- APRIL 2020 DIE ZEIT No (^1615)
D
a steht er nun, der Pas-
tor, und würde gerne
ein paar Sätze mit der
alten Dame sprechen,
die mit ihrem Rollator
an ihm vorbeigeht,
Frau Schmidt, die Äl-
teste in seiner Gemeinde, 91 Jahre, aber die
Glocken der Hoffnung läuten zu laut.
Immer mittags um zwölf läuten in den
Kirchen in Norddeutschland dieser Tage die
Glocken, fünf Minuten lang, als »Zeichen
der Hoffnung in schwerer Zeit«, auch in der
St.-Petri-Kirche in der Schillerstraße in Ham-
burg-Altona, nur tönen sie hier besonders
laut. Die Automatik ist kaputt. Statt einer
einzelnen Glocke läuten alle vier Glocken
gleichzeitig und überdecken an diesem Sams-
tagmittag die Stimme des Pastors. Er müsste
ein, zwei Schritte nach vorne, müsste näher
ran an Frau Schmidt, dann wäre er zu verste-
hen, aber er muss ja Abstand halten.
Und so geht Frau Schmidt nun weiter
und bringt ihre Einkäufe vom Wochenmarkt
nach Hause.
Jan Steffens, Nordfriese, seit acht Jahren
Pfarrer an dieser Kirche, ist ein großer, schmaler
Mann. In Jeans und Pulli steht er vor dem Pas-
torat und jätet Unkraut im Beet an der Straße.
Er ist gerade 62 geworden, wirkt aber viel jün-
ger, normalerweise trainiert er dreimal die
Woche im Altonaer Turnverband in der Nach-
barschaft, aber das geht ja jetzt auch nicht mehr.
Die St.-Petri-Kirche ist ein Backsteinbau
im neugotischen Stil. Neben der Kirchentür
hängt ein Schild, auf dem steht: »Tritt ein!
Die Kirche ist offen«.
Jetzt allerdings ist die Kirche zu. An der
Kirchentür selbst hängt ein DIN-A4-Zettel:
»Bis auf Weiteres bleibt die St.-Petri-Kirche
geschlossen!«
Eine geschlossene Kirche – das trifft in
erster Linie ältere Menschen aus dem Viertel.
Es sind vor allem sie, die zum Gottesdienst
kommen. Der Gottesdienst aber fällt aus.
Genau wie der Seniorenkreis am Mittwoch.
Gestern musste Pastor Steffens auch die für
den Mai geplante Seniorenreise absagen, eine
gemeinsame Woche im Weserbergland.
Steffens tut dennoch, was er kann. In einer
Plastikbox vor der Kirche liegt hundertfach ge-
druckt der Gemeindebrief, damit sich wenigs-
tens jeder, der vorbeikommt, einen mitnehmen
kann. Für morgen will er eine »Predigt to go«
vorbereiten und an die Kirchentür hängen. Ein
Online-Gottesdienst wäre auch eine Möglich-
keit, theoretisch, aber von den gut 30 Leuten,
die mittwochs in den Seniorenkreis kommen,
hätten nur drei einen Computer, sagt Steffens.
Was sie alle haben: ein Telefon. Und so
setzt sich Pastor Steffens in diesen Tagen
abends oft in sein Amtszimmer und ruft die
alten Menschen rund um die Schillerstraße
an. »Telefonitis« nennt er das.
Es gibt in Deutschland 2200 Schillerstraßen.
Eine führt durch Hamburg-Altona, Postleitzahl
22767, sie ist knapp einen halben Kilometer
lang, im Norden grenzt sie an eine Einkaufs-
straße, dort gibt es ein paar betongraue Büro-
gebäude, eine Arztpraxis, ein Fitnessstudio, im
Rest der Straße stehen Wohnhäuser.
Das Stadtviertel, durch das die Schiller-
straße verläuft, ist nicht reich, aber auch nicht
arm, die Elbe ist nah, die Innenstadt auch. In
der Schillerstraße stehen Gebäude einer
Wohnungsbaugenossenschaft neben sanier-
ten Altbauten, finden sich Fas sa den, von de-
nen die Farbe blättert, neben frisch verputz-
ten Neubauten, denen man die hohen Mie-
ten schon von außen ansieht.
Unten, im Süden der Schillerstraße, ragt
die Kirche St. Petri auf, schräg gegenüber
steht ein Kiosk, ein paar Häuser weiter eine
Kita: die »Minikratzbürsten«. Und ganz am
Ende ein Bau, der eigentlich schon zur nächs-
ten Straße gehört: ein Studentenwohnheim.
Was die Schillerstraße in Hamburg-Altona
mit allen Schillerstraßen in Deutschland eint:
Seit mehr als zwei Wochen gilt die Kontakt-
sperre. Wie geht es den Menschen, die hier le-
ben und arbeiten, in dieser Situation? Wie ver-
ändert sich das Leben in einer Straße im Aus-
nahmezustand?
Wir, zwei Reporter der ZEIT, waren
eine Woche lang in der Schillerstraße un-
terwegs. Wir haben Zettel in Briefkästen
geworfen und an Türen geklingelt, haben
in Gegensprechanlagen gerufen und in
Treppen häusern mit Abstand unser Anlie-
gen erklärt. Manche Menschen öffneten
ihre Türen nur einen Spalt und schickten
uns weiter, andere freuten sich über Besuch
in der Isolation. Wieder anderen war es lieber
zu telefonieren.
Die Arztpraxis
Vor einem der Gebäude im Norden der
Schillerstraße sammelt sich langsam eine
kleine Gruppe Menschen. Darunter ein älte-
rer Mann mit Brille und schlechter Laune,
der sich einen Schal vor das Gesicht hält.
Wieso er hier draußen steht? Der Mann
dreht sich weg und grummelt in das Stück
Stoff vor seinem Mund: »Na, anders geht’s ja
nicht.« Der Mann wartet auf ein Rezept für
ein Medikament, aber er darf nicht mehr in
die Praxis.
So wie am Kircheneingang hängen auch an
der Tür zur Praxis verschiedene Schilder. Ein
großes Stopp-Zeichen, der Hinweis für den
Lieferanten von Gesichtsmasken, bitte dreimal
zu klingeln, und mehrere Zettel mit neuen
Zeiten: eine spezielle Infektsprechstunde für
jene, die womöglich mit dem Co rona virus in-
fiziert sind, Montag, Dienstag und Donnerstag
ab 17 Uhr, Mittwoch ab 14 Uhr, Freitag ab 12
Uhr. Und die Zeiten der improvisierten Rezept-
ausgabe, täglich 12 bis 13 Uhr. Sie findet durchs
Fenster statt. Deshalb warten jetzt die Men-
schen auf der Straße vor der Praxis, in großem
Abstand zu ein an der: der Mann mit dem Schal,
eine Frau im Rollstuhl, ein älterer Mann in
Lederjacke mit Base ball- Cap, eine kleine Frau
mit Krücke.
Um zwölf schwingt eines der großen
grauen Fenster im Erdgeschoss auf, eine
Sprechstundenhilfe mit Gesichtsmaske taucht
auf und fängt an, die Namen der Wartenden
abzufragen und ihnen Rezepte aus dem Fens-
ter zu reichen.
Am nächsten Morgen entschuldigt sich
Beatrice Roßbach, die Ärztin, für die Unord-
nung in ihrem Behandlungszimmer. »Ich
habe seit einiger Zeit keine Patienten mehr
hier gehabt, für Untersuchungen haben wir
ein Zimmer direkt neben dem Eingang ein-
gerichtet«, sagt sie. Roßbach ist Allgemein-
ärztin, seit fünfeinhalb Jahren hat sie die
Praxis in der Schillerstraße, in der es aussieht
wie in vielen Arztpraxen: weißer Tresen,
Plastik stühle, kaltes Licht – und doch irgend-
wie ungewohnt. Das Wartezimmer, die Un-
tersuchungszimmer, die Büros, alles leer.
Roßbach hat ein freundliches Gesicht,
was man aber nur erkennt, wenn man ihren
Namen googelt und ihr Foto sieht. Im per-
sönlichen Gespräch trägt sie eine Maske.
An einem Morgen Anfang März, als über die
Pandemie in Deutschland noch immer im Kon-
junktiv gesprochen wurde, betrat Beatrice Roß-
bach ihre Praxis, die voll war, wie immer. Die
Patienten standen nicht nur im Wartezimmer,
sondern auch draußen auf dem Gang.
Da habe sie sich gedacht: »Wenn auch nur
einer von denen dieses Virus trägt, dann wer-
den vermehrt Patienten mit Vorerkrankung
sterben.« Ihre Praxis, in der die Menschen
eigentlich Hilfe finden sollen, war zu einem
Ort der Gefahr geworden, so sah sie das.
Also sperrte sie zu. Seitdem gibt es die
Rezepte durch das Fenster. Patienten, die
untersucht werden müssen, dürfen die Praxis
nur noch einzeln betreten, sie bekommen
eine Maske aufgesetzt und Handschuhe an-
gezogen.
Roßbach gehörte zu den ersten Ärzten
der Stadt, die diesen Weg gingen. Das war
noch vor dem Ende der Hamburger Früh-
jahrs fe rien, noch bevor die Italien- und Ös-
Ein halber
Kilometer in
Deutschland
Die Schillerstraße in Hamburg-Altona ist eine von 2200 Schillerstraßen in der Bundesrepublik. Wie überall im Land gilt auch hier die Kontaktsperre.
Wie halten die Menschen das aus? Ein Rundgang VON FRANCESCO GIAMMARCO UND NICOLA MEIER; FOTOS: JULIUS SCHRANK
Die Allgemeinärztin Beatrice Roßbach testet
Patienten aus dem Fenster heraus auf Corona Fortsetzung auf S. 16
Die Schillerstraße hat einen Kiosk, eine Kita – und einen prominenten Bewohner
Die Medizinstudentin Maxi Marquardt arbeitet wegen Corona jetzt auf der Intensivstation der Uni-Klinik
Jan Steffens ist Pastor der St.-Petri-Kirche
DOSSIER
barré
(Barré)
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