bekommen, wen wir heiraten. Das zweite
Gehirn werde uns bald besser kennen als
wir uns selbst. Wir seien, sagt Harari, und
das ist einer seiner Kernsätze, »hackable
animals«. Tiere, die man hacken kann.
Regierungen und Unternehmen, die uns
besser kennen als wir uns selbst, könnten
uns alles verkaufen, was sie wollten – Pro-
dukte genauso wie Politiker. Die Mensch-
heit würde intelligenter werden und dis-
ziplinierter, aber auch das verlieren, was
sie ausmacht: Mitgefühl, Sensibilität und
spirituelle Tiefe.
Im zweiten Teil des Vortrags spricht
Harari, der Historiker, über die Lektionen
der Geschichte. Dass der Blick, mit dem
wir die Geschichte betrachten, zu simpel
sei. Als wäre sie nur Ausdruck der immer
selben Konflikte: Weiße gegen Schwarze.
Ost gegen West. Christen gegen Muslime.
Dabei gebe es lediglich eine einzige histo-
rische Konstante: Alles ändere sich stetig,
immerzu.
Vor 1000 Jahren hätten die meisten
heutigen Nationen nicht existiert. Vor
5000 Jahren habe es weder Chinesen
noch Christen, Juden, Belgier oder Fla-
men gegeben. Neue Nationen seien aufge-
taucht und bald wieder verschwunden.
Stämme und Gruppen fanden zusammen,
die vormals Fremde, wenn nicht gar Fein-
de gewesen seien. Nichts bleibe, wie es ist.
Tiere würden ihre Identitäten und Merk-
male über Tausende Generationen nicht
verändern. Ein Schimpanse bleibt ein
Schimpanse; wer er ist, wie er sich verhält,
bestimmen seine Gene. Schimpansen le-
ben in patriarchalischen Strukturen, sie
könnten keine feministische Revolution
anzetteln, selbst wenn sie es wollten. Die
sozialen Systeme der Menschen aber seien
nicht genetisch determiniert. Was auch
heißt, dass diese Systeme meistens nur ein
paar Generationen überdauern.
Nationen haben auch keine unveränder-
lichen Charaktereigenschaften. Die Deut-
schen beispielsweise hätten sich in nur
einem Jahrhundert in gleich sechs politi-
schen Systemen organisiert: Kaiserreich,
Weimarer Republik, »Drittes Reich«, so-
zialistischer Osten, demokratischer Wes-
ten, schließlich das vereinte Deutschland
von heute. Dieselben Gene, dieselbe Geo-
grafie, dasselbe Klima, alles Gründe, die
normalerweise herangezogen werden, um
unterschiedliche nationale Charaktere zu
erklären. Es gebe keine deutsche Essenz,
die sich sowohl in Beethoven, Hitler und
Merkel manifestiere. Stattdessen seien es
die radikalen Wandlungen, die die deutsche
Identität und Geschichte ausmachten.
Menschen gibt es seit 2 Millionen Jah-
ren, Säugetiere seit 200 Millionen und
Leben überhaupt seit 4 Milliarden Jahren.
Nun könnte es sein, dass die Menschheit
in die Lage komme, Leben zu entwickeln,
das vielleicht nicht mal organisch ist. Wir
stünden, sagt Harari, vor einer evolutio-
nären Zeitenwende. Um ihr gerecht zu
werden, brauche es eine wahrhaft kos -
mische Perspektive auf das Leben an sich.
Was er meint: Wir müssen Abstand neh-
men von uns selbst.
Yuval Noah Harari ist in der Nähe von
Haifa im Norden Israels aufgewachsen.
Seine Familie hat Wurzeln im Libanon
und in Osteuropa. Der Vater hat für die
israelische Rüstungsindustrie gearbeitet,
die Mutter war Büroangestellte. Harari hat
sich im Vorschulalter selbst das Lesen bei-
gebracht und später eine Schule für hoch-
begabte Kinder besucht. Ein merkwürdi-
ger Junge, so beschreibt es ein Porträt im
US-Magazin »New Yorker«, der wochen-
lang im Garten seiner Eltern tiefe Löcher
aushob oder auf einer Landkarte Europas
selbst erfundene Kriegsspiele spielte.
Als die Palästinenser Ende der Acht -
ziger während der ersten Intifada den Auf-
stand gegen die israelischen Besatzer wag-
ten, Harari war noch keine 15, da glaubte
er, dass Israel die bedeutendste Nation
der Welt sei, die von allen anderen miss-
verstanden und gehasst werde und mit
allen Mitteln zu verteidigen sei. Den Mili-
tärdienst brach er dann aber aus gesund-
heitlichen Gründen ab. Er suchte Rettung
in der Religion und fand sie nicht. Er sei,
auch das sagt er im »New Yorker«, in einer
Sackgasse gefangen gewesen.
1998 ging er nach Oxford, um dort
seinen Doktor zu machen. Thema seiner
Dissertation: die Kriegsmemoiren von
Söldnern der Renaissance.
An den Wochenenden fuhr er nach Lon-
don in die Klubs der schwulen Subkultur.
Er nahm sich vor, jede Woche mit einem
anderen Mann zu schlafen, weil er seine
Schüchternheit überwinden wollte. Es war
die Hoffnung, dass sein Coming-out das
fehlende Puzzlestück sei bei der Suche
nach sich selbst.
2002 ging Harari zurück nach Israel, er
arbeitete als Dozent an der Universität
von Jerusalem. Er veröffentlichte zahl -
reiche Arbeiten und wissenschaftliche Ar-
tikel zur Militärhistorie des Mittelalters
und der frühen Neuzeit. In Deutschland
ist gerade sein Buch »Fürsten im Faden-
kreuz« (C. H. Beck) erschienen über Ge-
heimoperationen im Zeitalter der Ritter.
Harari hat es in den Nullerjahren geschrie-
ben und sagt, dass man es nur kaufen solle,
wenn man sich wirklich für mittelalterliche
Geschichte interessiere.
Der Zufall wollte es, dass er damals
einen Einführungskurs für Erstsemester
über die Grundzüge der Weltgeschichte
übernahm. Er sei überrascht gewesen, wie
wenig Studenten der Geschichte über Ge-
schichte wussten. Was war die neolithische
Revolution? Was genau ist Kapitalismus?
Wie funktioniert Geld? Welche Triebkräf-
te riefen die Wissensexplosionen zu Be-
ginn der Neuzeit hervor? Warum gibt es
Religionen? Warum Nationen?
Die Studenten waren euphorisch, irgend-
wie schien es da ein Bedürfnis zu geben.
Harari baute seine Vorlesung zu einem
Buch aus, das 2011 in Israel auf Hebräisch
veröffentlicht wurde, seit 2014 dann auch
in anderen Sprachen. Mittlerweile hat sich
»Eine kurze Geschichte der Menschheit«
weltweit zwölf Millionen Mal verkauft. In
Deutschland ist die Taschenbuchausgabe
auch im siebten Jahr nach Erscheinen der
deutschen Übersetzung immer noch auf
Platz zwei der Bestsellerliste.
Eigentlich ein Buch, zu unernst für
Wissenschaftler, zu ernst für ein normales
112 DER SPIEGEL Nr. 13 / 21. 3. 2020
ITZIK HARARI
Bestsellerautor Harari mit Bundeskanzlerin Merkel, Finanzpolitikerin Lagarde, Frankreichs
Seine Werte: Alles ändert
sich stetig. Nichts
hat einen ewigen Wert.
Nichts ist perfekt.