Der Spiegel - 21.03.2020

(Michael S) #1

mit Virologen und anderen Ärzten aus
mehreren EU-Ländern zusammen, aus
Deutschland sind Christian Drosten von
der Berliner Charité und Lothar Wieler
vom Robert Koch-Institut dabei.
Man kann nicht sagen, dass die Kom-
missionschefin die Wucht dieser Krise
später als andere Politiker erkannt hätte.
Im Gegenteil: Als von der Leyen Anfang
März ihr Krisenzentrum besucht, einige
Räume mit vielen Monitoren und Fernseh-
bildschirmen, hat sich die Kanzlerin in
Deutschland noch nicht zu Covid-19 ge -
äußert. Erst eine Woche später wird sie
vor der Bundespressekonferenz auftreten.
Von der Leyen will zeigen, wie gut die
EU vorbereitet ist, doch ausgerechnet ihr
Kommissar für Krisenmanagement Janez
Lenarčič bremst den Optimismus. Am
Ende, sagt er im Beisein seiner Präsidentin
im Krisenzentrum, gehe gerade in der Ge-
sundheitspolitik wenig ohne die Mitglied-
staaten. »Auch in der Finanzkrise war
der erste Reflex vieler Mitgliedstaaten, es
allein schaffen zu wollen«, sagt von der
Leyen später. »Doch bald zeigte sich: ge-
meinsam ist Europa stärker.«
Von der Leyen hat sich als Politikerin nie
so recht um Zuständigkeiten geschert. Als
Familienministerin setzte sie den Ausbau
der Kitaplätze durch, obwohl die Bundes-
länder zuständig waren. Später, im Arbeits-
ministerium, kämpfte sie für die Frauen-
quote in Aufsichtsräten, obwohl es Sache
der Familienministerin gewesen wäre.
Damals waren Edmund Stoiber oder
Kristina Schröder ihre Gesprächspartner,
jetzt sind es Emmanuel Macron und Se-
bastian Kurz. Die Staats- und Regierungs-
chefs stehen unter Druck, sie müssen zei-
gen, dass sie ihre Bürger schützen können.
Zu besichtigen war dies am Dienstag
vergangener Woche nach der ersten Video-
konferenz der EU-Staats- und Regierungs-
chefs zu Corona. Man kam überein, mög-
lichst abgestimmt zu handeln. Lieferketten
dürften nicht gesprengt, der Binnenmarkt
dürfe nicht gefährdet werden.
Doch schon einen Tag später schloss
Österreich seine Grenzen, bald folgten
Tschechien und Polen, schließlich auch
Deutschland. Vor allem die Berliner Hau-
ruckaktion traf die Brüsseler Entschei-
dungsträger unvorbereitet. Noch am Sonn-
tagvormittag hieß es, die Grenzen sollten
offen bleiben, wenige Stunden später war
dann das Notifizierungsschreiben bereits
unterwegs, mit dem Berlin Brüssel von
Grenzkontrollen in Kenntnis setzte.
Niemand will den EU-Binnenmarkt ka-
putt machen, de facto jedoch geschieht
nun genau das. »Beim Thema Kontrollen
an den Grenzen« sei »zu Beginn der Krise
national agiert« worden, sagt Bundeswirt-
schaftsminister Peter Altmaier (CDU).
Von der Leyen versuchte erst gar nicht,
die fallenden Dominosteine aufzuhalten.


Sie verstehe »den Schutzreflex« der Mit-
gliedstaaten, sagt sie. »Aber jetzt ist wich-
tig zu erkennen, dass die Auswirkungen
der Krise zu breit sind, um alleine damit
fertig zu werden. Das gilt vor allem für
unsere Volkswirtschaften.«
Nun will sie wenigstens im Nachhinein
dafür sorgen, dass der freie Warenverkehr
nicht länger stockt und gestrandete Urlau-
ber nach Hause kommen, nach der ersten
Welle des Nationalismus soll abgestimm-
tes Handeln folgen, so ist ihr Plan.
Mittlerweile hat die EU ihre Außengren-
zen abgeriegelt. Von der Leyen erhofft sich

davon nicht nur ein lang ersehntes Signal
der Einigkeit der 27 EU-Länder, sondern
vor allem eine gewisse Entkrampfung
beim Schlagbaumwettlauf im Inneren.
Auch wenn es darum geht, die aufzie-
hende Wirtschaftskrise einzudämmen,
versucht von der Leyen stärker den Takt
vorzugeben. Sie will den EU-Ländern
ermöglichen, nicht verbrauchte Gelder
zur Regionalförderung einzusetzen, die
eigentlich nach Brüssel zurückfließen
müssten. Mit viel Zahlenakrobatik geht es
um 38 Milliarden Euro – ein kleiner Eimer
Löschwasser im großen Virusflächenbrand.
»Zu spät, zu zaghaft, zu wenig«, kritisiert
der SPD-Europaparlamentarier Bernd Lan-
ge. »Alles in allem ist die Reaktion der
Kommission enttäuschend.« Ähnlich sieht
es die europapolitische Sprecherin der

Grünen im Bundestag, Franziska Brantner.
»Alle setzen erst mal auf sich selbst, es fehlt
jemand, der sagt, okay, wir verteilen das,
wir organisieren das«, sagt sie. Der CSU-
Finanzexperte Markus Ferber kritisiert:
»Niemand kann von der Leyen vorwerfen,
dass sie nicht liefert, wo sie keine Kompe-
tenz hat. Die EU aber ist dort zu langsam,
wo sie etwas zu sagen hätte.«
Von der Leyen arbeitet an weiteren
Regelungen, um den Wirtschaftseinbruch
zu kontern. So sollen Länder künftig die
Schuldenregeln des Stabilitätspakts weit-
gehend ignorieren dürfen. Auch die von
Deutschland stets abgelehnten gemeinsa-
men Schuldtitel der EU-Länder, in Brüssel
bereits »Coronabonds« getauft, schließt
von der Leyen nicht aus. »Das Prinzip
muss sein, dass wir Optionen vorbereiten,
die im äußersten Fall helfen können«, sagt
sie. »So etwas von vorneherein auszu-
schließen, ist in dieser so noch nicht da
gewesenen Krise nicht klug.«
Noch lässt sich nicht sagen, wie Europa
aus dieser Krise hervorgehen wird. Von
der Leyens Agenda, der Grüne Deal für
ein klimaneutrales Europa, ist vermutlich
erst mal passé. Stattdessen sind längst
überwunden geglaubte Reflexe wieder da:
Misstrauen, Schlagbäume, Nationalismus.
Europa hat schon viele Krisen überstan-
den, die Gemeinschaft hat sich, um die
Sprache der Virologen zu benutzen, als er-
staunlich resistent erwiesen. Doch dieses
Mal finden sich im verwaisten EU-Viertel
und am Telefon kaum Beamte und Diplo-
maten, die besonders optimistisch sind.
Es wäre schon viel gewonnen, wenn es
von der Leyen gelänge, eine zunehmend
knappe Ressource in Europa wieder zu
heben: Solidarität. Mitgliedstaaten, die
den Verkauf von medizinischer Ausstat-
tung in andere EU-Länder verhindern, hat
sie bereits Strafen angedroht. Dass dafür
nicht einfach ein Appell reicht, zeigt das
europäische Problem.
Von der Leyen tut sich auch schwer, die
Emotionen der EU-Bürger zu erreichen.
Bundeskanzler Gerhard Schröder stapfte
beim Jahrhunderthochwasser im Wahl-
sommer 2005 einfach in Gummistiefeln
los und schüttelte jede Hand, die sich ihm
entgegenstreckte. Von der Leyen hat kurz
erwogen, nach Rom zu fliegen, um den
Menschen dort ihre Anteilnahme zu de-
monstrieren. Doch die italienische Regie-
rung hatte bereits Reisen für die eigenen
Bürger verboten, ein Besuch der Kommis-
sionspräsidentin hätte seltsam gewirkt. Al-
les, was von der Leyen blieb, war, ein kur-
zes Video aufzunehmen, dessen Botschaft
dann ins Italienische übersetzt wurde.
Manche fanden sogar das unangemessen.
Markus Becker, Julia Amalia Heyer,
Peter Müller, Gerald Traufetter
[email protected]

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Coronakrise

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und Misstrauen.


JENS SCHLUETER / AFP
Lkw-Stau vor polnischer Grenze
Gefahr für den Binnenmarkt
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