haben das Glück, dass wir zu siebt sind.
Alle unsere Kinder sind hier, mit Ausnah-
me einer Tochter, die in London lebt. Wir
sind alle gesund, glücklicherweise.
Wie ist Ihr Alltag in der Ausgangssperre?
Es ist kompliziert. Aber ich muss vor allem
an jene denken, die jetzt allein sind, viel-
leicht fern der Menschen, die sie lieben.
Doch es hilft nichts. Die Behörden erneu-
ern ständig ihre Aufrufe daheimzubleiben,
weil der Druck auf die Krankenhäuser zu
groß ist.


Sie sind seit 2011 Gewerkschaftsführer
der italienischen Fußballer. Was ist Ihre
Rolle in der gegenwärtigen Krise?
Die Fußballer, die Sportler überhaupt, die
eine mediale Sichtbarkeit haben, haben
die Pflicht, ein Bewusstsein dafür zu schaf-
fen, dass dieses Thema wirklich ernst ist.
Wir haben in Italien Regionen, wo noch im-
mer die gleiche Denke herrscht, die wir
selbst vor ein paar Monaten hatten und die
wohl auch noch in Großbritannien oder
Deutschland zum Teil existiert: dass alles
weit weg ist, irgendwo in China, in Wuhan.


So unpassend es jetzt klingen mag: Wann
haben Sie das letzte Mal Fußball gespielt?
Seit ich meine Karriere als Profi beendet
habe, spiele ich hier in einer Dorfmann-
schaft, in der zweitniedrigsten Liga. Letzt-
mals? Mitte Februar. Ob ich’s vermisse? Na-
türlich! Aber wir haben in unserer Mann-
schaft auch Leute, deren Leben sich jetzt in
Spitälern abspielt. Der Fußball ist auf der
Skala der wichtigen Dinge gerade auf der
niedrigsten Stufe überhaupt.
Es hat in Italien gedauert, bis der Fußball
zum Stillstand gebracht wurde ...
Ja. Zu lange. Es hat viele Anstrengungen ge-
kostet. Vor zehn Tagen standen wir Spieler
mit der Forderung allein, den Fußball zu
stoppen. Ich kann immer noch nicht nach-
vollziehen, warum man den Fußball nicht
stoppen wollte, warum er in einigen Län-
dern sogar immer noch weiterläuft. Dass
der Fußball gestoppt wurde, hat eine sehr
starke Botschaft an die Gesellschaft ausge-
sendet. Da ging es nicht darum, den Men-
schen etwas zu nehmen, sondern viele zu
schützen, auch die Spieler und Vereinsan-
gestellten.
Was sind die größten Herausforderun-
gen, denen Sie sich als Gewerkschaftsfüh-
rer in dieser Krise gegenübersehen?


Das Schwierigste war, ein Verständnis da-
für zu wecken, dass Fußballer Menschen
sind. Dass es nicht das Wichtigste ist, wie
berühmt ein Spieler ist, wie viel er ver-
dient, bei welchem geschichtsträchtigen
Klub er spielt. Wir sind in dieser Lage alle
denselben Risiken ausgesetzt. Das Virus
macht an keiner Schwelle halt.

In China warder Saisonstart für 22. Febru-
ar geplant, jetzt soll es im Mai losgehen.
Was könnte das für Europa bedeuten?
Wenn es so kommt, hätten die Chinesen ei-
ne Pause von fast drei Monaten hinter sich.
Wenn wir das auf unsere Lage herunterbre-
chen, kann ich mir nicht vorstellen, dass
wir wirklich im Mai den Fußball wieder auf-
nehmen können, wie es Liga und Verband
anstreben. Ich fürchte, wir haben zehn Ta-
ge zu spät aufgehört – auch weil die Uefa
durch die Verschiebung der Europameis-
terschaft erst jetzt Platz im Kalender ge-
schaffen hat. Dies früher zu tun, hätte wert-
volle Zeit geschaffen. Aber es hat jetzt kei-
nen Sinn zu polemisieren.
Es gibt in Deutschland Vereinsverantwort-
liche, die auch unter Verweis auf die Risi-

koanalyse der Experten sagen, man könn-
te sehr wohl in Kürze hinter verschlosse-
nen Türen ohne Zuschauer spielen – mit
Spielern, die schließlich alle im besten Al-
ter, in bester Verfassung und medizinisch
bestens betreut seien ...

Das stimmt ja auch – aber das ist zu kurz ge-
sprungen. Corona betrifft alle! In Italien ha-
ben wir Physiotherapeuten, Ärzte, Zeug-
warte, die in Krankenhäusern liegen. Wir
haben infizierte Spieler. Und sie alle haben
einen Vater, eine Mutter, Großeltern, die
über 70 sind. Und es gibt ein Thema, das
noch gar nicht erforscht ist: Was passiert
mit einem Athleten, der positiv getestet

wurde? Kann er wirklich problemlos nach
14 Tagen den Sport wieder betreiben? Wir
wissen es nicht.

Die Deutsche Fußball-Liga will – wie die
italienische Liga – so früh wie möglich wie-
der anfangen, um die Saison zu Ende zu
bringen und den Vereinen die sehr hohen
TV- und Sponsoring-Einnahmen zu si-
chern. Denn der Fußball ist nicht nur von
der Pandemie, sondern auch von einer
schweren wirtschaftlichen Krise betrof-
fen. Muss man dieser Einschätzung wider-
sprechen? Oder muss man wirklich sa-
gen: Die Wirtschaft des ganzen Landes
überlebt nur, wenn der Ball wieder rollt?
Wir sind alle davon überzeugt, dass wir wie-
der spielen müssen. Und ich kann Ihnen
versichern, dass es keinen gibt, der ein
größeres Interesse hat, dass es wieder los-
geht, als die Spieler.
Aber?
Man muss realistisch sein. Ich gehe davon
aus, dass jeder Klub in Italien von einer In-
fektion betroffen ist, direkt oder indirekt.
Schauen Sie: Hier werden Menschen ohne
Symptome nicht kontrolliert. Und wir re-

den über eine Krankheit, die symptomlos
verlaufen kann. Die erste italienische
Mannschaft, die einen positiven Test hat-
te, war ein Drittligateam, und als sie aus
der Quarantäne zurück waren, stellte sich
heraus, dass ausgerechnet die beiden Spie-
ler, die zuvor negativ getestet worden wa-
ren, positiv getestet wurden. Deswegen sa-
ge ich: Wir wissen schlicht nicht, ob man
am Ende der Quarantäne gleich wieder
Fußball spielen kann. Ich gehe davon aus,
dass wir 50, 60 Tage brauchen, damit sich
die Teams wieder vorbereiten und mit
dem Spielen anfangen können.

Es gibt Berichte, dass der Tabellenzweite
Lazio Rom die Spieler bereits wieder aufs
Vereinsgelände holt. Offiziell, um sie zu
kontrollieren, inoffiziell, um sie trainie-
ren zu lassen – womöglich darauf speku-
lierend, dass man durch das Training stär-
ker als Tabellenführer Juventus Turin aus
derPause kommen wird, dessen Team un-
ter Quarantäne steht und dessen Topspie-
ler Cristiano Ronaldo auf Madeira sitzt.

Der italienische Ärzteverband hat gerade
erst klar gesagt, dass bis Anfang April
nicht trainiert werden sollte. Der Sportmi-
nister hat gesagt, dass es vielleicht im Mai
wieder losgehen kann – dann braucht man
jetzt auch nicht zu trainieren. Dann sollte
man die Regeln auch befolgen.

In Deutschland hat der bayerische Minis-
terpräsident Markus Söder gefordert,
dass die Profifußballer zugunsten ihrer
Klubs auf Geld verzichten sollen. Gibt es
bei Ihnen auch eine solche Debatte?
Das ist hier das Thema des Tages. Ver-
bandschef Gabriele Gravina hat gesagt,
dass dies kein Tabu sein dürfe; dass man
spielen müsse, um wirtschaftlichen Scha-
den abzuwenden und um Gehaltskürzun-
gen zu vermeiden. Für mich ist das ver-
früht und nicht vordringlich. Aber auch
uns ist klar: Ohne Ligen, ohne wirtschaftli-
ches Gleichgewicht, gibt es keine Arbeit.

Sie klingen, als gäbe es Druck auf die Pro-
fis, zu Märtyrern des Fußballs zu werden?
Die Vereinsverantwortlichen müssen den
Klub am Laufen halten, und die Kosten der
Fußballer sind die höchsten. Wenn es kei-
ne Einnahmen gibt, schaut man eben, wo
man kürzen kann. Aber es ist auch nicht so
einfach, ausgerechnet bei denen zu kür-
zen, die für die Einnahmen sorgen. Wir ha-
ben hier in Italien eine besondere Situati-
on, weil die Fußballer nicht nur Angestellte
sind, sondern auch Eigentum der Klubs.
Aber machen wir uns nichts vor: Wenn die
Fußballer so viel Geld einnehmen, dann
deshalb, weil es jemanden gibt, der noch
viel mehr verdient ...

„In der Not wird die Liebe größer und ed-
ler“, heißt es in „Die Liebe in Zeiten der
Cholera“ des kolumbianischen Schriftstel-
lers Gabriel García Márquez. Gilt das in
Zeiten von Corona analog für den Fußball,
die größte Liebe vieler Menschen?
Es sind am Ende die Menschen, die den Un-
terschied machen. Ihre Werte. Das, was wir
in uns tragen.
Wie meinen Sie das?
Der Fußball ist eine Industrie, die seit Jah-
ren massiv gewachsen ist. Ebenso die Zahl
derer, die vom Fußball leben, sie geht in al-
len Ländern jeweils in die Zehntausende.
Die Sensibilität derer, die den Sport aus-
üben, hat sich geändert. Der Fußball ist im-
mer weniger Sport und immer mehr ein
Spektakel geworden, in dem Rollen ge-
spielt werden. Deswegen vergessen wir
manchmal, dass sich hinter den Figuren
Personen verbergen – weil ebendiese Figu-
ren mitunter auch selbst vergessen, dass

sie Personen sind. Da müssen wir Fußbal-
ler uns auch an die eigene Nase fassen.

Der Fußball gilt als Opium fürs Volk. Ha-
ben Sie den Eindruck, dass in Italien nach
zehn Tagen Ausgangssperre bereits ein
Verlangen der Menschen entsteht, dieses
Opium zurückzubekommen?
Natürlich gibt es das. Aber für mich war
Fußball nie ein Opium, sondern vor allem
die Gelegenheit, wieder Kind zu sein. Um
die Leidenschaften auszuleben, die man
schon alsbambinohatte und die man seit-
her in sich trägt. Die Fernsehsender zeigen
gerade jahrzehntealte Spiele aus der Kon-
serve. Wir sehen sie und entdecken die
Empfindungen von damals neu.
Die Frage stellt sich auch deshalb, weil die
Industrie darauf baut, dass die Menschen
den Fußball wieder brauchen werden,
nach wenigen Wochen.
Das ist in jenen Regionen so, in denen das
Coronavirus noch nicht zur Katastrophe ge-
worden ist, wo man das Problem nicht in
seiner Gänze kennt. Anderswo stoßen wir
auf die rohe Realität. Nehmen Sie Berga-
mo: Die Stadt erlebt durch Atalanta(erst-
mals Champions-League-Teilnehmer und
für das Viertelfinale qualifiziert, d. Red.)ge-
rade den fußballerischen Wahnsinn, einen
beispiellosen Erfolg – und gleichzeitig das
Drama des Todes. Wir hatten hier ein Tref-
fen des Präsidiums, darunter war auch ein
Fußballer, der in Bergamo lebt. Er war die
ganze Zeit am Telefon, alle fünf Minuten
hörte er eine Ambulanz. Oder anders ge-
sprochen: Jetzt einen Arzt für einen Fußbal-
ler abzustellen, während in den Kranken-
häusern alles zusammenbricht? Den Fuß-
ball wieder rollen zu lassen, hieße, der Ge-
sellschaft zu signalisieren: Die Normalität
ist wieder nahe. Und das ist noch nicht so.

Was würden Sie jemandem sagen, der – so
wie die Deutschen jetzt – erst am Anfang
dieser Entwicklung steht?
All dies wird mehr Ordnung in unser Leben
bringen. Es ordnet unsere Werte. Wir wer-
den nach Corona die Menschen um uns her-
um mit anderen Augen sehen: die Grüße,
die Handschläge, die Blicke – wie nach den
gewaltigsten Krisen, wie nach Kriegen.
Wir reden seit Jahren von „den anderen“
als Gefahr. Jetzt ist „der andere“ eine Ge-
fahr, auf eine Weise, die wir nicht erahnt
hätten. Und die Lösung ist es zusammen-
zustehen.
Was vermissen Sie?
(Holt Luft)Meine Lieben. Meinen Vater.
Meine Brüder. Umarmungen. In Gesell-
schaft zu sein, denn das ist das Leben der
Menschen. Das vermisse ich.

„Den Fußball wieder rollen
zu lassen, wäre das Signal:
Die Normalität ist wieder nahe!
Aber das ist noch nicht so.“

Positiv getestete Profifußballer gab es
im vom Coronavirus arg gebeutelten Ita-
lien schon mehrere – außergewöhnlich
hart getroffen ist nun der Erstligist AC
Florenz, bei dem seit Saisonbeginn auch
der frühere FC-Bayern-Profi Franck Ri-
béry sowie Kevin-Prince Boateng spie-
len. Die Fiorentina meldete am Donners-
tag zehn Coronafälle. Wie Klubbesitzer
Rocco Commisso mitteilte, befänden
sich drei Personen aus dem Umfeld des
Klubs sogar im Krankenhaus. Zu den In-
fizierten gehören die Spieler Patrick Cut-
rone, German Pezzella und Dusan Vlaho-
vic. „Die Situation verschlimmert sich
bei uns“, sagte Commisso bei Sky Italia.
Der AC hat eine Spendenaktion ins Le-
ben gerufen, um die Krankenhäuser der
Stadt zu unterstützen. Dabei sind bereits
mehr als 400000 Euro zusammenge-
kommen, alleine Ribéry beteiligte sich
mit 50 000 Euro. Norditalien ist die der-
zeit am schlimmsten vom Coronavirus
betroffene Region Europas. sid

„Das Schwierigste war, ein
Verständnis dafür zu
entwickeln, dass jetzt auch
Fußballer Menschen sind.“

München– Zu Wochenbeginn versorgte
der deutsche Handball-Torwart Silvio Hei-
nevetter seine sozialen Netzwerke mit ei-
nem Bild, das in diesen Tagen eher selten
zu sehen ist. Ein Glastisch, darauf Wasser,
Desinfektionsmittel – und verschiedene
Utensilien, die für eine Urinkontrolle not-
wendig sind. Die Kontrolleure von der nati-
onalen Anti-Doping-Agentur waren bei
Heinevetter vorbeigekommen. „Ich war si-
cherlich eine der letzten deutschen Doping-
Kontrollen“, sagte er hinterher.


Damit liegt der Torwart der Berliner
Füchse tendenziell richtig, aber er muss
das gar nicht auf Deutschland beschrän-
ken. Im Zuge der Corona-Krise finden welt-
weit gerade sehr viel weniger Dopingtests
statt. Niemand kann derzeit seriös sagen,
wann sich das Sportgeschehen wieder fort-
setzen lässt. Aber klar ist: Wenn es wieder
weitergeht, wird ein chancengleicher, fai-
rer Sport noch unmöglicher sein als er es
ohnehin schon ist. Und das gilt insbesonde-
re für die Sommerspiele in Tokio, an denen
das Internationale Olympische Komitee
(IOC) noch immer unverdrossen festhält.
Das Kontrollsystem war zwar noch nie
so prächtig, wie es die Verbände gerne be-
haupten und wie die große Zahl von welt-
weit mehr als 300000 Tests pro Jahr nahe-
legt. Faktisch war es immer extrem lücken-
haft und im globalen Vergleich ziemlich un-


gleich organisiert. Aber in diesen Tagen
bricht es vollends zusammen. „Das ist die
Stunde der Doper“, fasste es der Schweizer
Leichtathletik-Sprinter Alex Wilson imTa-
ges-Anzeigerpointiert zusammen.
Bei der deutschen Nada sieht es nun so
aus: Die Urintests sind reduziert worden.
Die genaue Anzahl will sie nicht mitteilen.
Auf Blutkontrollen verzichtet sie weitge-
hend, weil dort Ärzte oder Heilpraktiker da-
bei sein müssten. Diese wiederum werden
im Land gerade selbstredend an anderer
Stelle gebraucht. Zudem konzentriert sich
die Nada ausschließlich auf die Athleten,
die sich auf einen Tokio-Start vorbereiten.
Ähnlich ist es in vielen anderen westli-
chen Ländern, von Großbritannien bis zu
den USA. Vielerorts sind die Kontrollen
stark reduziert, manchmal faktisch bei
null. Wettkämpfe finden ohnehin keine
mehr statt, Trainingsstätten sind geschlos-
sen, Kontrolleure können und dürfen auch
nicht mehr so viel reisen wie gewohnt. Spa-
nien oder Italien etwa befinden sich in ei-
nem staatlich verordneten Alarm- oder
Notzustand. Da sind Kontrollen nur eine
theoretische Möglichkeit. Auch verschiede-
ne Labore sind geschlossen. China hatte
nach dem Ausbruch der Coronakrise im Fe-
bruar für eine gewisse Phase überhaupt
nicht mehr kontrolliert.
Da klingt es umso ulkiger, wenn just aus
dem Land, das in den vergangenen Jahren
wie kein anderes für Dopingbetrug und lü-
ckenhafte Kontrollen stand, ein anders lau-
tendes Statement kommt. „Die Inspekto-
ren der Rusada arbeiten mit voller Kraft“,
teilt Russlands Anti-Doping-Agentur mit.

Diese Situation besorgt viele Sportler
sehr. Der deutsche Marathonläufer Arne
Gabius etwa begründet seine Forderung,
die Olympischen Spiele zu verschieben,
nicht zuletzt mit der Problematik bei den
Kontrollen. Doch er hofft noch, „dass sie
jetzt noch einige Ärzte finden, die Blutkon-
trollen abnehmen können“. Auch pensio-

nierte Ärzte oder Zahnärzte dürfen das
tun, „wobei ich bei den Zahnärzten immer
ein bisschen schmunzeln muss, weil die un-
ter den Ärzten nicht als die bekannt sind,
die am besten die Venen treffen.“
Dass die Kontrollen just jetzt fehlen, ist
jedenfalls fatal. Der große Dopingkonsum
findet ja erfahrungsgemäß nicht unmittel-

bar im Wettkampf statt, sondern in der Vor-
bereitungsphase, wenn es darum geht, die
Grundlagen für Kraft und Ausdauer zu le-
gen – und das können Sportler auch trotz
der Coronakrise gerade tun. Dabei hat die
Situation nicht nur zur Folge, dass aktuell
kein Doper überführt werden kann. Es feh-
len auch wertvolle Informationen für die
sogenannten Blutprofile, die seit einiger
Zeit insbesondere in den dopinganfälligen
Ausdauersportarten zum Alltagswerkzeug
bei der Strafverfolgung zählen. Mit deren
Hilfe können die Verantwortlichen die Ent-
wicklung verschiedener Werte über ein
paar Monate nachvollziehen und so eher
Auffälligkeiten finden. In den Blutprofilen
vieler Ausdauerleister werden künftig eini-
ge Lücken klaffen.

Die Welt-Anti-Doping-Agentur reagiert
auf alle diese Problematiken nur auswei-
chend. „Die Wada wird die Testaktivitäten
in allen vom Coronavirus betroffenen Regi-
onen eng verfolgen, um mögliche Kontroll-
lücken zu ermitteln“, teilt sie auf Anfrage
mit. Wenn sich da Lücken auftun, wolle sie
das Internationale Olympische Komitee in-
formieren – wann auch immer dessen an-
geschlossenen Kontroll-Organisationen
dann testen können. Einzelne nationale An-
ti-Doping-Agenturen setzen nun immer-
hin ihre sogenannte Intelligence-Arbeit
fort. Das ist der Versuch, etwa über Anzei-

gen oder die Zusammenarbeit mit Strafbe-
hörden Verdachtsfälle zu ermitteln.
Aber selbst bei den wenigen Urintests,
die es dieser Tage gibt, tun sich noch Frage-
zeichen auf. Immerhin gilt in Deutschland
der flammende Appell der Bundesregie-
rung, unnötige Sozialkontakte zu vermei-
den. Eine Kontrolle gehört eher nicht zu
den Dingen, die sich digitalisieren lassen,
der Kontakt fällt dabei naturgemäß sogar
tendenziell näher aus. Die Nada erklärt da-
zu auf Anfrage, dass sie das Dopingkon-
trollpersonal angewiesen habe, Schutzvor-
schriften zu beachten. Aber es sind doch
manche Athleten verunsichert.
Noch habe auch niemand deshalb den
Test verweigert, sagt die Nada. Aber es ist
eine durchaus spannende Rechtsfrage,
wenn es dazu käme. Und sollte in noch
mehr Landkreisen oder gar in ganz
Deutschland eine Ausgangssperre ver-
hängt werden, ist ohnehin gar kein Test
mehr denkbar – so wie jetzt schon in ande-
ren Ländern, die im Ausnahmezustand
sind. Auch wenn die Nada über dieses Sze-
nario nicht spekulieren will.
Vielleicht, sagt der Marathonläufer Ar-
ne Gabius, müsse man 2020 in diesem
Licht „als ein Jahr sehen, in dem der Sport
ruht“. Da müsse das IOC „jetzt mal über sei-
nen Schatten springen“, die Spiele um ein
Jahr verschieben, und allen Beteiligten
mehr Zeit verschaffen, den Behörden, Ath-
leten, Sponsoren – und auch dem Doping-
kontrollsystem. „So kann man gemeinsam
durch die Krise kommen“, findet Gabius:
„Und den Athleten wird die Ungewissheit
genommen.“ j. aumüller, j. knuth

DEFGH Nr. 67, Freitag, 20. März 2020 HF2 25


Ribéry spendet


Zehn Corona-Fälle bei Florenz


Der frühere National-
spieler Damiano
Tommasi, 45, ist seit
2011 Chef der italie-
nischen Fußballer-
gewerkschaft AIC.
FOTO: GRIBAUDI / IMAGO

„Wir haben zu spät aufgehört“


Gewerkschaftschef Damiano Tommasi erlebt die dramatische Corona-Krise
in Italiens Fußball. Er benennt Fehler und Lehren für andere Länder –
und erklärt, warum der Ball noch lange ruhen sollte

Vielleicht müsse man 2020 als
ein Jahr begreifen, „in dem der
Sport ruht“, sagt Arne Gabius

Außer Kontrolle


Die Zahl der Dopingtests sinkt wegen des Coronavirus drastisch. Sollten Olympische Spiele in diesem Jahr überhaupt noch stattfinden, wäre die Chancengleichheit gravierend beeinträchtigt


Einer läuft noch: Vor leeren Rängen hat das griechische Olympia-Komitee am Don-
nerstag im Panathinaikon-Stadion die Fackel an Tokio übergeben. „Wir hoffen,
dass das Olympische Feuer das Virus auslöscht“, sagte Griechenlands NOK-Chef
Spyros Kapralos. Momentan ist die Lage eher so, dass das Virus den Sport lahm-
legt: Wettkämpfe sind ausgesetzt, Training ist kaum möglich, und nun erlischt
auch das Flämmchen des Doping-Kontrollsystems. FOTO: ARIS MESSINIS / AFP

„Das ist die Stunde der Doper“,


glaubt der Schweizer


Leichtathlet Alex Wilson


SPORT


Im blauen Trikot Italiens: Damiano Tommasi als defensiver Mittelfeldspieler bei der WM 2002. FOTO: ULMER / IMAGO
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