Der Spiegel - 21.03.2020

(Michael S) #1
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Coronakrise

E


s ist, seit Jahrhunderten, immer das Gleiche. Die Empö-
rung über die Menschen, die es nicht wahrhaben wollen.
Die Belustigung über Leute, die zu früh Alarm schlagen.
Die Politiker und Beamten, die beschwichtigen. Die Wis-
senschaftler, die wenig wissen. Die Ausschweifungen derer, die
sich unsterblich fühlen. Die einfachen Leute, die zu Helden werden.
Die vermeintlich Vornehmen, die nur an sich selbst denken. Ge-
schichten über Verschwörungen. Suche nach Schuldigen. Immer
das Gleiche.
Wenn eine Seuche über die Menschheit kommt, werden archai-
sche Züge sichtbar, die sonst unter der Decke des Alltags schlum-
mern. Der französische Historiker Jean Delumeau, erst Mitte Ja-
nuar hochbetagt gestorben, hat sie in seiner klassischen Studie
»Angst im Abendland« gültig beschrieben. Seine »Geschichte kol-
lektiver Ängste« zeigt, wie Gesellschaften und Einzelne im Ange-
sicht abstrakter Gefahr reagieren, wie sie funktionieren, und seine
Befunde sind nicht ermutigend. Der Mensch verliert sehr schnell
alle Menschlichkeit, wenn es ihm an den Kragen geht, und doch
zeichnen sich Einzelne gleichzeitig aus, als über-menschlich.
So auch jetzt. Es geht nicht um Pest und Cholera und Hexen,
wie bei Jean Delumeau, aber doch um ein tückisches Virus. Die


Coronakrise, die Rom, Madrid, Paris schon in Geisterstädte ver-
wandelt hat, sickert nun auch im Ernst ins deutsche Bewusstsein.
Die Kanzlerin spricht im Fernsehen ganz gegen ihre Art und bittet
das Volk, das Ernste ernst zu nehmen. Sie wird bald, wenn nicht
alles täuscht, Verbote verkünden müssen. Die Angst, die schon
umgeht, lähmt den Verstand.
Wer wissen will, wie weit sich das Virus unter der Oberfläche
der scheinbaren Ruhe im Land schon ausgebreitet hat, sollte zum
Beispiel die Zahlen kennen, die die Servicenummer der Bundes-
agentur für Arbeit betreffen: An normalen Tagen registriert die
Agentur rund 60 000 Anrufe in zehn Stunden. In diesen Tagen
waren es in der Spitze mehr als 100 Anrufe pro Sekunde, 6000
Anrufe in der Minute, bis zu 360 000 in einer Stunde. Am Apparat
Menschen, die das Morgen fürchten. Die wissen wollen, ob sie
noch Geld bekommen. Wie das mit dem Kurzarbeitergeld funk-
tioniert. Was nun werden soll.
Jeder richtet sich anders ein. Jedem zeigt die Seuche ein anderes
Gesicht. Die Redaktion des SPIEGELhat Stimmen, Eindrücke,
Szenen gesammelt, in denen sich zeigt, dass die deutsche Lebens-
welt in diesen Zeiten nicht mehr in eine Fernsehansprache der
Kanzlerin passt.

Kapitel 1 :


Von der Furcht und von
den Ängsten

Lousia W.,27, aus Hamburg, hat am
Sonntag ihren Entbindungstermin

»Es ist mein erstes Kind. Ein Mädchen.
Im Moment ist die Lage noch so, dass
mein Freund Sam mit in den Kreißsaal
darf und dann mit auf die Station ins Fa-
milienzimmer. Aber meine Hebamme
sagt, das könne sich jede Minute ändern.
Für normale Besucher ist das Kranken-
haus längst geschlossen. Die Vorstellung,
dass mein Freund bei der Geburt even -
tuell nicht dabei ist, macht mich sehr
traurig. Die ganze Schwangerschaft über
haben wir uns vorgestellt, wie der Tag
sein wird, an dem unser Baby zur Welt
kommt. Für uns stand immer fest, dass
wir es gemeinsam willkommen heißen.
Das kann nicht sein, dass Papa dann
nicht bei Mama ist. Diesen Moment
können wir nie wieder erleben, dafür
gibt es kein Rettungspaket.«

Eva,54, Hamburg

»Warum jetzt auch noch dieses verdamm-
te Virus? Mein Leben ist sowieso aus den
Fugen geraten. Mein Vater hat Krebs,
Bauchspeicheldrüsenkrebs im fortge-
schrittenen Stadium. Meine Mutter ist
jetzt auch krank. Ihre Diagnose kam An-
fang März, sie hat Tumore in der Lunge
und in den Knochen. Sie liegen beide in
der Uniklinik Eppendorf, getrennt von -

einander, mein Vater sogar auf der Inten-
sivstation. Unsere Besuche waren wegen
des Coronavirus zunächst stark einge-
schränkt. Meine Familie und ich, wir
durften nur noch einzeln kommen, eine
Person pro Tag. Seit Donnerstag gilt ein
Besucherstopp für das ganze Kranken-
haus. Wir können jetzt nur telefonieren,
Nachrichten zuschicken und hoffen, dass
wir irgendwann alle wieder zu Hause
sein werden. Dieser Gedanke ist für mich
kaum auszuhalten: Meine Eltern könn-
ten sterben, jeder für sich allein, umge-
ben von Maschinen statt ihrer Familie.«

Joachim Mohr, 57, SPIEGEL-Redakteur

»Alte und Kranke sind besonders gefähr-
det, heißt es jetzt überall, und wahr-
scheinlich denken die meisten Menschen
dann an 87-Jährige mit Krebserkrankun-
gen im finalen Stadium. Doch das ist
Quatsch! Hunderttausende besonders ge-
fährdete Menschen stehen voll im Leben,
ich bin selbst ein Beispiel: 57 Jahre alt,
verheiratet, ich habe eine 13-jährige
Tochter, arbeite seit mehr als 25 Jahren
beim SPIEGEL, führe ein weitgehend
normales Leben – und bin doch ein be-
drohter Risikopatient. Ich wurde mit
einem mehrfach missgebildeten Herz ge-
boren, habe fünf operative Eingriffe an
meiner Blutpumpe hinter mir, leide an
komplizierten Herzrhythmusstörungen.
Bei einem Infekt mit dem Coronavirus
wird es für mich sehr schnell sehr gefähr-
lich, lebensgefährlich. Ich will aber nicht
fünf Jahrzehnte mit meinem miserablen
Herz gekämpft haben, um jetzt an die-
sem blöden Virus zugrunde zu gehen.
Dafür bin ich aber wie alle anderen

Risiko patienten auf die Unterstützung
meiner Mitmenschen angewiesen.
Verdammt, Leute, bleibt zu Hause,
rettet Leben!«

Robert Veltmann,53, Geschäftsführer
der GEBEWO, Soziale Dienste, in Berlin

»Für obdachlose Menschen ist die Lage
dramatisch. Vom Hilfesystem fällt jeden
Tag mehr weg: Die Tafeln haben Proble-
me mit der Lebensmittelversorgung, Ta-
gesstätten und Arztpraxen für Obdach -
lose schließen, das Angebot der Berliner
Kältehilfe muss erheblich reduziert wer-
den. Viele Obdachlose haben sich noch
gar nicht bewusst gemacht, dass sie in
einer tragischen Art und Weise massiv
von der Pandemie betroffen sein werden.
Viele Gäste in unseren Notunterkünften
haben mehr Angst vor einer Schließung
als vor einer Infektion. Diese Menschen
müssen einfach jeden Tag ums Überle-
ben kämpfen. Deshalb ein Appell: Wenn
Sie Menschen auf der Straße sehen, die
sichtbar krank sind, rufen Sie bitte einen
Notarzt. Der Staat hat eine gesetzliche
Pflicht zu helfen, auch in Krisenzeiten.
Solidarität ist wichtiger denn je, gerade
in Zeiten des Social Distancing.«

Martina Scheuren, 60, geprüfte
Stadtführerin, Hamburg

»Als ich vorvergangenen Freitag in mei-
nen Kalender schaute, hatte ich noch
acht Buchungen: Rathaustouren, Rund-
gänge durch die Elbphilharmonie, eine
Stadtführung für Gäste eines Geburts -
tages. Am Sonntag war alles abgesagt,
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