Der Spiegel - 21.03.2020

(Michael S) #1

Antigene selbst. Es ist eine elegante Idee,
aber auch eine mit großen Ungewissheiten.
Die wichtigste Grundlage für ihren
Impfstoff erhielt Kate Broderick, For-
schungschefin von Inovio, per Mail. Sie
traf am 10. Januar im Forschungszentrum
in San Diego ein und enthielt die Erbgut-
sequenz des neuen Virus. Chinesische Wis-
senschaftler hatten sie in Rekordzeit ent-
schlüsselt. Broderick sah auf dem Bild-
schirm eine scheinbar beliebige Abfolge
der vier Buchstaben A, C, G, und T –
30 473 Zeichen lang.
Die Molekulargenetikerin lud die Buch-
stabenreihe in ein spezielles Programm
hoch, und drei Stunden später lieferte der
Computer ihr ein Ergebnis: das Design für
ihren Nukleinsäure-Impfstoff, die Anlei-
tung zur Produktion eines Virusbausteins.
Mithilfe von Bakterienkulturen stellten
Labormitarbeiter innerhalb weniger Tage
einen Liter des neuartigen Impfstoffs her.
Sie führten Versuche in Zellkulturen durch
und planten Experimente an Labortieren.
Als die ersten Ergebnisse analysiert waren,
straffte die Firma ihren Zeitplan und ver-
kündete, im April die ersten Studien an
gesunden Menschen zu starten. Wenn Bro-
derick aus der Firma nach Hause kam, aß
sie mit ihren Kindern zu Abend, brachte
sie ins Bett und setzte sich wieder an den
Schreibtisch. Nachts schlief sie nur drei
Stunden. »Meine gesamte Berufslaufbahn
habe ich mich auf eine Epidemie wie diese
vorbereitet«, sagt die Molekulargenetike-
rin Broderick, 42. »Sie wird vermutlich
meine weitere Karriere bestimmen.«
Nukleinsäure-Impfstoffe haben einen
großen Vorteil: Sie können vergleichswei-
se schnell millionenfach produziert wer-
den. Die Technologie hat aber auch einen
Nachteil: Bisher hat es noch kein einziger
dieser Impfstoffe auf den Markt geschafft.
Ein potenzieller Inovio-Impfstoff gegen
die Lungenkrankheit Mers sorgte in Tests
nur bei jedem zweiten Patienten für die
Produktion der notwendigen Antikörper.
Der Vakzinforscher Peter Hotez vom
Texas Children’s Hospital, der einen mög-
lichen Impfstoff gegen das Coronavirus
Sars mitentwickelte, ist gegenüber den Ver-
sprechen der Start-ups daher skeptisch.
»Innerhalb eines Jahres einen Impfstoff
fertig zu haben erscheint mir eine über -
zogene Ansage«, sagt Hotez.
Das Tübinger Unternehmen CureVac,
das ebenfalls einen solchen Erbgut-Impf-
stoff gegen das Coronavirus entwickelt,
hat bislang nur einen Tollwut-Impfstoff,
der auf dieser Technologie beruht, in einer
kleinen Studie an Menschen erprobt. Ein
Mers-Impfstoff wurde nicht weiterentwi-
ckelt, nachdem die Epidemie abgeflaut
war.
Jetzt will CureVac im Frühsommer in
Deutschland und Belgien mit der Erpro-
bung des Coronavirus-Impfstoffs an Men-


schen beginnen. Wenn der Impfstoff wirke,
sagt Chief Production Officer Florian von
der Mülbe, sei man kurzfristig in der Lage,
bis zu zehn Millionen Dosen zu produzie-
ren. Die EU hat dem Unternehmen zudem
80 Millionen Euro Fördergelder zugesagt,
damit die Produktionskapazität auf zwei
bis vier Milliarden Dosen aufgestockt wer-
den kann.
Welche Dramen sich bei der Verteilung
von Impfstoffen abspielen könnten, zeigte
sich an den entsetzten Reaktionen, als die
Nachricht kursierte, die amerikanische Re-
gierung wolle sich das deutsche Unterneh-
men unter den Nagel reißen.
Anfang März war CureVac das einzige
nicht US-amerikanische Unternehmen,
das zu einem Corona-Krisengipfel mit Do-
nald Trump ins Weiße Haus eingeladen

wurde. Der US-Präsident sei begeistert ge-
wesen, hieß es anschließend – so sehr, dass
er CureVac angeblich für eine Milliarde
Dollar kaufen wollte. Es folgte: ein Auf-
ruhr. »Deutschland steht nicht zum Ver-
kauf«, erklärte Bundeswirtschaftsminister
Peter Altmaier (CDU). Die Firma beteu-
erte, nichts von diesem unmoralischen An-
gebot gewusst zu haben.
Ob es je eine Offerte aus den USA ge-
geben hat, ist am Ende vermutlich ohnehin
unerheblich. Denn im Zweifel könnte die
Regierung den Verkauf ins Ausland stop-
pen: Zur Vermeidung von »Sicherheits -
gefahren« kann das Bundeswirtschafts -
ministerium den Erwerb deutscher Unter-
nehmen durch ausländische Käufer prüfen
und im Zweifel untersagen. Und es liege
auf der Hand, heißt es in Berlin, dass bei

der Entwicklung eines Corona-Impfstoffs
deutsche Sicherheitsinteressen berührt
seien.
Das Tauziehen dürfte noch zunehmen.
Völlig offen ist, ob sich derzeit konkurrie-
rende Firmen möglicherweise am Ende zu-
sammenschließen werden, um Impfstoffe
gemeinsam zu produzieren. Bitter rächt
sich jetzt, dass die Entwicklung eines Vak-
zins gegen das Sars- und das Mers-Virus
eingestellt wurde, als die akute Gefahr
vorüber war.
»In einer Krise wie bei Covid-19 möchte
jeder Wissenschaftler so viele Therapeuti-
ka und Impfstoffe wie möglich testen«, sagt
Ulrich Strych vom Center for Vaccine De-
velopment des Texas Children’s Hospital.
»Aber wenn die Krise dann scheinbar über-
wunden ist, sinkt das Interesse rapide.«
Um in Rekordzeit an einen Impfstoff zu
gelangen, müssen Forscher und Behörden,
Pharmafirmen und Politiker jetzt Risiken
eingehen, die bislang undenkbar waren.
Auf einem WHO-Treffen Mitte Februar
einigten sich Vertreter öffentlicher For-
schungseinrichtungen und Pharmafirmen
darauf, dass Versuche an Menschen schon
beginnen sollten, bevor alle Tierstudien
abgeschlossen sind – ein Tabubruch. Die
nationalen Zulassungsbehörden müssen
sich daran zwar nicht halten, doch die Ent-
scheidung hat Signalwirkung. Auch Neal
Browning bekam seinen Impfstoff bereits
gespritzt, während parallel noch wichtige
Tierversuche laufen.
Im Wissenschaftsmagazin »Nature« lös-
te diese Entscheidung sofort eine erregte
Diskussion aus. Denn Tierversuche kön-
nen entscheidend dazu beitragen, recht-
zeitig zu erkennen, ob ein Impfstoffkan-
didat gefährliche Nebenwirkungen hat.
Vakzinforscher Hotez warnt: »Wir soll-
ten bedächtig vorangehen. Bei einigen
Firmen bin ich mir nicht sicher, ob sie das
Coronavirus nutzen wollen, um nun ihre
experimentelle Technologie auf den Markt
zu drücken.«
Klaus Cichutek, Präsident des für die
Impfstoffzulassung zuständigen Paul-Ehr-
lich-Instituts, gibt sich gelassen. »Wichtig
ist, dass ein zugelassener Impfstoff verträg-
lich und wirksam ist«, sagt er. »Wir haben
in unserem Repertoire schon jetzt eine
Vielzahl flexibel einsetzbarer Möglichkei-
ten, um den Zulassungsprozess unter Ein-
haltung der gebotenen Sorgfalt zu be-
schleunigen.«
Je nach Datenlage könne man zum Bei-
spiel eine Zulassung unter außerordent -
lichen Umständen beantragen. »Sollte
es länger dauern«, versichert Cichutek,
»dann liegt das nicht an uns, sondern da-
ran, dass die Entwicklung des Impfstoffs
einfach noch nicht abgeschlossen ist.«
Veronika Hackenbroch, Kerstin Kullmann,
Martin Schlak, Thomas Schulz

DER SPIEGEL Nr. 13 / 21. 3. 2020 103

Coronakrise

»Ist die Krise


überwunden, sinkt


das Interesse an


Impfstoffen rapide.«


TED WARREN / AP
Proband Browning bei Test-Impfung
»Ich habe an meine Töchter gedacht«
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