Bei einer Epidemie jeden Einzelnen retten zu wollen – das hat es so noch nie in der
Geschichte gegeben. Die Moderne erfindet sich gerade neu VON ELISABETH VON THADDEN
U
m ein Haar wäre es die kürzeste Bio
grafie geworden, die es je in der Lite
ratur »aller Zeiten und Länder« gab:
Das Leben des kleinen Oliver Twist
war fast schon zu Ende, als es in einem
Londoner Armenhaus begann. Das Neugeborene
rang um Luft, so erzählt Charles Dickens in seinem
Roman von 1837, und da außer der sterbenden
Mutter nur eine betrunkene Almosenempfängerin
und ein gänzlich gleichgültiger Arzt zugegen waren,
»fochten Oliver und die Natur die Sache allein mit
ein an der aus«. Der Junge überlebte. Die Mutter
hingegen starb, entkräftet, ehelos, ungeschützt, und
die elende Alte raunzte sie zum Abschied noch an,
sie solle sich nicht so anstellen beim Sterben.
In dem Jahr, als Dickens seinen Roman mit
diesem Skandal des vorzeitigen Todes beginnen
ließ, starb in Zürich der Arzt und Dichter Georg
Büchner 23jährig an einem Typhus, dem Büch
ners revolutionäres Gleichheitsideal herzlich egal
war. Die Schriftstellerin Bettine von Arnim, die
den Tod in ihrem Elternhaus und unter den jun
gen Intellektuellen der Romantik nach Belieben
wüten sah, schrieb den rebellischen Satz »Er ist
falsch, der Tod«. Da hatte der britische Theologe
Thomas Malthus längst kühl proklamiert, dass in
dieser bevölkerungsreichen neuen Epoche mit ih
ren knappen Ressourcen nun mal nicht jeder das
Recht beanspruchen könne, zu überleben.
Ob der Tod falsch ist oder nicht, gewiss jedenfalls
birgt er in seiner Natur einen zutiefst historischen
Kern. Mag Andreas Gryphius seine Lebenszeit im
Barock noch ergeben in Gottes Hand gelegt haben,
in Versen, die den Ton der biblischen Predigerzeilen
aufriefen, nach denen jedes Ding seine Zeit hat, und
so auch das Geborenwerden und das Sterben: In der
Moderne hingegen tritt der menschliche Tod in ei
nem Netz aus Menschengemachtem auf, in einem
Dickicht von Konvention und Kontrolle, von Nor
men und Techniken. Die drei existenziellen Fragen,
welcher Tod als vorzeitig, welcher als vermeidbar,
welchen es durch Staat und Gesellschaft zu verhin
dern gilt, gehören in der biopolitischen Moderne zu
den offenen Macht und Verhandlungsfragen. Je
nachdem, wo einer zufällig geboren wurde, treten sie
bis heute anders auf.
Und alle drei Fragen stellen sich jetzt neu in
Gestalt eines Virus, das vor allem Menschen über
65 gefährdet und dabei doch als Verursacher eines
vorzeitigen Todes gilt. Das Virus mit dem demo
grafischen Eigensinn wirkt deshalb wie ein Ver
größerungsglas, durch das die betagte Spätmoder
ne sich selbst erkennt: Sie ist, damit jeder mit
samt seinen Zivilisationskrankheiten die durch
schnittliche Lebenserwartung von 80 Jahren er
reicht, auf die Fürsorge durch ein hochkomplexes
Gesundheitssystem angewiesen. Insbesondere jene
Millionen, die jetzt aus Alters und Vorerkran
kungsgründen als Risikogruppen gelten und die
ihr Leben auch diesem System verdanken, vor
dem alle Bürger des Landes gleich sein sollen.
Und nur sie.
Jeden Tag sterben in Deutschland rund 2500
Menschen, aber vorzeitig und gar vermeidbar soll
möglichst keiner gehen: Darin läge eine Kränkung
jener modernen Steuerungskraft, die philosophisch
in den postmodernen Dekonstruktionen längst
abgedankt hatte und nun in Gestalt von ausgezeich
netem Intensivpersonal, lernenden Gesundheits
ministern, flexiblen Herstellern von Beatmungs
geräten, Institutschefs und Impfstoffforscherinnen
zurückgekehrt scheint. Als wolle sich die Moderne,
die Oliver Twists Mutter elendiglich sterben ließ,
mit ihren Spitzenkräften noch einmal ganz neu auf
ihre Kernkompetenz konzentrieren.
Für diesen erstaunlichen Neustart einer abge
sungenen Epoche hat die politische Philosophie be
reits einen ihrer stärksten Entwürfe anzubieten: Dass
ein Tod vor der Zeit zu verhindern ist, als Heraus
forderung an die Gerechtigkeit wie an die Gleichheit,
haben die amerikanische Philosophin Martha Nuss
baum und der Ökonom Amartya Sen seit zwei Jahr
zehnten als Menschenrecht für jede und jeden welt
weit formuliert. Das normative Ziel ihrer Philosophie,
die um die Welt geht, lautet: »not dying prematurely«.
Die CoronaNachrichten, in denen jetzt der qual
volle Tod von einsamen Hochbetagten, von Herz
Kreislaufkranken Rentnern, schwarzen Obdachlosen
in New York, jungen indischen Wanderarbeitern und
einer 16jährigen Französin im LiveTicker in Serie
geht, während systemrelevante Krankenhäuser in den
Verdacht geraten, Virenschleudern erster Ordnung
zu sein, dramatisieren die Frage stündlich: Wann ist
vorzeitig? Für wen?
Die Statistik, auch sie grundmodern, hat dafür
Daten zu bieten, die beachtenswert sind, denn sie
prägen das Unbewusste und sind doch nur spröde
Konvention: Den Tod bei der Geburt etwa führt das
deutsche Robert KochInstitut in der Statistik des
Gesundheitsberichts von 2011 unter »vermeidbare
Sterblichkeit«, auch die Tuberkulose fällt unter diese
Kategorie. Während bis vor Kurzem in den Gesund
heitsstatistiken noch ein Sterbealter von 65 Jahren
zugrunde gelegt wurde, haben sich seit 1993 »die in
der OECD und WHO vertretenen Länder darauf
verständigt, Sterbefälle im Alter zwischen einem und
69 Jahren als ungewöhnlich anzusehen«. Unter »vor
zeitig« wird der Tod durch Krebs oder infolge von
Zivilisationseigenheiten wie Übergewicht und Al
kohol bis hin zu den Zigtausenden an Toten durch
Krankenhauskeime sauber gelistet.
Es gehört zu den nun so offensichtlichen wie ver
wirrenden Paradoxa moderner Gesellschaften, dass
sie manche der vorzeitigen Todesarten hinnehmen
und ins Unsichtbare der Statistik verdrängen, andere
Tode hingegen nicht im Geringsten akzeptieren wol
len. Jeden Tag sterben weltweit fast 5000 Menschen,
garantiert vorzeitig, an jener Tuberkulose, die in
Deutschland als vermeidbar gilt, weil man sie zuver
lässig bekämpfen kann. Zuletzt war der Begriff »vor
zeitig« erst im vergangenen Jahr in der Debatte um
die Feinstaubbelastung durch den Straßenverkehr
geläufig, als etwa die Europäische Umweltagentur von
399.000 vorzeitigen Todesfällen in der EU und allein
13.000 in Deutschland berichtete.
Zum anderen aber nimmt es die Gesellschaft
beim Sterben immer genauer: Inzwischen werden
nicht einfach Todesfälle gezählt, sondern die dadurch
verlorenen Lebensjahre und ihre Lebensqualität
statistisch errechnet. Die millionenfachen Soldaten
tode, die in die Staatsräson eingepreist waren, die
vorzeitigen Tode in der Kohle oder Chemieindus
trie, das massenhafte Krepieren der Sklaven und in
den Kolonien werden nachträglich erforscht, beklagt
und längst nicht mehr als Zivilisationskosten hin
genommen. Wo das ungehinderte Sterben dennoch
weitergeht, in den Kriegsgebieten des Kongo oder
im Nahen Osten, gilt es als Menschenrechtsverstoß,
und die Untätigkeit der Weltgemeinschaft sorgt zu
mindest für Unruhe, für politische Opposition und
für ein schlechtes Gewissen.
Aber warum ist ausgerechnet der vorzeitige Tod
durch Covid19 nicht hinnehmbar? Die Lektion der
Gegenwart scheint verblüffend einfach zu sein: Diesen
vermeidbaren Tod der Schwächsten halten moderne
Gesellschaften nicht mehr aus, weil er durch rasende
Überrumplung vor aller Augen ihre schönste Errun
genschaft kollabieren lässt – die staatliche Vorsorge
und Fürsorge für jede und jeden. Ob die Erkrankten
nun 15, 65 oder 85 Jahre alt sind – es gilt der Gleich
heitsgrundsatz.
Von einem historischen Fortschritt darf also ein
mal wirklich die Rede sein: Denn seit Jahrzehnten
sinkt in der ganzen Welt die Bereitschaft, vorzeitiges
Sterben zu tolerieren – unabhängig davon, ob
Unfälle, Schadstoffemissionen, Krankheiten oder
Kriege der Grund sind. Dies ist ein Beweis für die
global gestiegene Achtung vor dem Wert jedes Le
bens, seiner Qualität und dem individuellen Recht,
der Gesundheit nicht beraubt zu werden.
Darin ruht eine weltgesellschaftliche Kraft der Ver
änderung. Die Moderne setzt noch einmal an, anders.
Der verblüffende Neustart, dessen Zeugen wir gerade
sind, kann uns den Wert des guten Lebens neu vor
Augen führen. Er kann aus den Exzessen des indivi
duellen Gesundheitswahns, aus den Träumen vom
ewigen Leben, dem Aufschieben des Todes um jeden
Preis herausführen und dafür das Bedürfnis nach Nähe
und Gemeinsamkeit stärken. Die Gesellschaft lernt
nun, die Schwäche und Verletzlichkeit, den Zufall
und die Liebe zum sterblichen Mängelwesen, also
jenes UrMenschliche wahrzunehmen, das wir in der
Quarantäne so schmerzlich vermissen.
Das andere Gesicht einer Moderne, die sich auf
Grundbedürfnisse besinnt, kann umso anziehender
wirken. An die Stelle der Ruinenlandschaften west
licher Allmachtsfantasien tritt ein Bild des Menschen,
das in der Ideenwelt von Martha Nussbaum entfaltet
ist und nun aktueller wirkt denn je: Menschliches
Leben, wenn es gelingen darf, kennt das Spielen, das
Nachdenken, die Kunst, das Lieben und Trauern. Es
kennt das gemeinsame politische Handeln, die
Verbundenheit der Kreaturen und das selbstständige
Bewirtschaften von etwas Eigentum. Es ist mit
Nahrung, mit Schutz vor Gewalt versorgt. Und mit
Medizin. All dies ist für ein gutes Leben geradezu
systemrelevant. In dessen Ermöglichung käme
moderne Politik zu sich selbst.
Wenn der angstvolle Pausenmodus, den die Welt
über sich selbst verhängt hat, ein Gutes haben kann,
dann dies: dass er die vitalen Fragen nach dem gelin
genden Leben aufwirft, jenseits von Jahreszahlen. Was
das Sterben bedeutet, ist ein Stoff, der weder einer
betrunkenen Armenhäuslerin noch den modernen
Statistikern überlassen sein sollte. Corona stellt uns
auch vor die Frage des gelingenden Sterbens.
Prinz Prospero im Weißen Haus
Donald Trump hat seine tägliche Pressekonferenz zur dämonischen Veranstaltung ausgebaut: Offenbar genießt er die Angst seines Volkes VON PETER KÜMMEL
A
merika hat unter Trumps Führung so sorglos
und herablassend auf die CoronaPandemie
reagiert, dass sich viele Kommentatoren an
Edgar Allan Poes Erzählung Die Maske des Roten
Todes erinnert fühlten. Darin geht es um einen Prin
zen namens Prospero, der mit seinem Hof vor der
Pest auf einen luxuriösen Landsitz flieht und Tage
und Nächte durchfeiert. Prospero wähnt sich völlig
sicher. Doch im hintersten Zimmer seines Palastes
erwartet ihn, am Ende des Festes: der Rote Tod.
Bisher war für die Kommentatoren natürlich
Trump dieser Prospero. Nun aber, nach seinen jüngs
ten Pressekonferenzen im Weißen Haus, drängt sich
eine neue Deutung auf. Trump ist weniger mit Pros
pero zu vergleichen als mit dem Roten Tod selbst.
Denn auch er frisst sich am fremden Schmerz satt.
Und er wird durch das Elend um ihn herum noch
mächtiger.
Tatsächlich scheint Trump die Furcht zu genie
ßen, die er seinem Volk einjagt. Er benützt öffentliche
Auftritte dazu, die Panik, die mittlerweile wohl auch
in ihm nistet, an seine Untertanen weiterzugeben.
Seine Auftritte sind Veranstaltungen des Terrors. Er
lügt, er beleidigt, er fantasiert, er stiftet Verwirrung,
wo er kann, er straft politische Gegner mit dem Ent
zug von Zuwendung, Information und lebenswich
tigem Material. Er erfasst die Katastrophe ausschließ
lich in ihrem anekdotischen Charakter – als eine
Kette von Schreckensgeschichten, die ihm von
»Freunden« zugetragen werden und die er im In
nersten ungerührt, geradezu prahlend, zum Besten
gibt. Ja, er nähert sich dem offenen Wahnsinn, wenn
er, mit der hauchenden Stimme eines Schamanen,
seinen Zuschauern ein ungeprüftes Medikament
empfiehlt: »Probiert es aus! Was habt ihr schon zu
verlieren?«
Das Wonneproppengesicht, das er sonst gern
trägt, wenn er eigene Heldentaten erwähnt, er zeigt
es jetzt noch, da er von den schweren Wochen spricht,
die seinem Land bevorstehen: viele Tote! Der Mann
ist so gestrickt, dass sein Gesicht leuchtet, sobald er
hohe Zahlen ausspricht: Es ist, ob er will oder nicht,
ein Rest von Jubel in seiner Stimme, wenn er das
Wort »Million« in den Mund nimmt.
Vor einigen Tagen haben seine Gesundheitsbera
ter Anthony Fauci und Deborah Birx ihm beige
bracht, dass ein sorgloser Umgang mit der Seuche bis
zu 2,2 Millionen Amerikaner das Leben kosten
würde, während eine weitgehende Stilllegung des
Landes die Opferzahl im besten Fall auf 100.000
drücken könnte. Die Differenz zwischen diesen
beiden Zahlen hat Trump instinktiv als seinen per
sönlichen Gewinn erkannt. Er tritt nun auf wie ein
Händler, der mit dem Virus direkt verhandelt, nach
dem er es zunächst schlau ignoriert hat, und dem es
gelungen ist, den Gegner von 2,2 Millionen auf
100.000 herunterzuhandeln. Im Klartext: Er per
sönlich erspart den Amerikanern zwei Millionen
Tote – The Art of the Deal.
Aus der täglichen Pressekonferenz hat er eine
Show gemacht im Stile jener Weihnachtsbenefiz
shows, in denen vor unseren Augen die Hilfs angebote
im Studio eintreffen: wieder 100.000 Paar Hand
schuhe! Noch einmal 3 Millionen Schutzmasken!
Schon wieder 10.000 neue Beatmungsgeräte! Alles
von ihm organisiert!
Derweil sieht man in seinem Rücken das Schau
spiel der Selbsterniedrigung, das peinigende Mit
gehangensein seiner medizinischen Berater Fauci und
Birx, deren Gesichter ein BusterKeatonartiger
Stoizismus prägt: Sie krümmen sich wohl innerlich
in glühender Fremdscham. Sie haben die fürchterlich
schwere Aufgabe, zwei unberechenbare Größen zu
zähmen: das Virus – und den Präsidenten.
Wie erträgt Trump selbst seine Lage? Einen nor
malen Menschen müssten Angst und Schuld von
innen auffressen. Bei Trump läuft es anders: Er leitet
das alles an sein Volk weiter.
Dennoch, er hat jetzt manchmal die Stimme eines
innerlich Ausgehöhlten. Als fassten seine Lungen
nicht genug Luft. Offenbar ahnt sogar dieser von
Verantwortung und Empathie grundsätzlich nicht
belastbare Mann inzwischen, was der Begriff »his
torische Schuld« bedeutet.
Doch zu unser aller Unglück vergisst er es gleich
wieder. So ist er, um auf Poe zurückzukommen, Pros
pero und der Rote Tod – der ahnungslose Narr und
der tödliche Dämon, beides in einer Person.
Donald Trump
und sein Berater
Anthony Fauci
Die Särge der Verstorbenen werden desinfiziert, bevor das Militär sie abtransportiert – eine Szene in Bergamo
Fotos: Intertopics/ddp; Mandel Ngan/AFP/Getty Images (u.)
Vom guten Recht
zu überleben
46 FEUILLETON 8. APRIL 2020 DIE ZEIT No 16
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vonZEIT-AutorenkönnenSieauchhören,donnerstags7. 20 Uhr.
Filmkritiken