Neue Zürcher Zeitung - 22.02.2020

(Frankie) #1

Samstag, 22. Februar 2020 SCHWEIZ 13


Die SVP-Politikerin Martina Bircher geht in Aarburg


neue Wege – und halbiert die Spitex-Kosten SEITE 14


Die Schweiz belieferte in den vergangen en 20 Jahren


fast die ganze Welt mit Kryptotechnologie SEITE 15


Die Revision des Erbrechts gerät ins Stocken


Gegen die geplante Vorlage regt sich wegen fehlender Übergangsbesti mmungen Widerstand


KATHRIN ALDER


ImVergleich zu anderen Gesetzen ist das
Erbrecht einebetagteDame. Seit1912 tut
sie ihren Dienst, gealtert ist sie würdevoll,
kaum etwas wurde in den vergangenen
über hundertJahren an ihr verändert.
Doch nun hat sie ihren Zenit überschrit-
ten. Bundesrat undParlament sind sich ei-
nig: Die betagteDame braucht eineVer-
jüngungskur. Unbestritten ist, dass durch
dieRevision des Erbrechts dem Erblasser,
also jenerPerson, dieVermögen vererbt,
mehrFreiheiten gewährt werden sollen.
Der Erblasser soll künftig über einen
grösserenTeil seinesVermögens selber
bestimmenkönnen. Der Ständerat hat
dieRevision in der vergangenen Herbst-
session mit neun Enthaltungen, aber ohne
Gegenstimmegutgeheissen.
Auch die zuständigeRechtskommis-
sion des Nationalrats sprach sich ver-
gangenen Oktober noch deutlich für die
Vorlage des Bundesrats aus. Vorgesehen
war, dass sich der Nationalrat in der
Wintersession über das Geschäft beugen
würde. Die Beratung wurde allerdings
verschoben, eineKommissionssekretä-
rin vertröstete auf dieFrühlingssession.
Ein Blick in das Sessionsprogramm zeigt
nun aber: Die Beratung wurde ein zwei-
tes Mal verschoben. Angesetzt ist sie
neu für die Sondersession im Mai.


«Erhebliche Schwachpunkte»


Doch auch bei diesemTermin dürfte es
kaum bleiben.Auf Initiative der freisin-
nigen Nationalrätin Daniela Schnee-
berger (BL) hat die FDP in derKom-
mission einenRückkommensantrag ge-
stellt. Sie will, dass gewisse Aspekte der
Vorlage noch einmal gründlich über-
prüft werden. Der Grund: Anwältin-
nen und Nachlassplaner, die täglich mit
dem Erbrecht zu tun haben, kritisieren
dieRevision scharf. Deren Bedenken
haben nun offenbar die nationalrätliche
Rechtskommission alarmiert.Laut meh-
reren gut informierten Quellen wurde
dieVorlage tatsächlich neu traktandiert.
Eine der kritischenStimmen aus der
Praxis istTobias Somary, Fachanwalt für
Erbrecht und Leiter derFachgruppe
ErbrechtdesZürcher Anwaltsverbands.
DieReform des Schweizer Erbrechts


habe grosse praktische Bedeutung, sagt
er. «Der Gesetzesvorschlag enthält je-
doch erhebliche Schwachpunkte, die be-
stehende Nachlassplanungen infrage stel-
len, Erbstreitigkeiten schaffen und die
Verlässlichkeit bisherigerTestamenteund
Erbverträge unterminierenkönnen.» Die
umstrittenen Punkte betreffen seiner An-
sicht nachvier Bereiche: «Das fehlende
Übergangsrecht, denRechtsverlust im
Scheidungsverfahren, dieAushöhlung der
ehegüterrechtlichen Meistbegünstigung
und denVertrauensverlust bei bestehen-
den Erbverträgen.»Das mag nunreich-
lich technisch anmuten, hat in der Praxis
aber grosseAuswirkungen.
Anders als bei grösseren Gesetzes-
revisionensonst üblich, sindfür den
Übergang vom alten zum neuen Erb-
recht keine eigentlichen Übergangs-

bestimmungen vorgesehen. Der Bundes-
rat will, dass der Zeitpunkt desTodes ent-
scheidend ist. Stirbt jemand unter altem
Erbrecht, soll dieses angewendet werden,
andernfalls das neue. Doch dieseRege-
lung schafft einen Haufen neuer Pro-
bleme. Die fehlenden Übergangsbestim-
mungen betreffen sämtliche und damit
Abertausende von bereits bestehenden
Testamenten, meintTobias Somary war-
nend.Darin siehterdas Hauptmanko der
Vorlage. Ohne Übergangsbestimmungen
müsse jenesRechtangewendet werden,
das beimTod des Erblassers gelte. Meist
habe der Erblasser seinen letztenWillen
aber bereitsJahre zuvor geäussert, im
Vertrauen auf das geltendeRecht.Kon-
flikte seien vorprogrammiert.
Um das zentrale und unumstrittene
Zielder Revision – mehrFreiheit für

den Erblasser – zu erreichen,sieht die
Vorlage des Bundesrats eineReduk-
tion der Pflichtteile vor. Zu den soge-
nannt pflichtteilsgeschützten Erben ge-
hören der Ehepartner, die Nachkom-
men und, wenn keine Nachkommen
da sind, die Eltern. Deshalb sollen zum
einen die Pflichtteile für die Nachkom-
men gesenkt und jene für die Eltern
abgeschafft werden. Heute beträgt der
Pflichtteil für Kinder dreiViertel, neu
sollen die Pflichtteile der Nachkommen
und Ehepartner vereinheitlicht werden.
Deren Pflichtteil soll die Hälfte des Erb-
anspruchs betragen. Mit anderenWor-
ten: Der Erblasser hat künftig mehr
Spielraum, gemäss den individuellen
familiären Lebensrealitäten zu testie-
ren. Er kann etwa seinen Ehe-,Konku-
binats- oder eingetragenenPartner be-

günstigen oder aber ein Stief- oder be-
sonders hilfsbedürftiges Kind.
Weil einTestamentnach dem soge-
nanntenWillensprinzip ausgelegt wer-
den muss, also strikt nach demWillen des
Erblassers, ist künftig aber beinahe jedes
Testament in Bezug auf darin erwähnte
Pflichtteile unklar:Wen wollte der Erb-
lasser in welchem Umfang begünstigen?
Ohne Übergangsbestimmungen muss laut
Somary jede bestehende Nachlassplanung
überprüft und wenn nötig angepasst wer-
den.Oft seien die künftigen Erblasser
dazu aus gesundheitlichen Gründen in-
des nicht mehr in derLage oder hätten gar
keineKenntnisvom Anpassungsbedarf.
Oder aber die Nachlassplanung sei erb-
vertraglich geregelt und derVertragspart-
ner sei bereits vorverstorben oder zu einer
Änderung nicht bereit. «Aus Sicht derPra-
xis ist zu hoffen, dass die Mängel im lau-
fenden Gesetzgebungsprozess behoben
werdenkönnen», sagt Somary.

Kopfzerbrechenin Kommission


Die fehlenden Übergangsbestimmungen
wurden bereits in derVernehmlassung
kritisiert, etwa vom Schweizerischen
Notarenverband oder vom Bernischen
Anwaltsverband. DerVerzicht auf Über-
gangsbestimmungen verletze den Grund-
satz derRechtssicherheit, heisst es im Be-
richt zurVernehmlassung. Aber auch der
ständerätlichenRechtskommission habe
das Übergangsrecht «etwasKopfzerbre-
chen» bereitet, sagte derAusserrhoder
St änderat Andrea Caroni (fdp.) in der
Herbstsession. Er vertrat in der Debatte
des Ständerats dieRechtskommission.
Man habe überlegt, ob das alteRecht
in jenenFällen, in denen der Nachlass be-
reits verfügt worden sei, weiterhin ange-
wendet werdenkönnte. Doch auch die
dazukonsultierten Experten seien zum
Schluss gekommen, dass eine solche Über-
gangsregelung immer mehr Nachteile als
Vorteile bringe. DieRechtskommission
des Ständerats sehe sich leider nicht in der
Lage, eine gewinnbringende Übergangs-
regelung vorzuschlagen, schloss Caroni.
«Vielleicht findet der Zweitrat noch das
Ei desKolumbus.» DieTatsache, dass die
Rechtskommission des Nationalrats noch
einmal überdieBücher will, gibt dieser
Hoffnung nun neuenAuftrieb.

Bern will Überbrückungsrenten noch im März durchwinken


Der Abwehrkampf gegen die Begrenzungsinitiative der SVP sorgt für Tempo im Bundeshaus


FABIAN SCHÄFER, BERN


Es bleibt spannend.Wirdder kühne
Plan des Bundesrats gelingen? Er will
in weniger als zwölf Monaten eine neue
Sozialversicherung aus dem Boden
stampfen – etwas, das unter normalen
UmständenmehrereJahre dauert. Die
Rede ist von den Überbrückungsleistun-
gen, die künftig ältereLangzeitarbeits-
losebiszurPensionierung erhalten sol-
len. Den Grundsatzentscheid dazu hat
der Bundesrat im Mai 20 19 gefällt. Nun
will dasParlament die neue Sozialver-
sicherung bereits in der bevorstehenden
Session im März definitiv beschliessen.


Wirtschaft istskeptisch


Der Grund für die Eile: Der Sozialaus-
bau istTeil des Abwehrkampfs gegen
die Begrenzungsinitiative derSVP,die
am17. Mai an die Urnekommt. Sie ver-
langt das Ende derPersonenfreizügig-
keit mit der EU und würde damit den
bilateralenWeg generell beenden. Mit
den neuen Sozialleistungenwill der Bun-
desrat die Gewerkschaften dazu bringen,


sich vehement gegen die Initiative ein-
zusetzen und ihreBasis zu mobilisieren.
Diesesteht dem freienPersonenverkehr
teilweise skeptisch gegenüber.
Die Gewerkschafter stehen bereit,
ihrenTeil des Deals zu erfüllen. Am
Montag lancieren sie eine eigene Kampa-
gne für den Erhalt derFreizügigkeit. Ihr
Komitee «Nein zur arbeitnehmerfeind-
lichen Kündigungsinitiative» kündigt
eine «breiteKampagne» an. Und auch
dasParlamentarbeitet fleissig daran,sei-
nen Beitrag zum Gelingen zu leisten.
Die Sozialkommission des Natio-
nalrats hat amFreitageinen grossen
Schrittdarauf zu gemacht, den ehrgei-
zigen Zeitplan einzuhalten. Hinter ver-
schlossenerTür haben die Sozialpoliti-
ker einenKompromiss gefunden, dem
dieVertreter allerParteien zustimm-
ten – abgesehen von jenen derSVP, ver-
stehtsich. Die Kommission hat amFrei-
tag über die Pläne informiert.Damit war
alles klar, wie es schien.Wenige Minuten
später waren dieAussichten jedoch nicht
mehr so klar. Der Arbeitgeberverband
ging sofort auf Distanz: Der neueVor-
schlag mache die Sozialleistungen teu-

rer und verstärke dieFehlanreize. Nun
drohe das Scheiternder Vorlage. DieKri-
tik war härter, als dies bürgerlicheKom-
missionsmitgliedererwartet hatten.
Das sind schlechte Nachrichten für
die Befürworter der Überbrückungsleis-
tungen. Die Arbeitgeber haben das Pro-
jekt bisher mitgetragen. Der Gewerbe-
verband hingegen steht diesem seit je
skeptischer gegenüber. Nun dürfte der
Widerstand aus derWirtschaft zuneh-
men. Allerdings ist fraglich, wie stark
di es dieParlamentarier beeindrucken
wird.Dass einWirtschaftsverband das
Referendum gegen dieVorlage lancie-
ren würde, gilt als nahezu undenkbar.
DerneueKompromissvorschlag führt
tatsächlich dazu, dass dieKosten für den
Bund höher ausfallen. Sie werden neu
auf 270statt 230 MillionenFranken im
Jahr geschätzt (berechnet für 2028).Das
li egt unter anderem daran, dass mehr
Personen vom Sozialausbau profitie-
ren könnten als bisher vorgesehen: Ihre
Zahl erhöhtsich imVergleich zurVor-
lage des Bundesrats von 4600 auf 6200.
DieKommission hat entschieden, dass
nicht nurPersonen in den Genuss der

Leistungenkommenkönnen, die nach
dem 60. Geburtstag ausgesteuert wer-
den.Neu wäre zum Beispiel dieserFall
möglich:Jemand verliert mit 55Jahren
die Arbeit, wird mit 57 ausgesteuert, hält
sich dreiJahre überWasser – notfalls mit
Sozialhilfe – und kann ab 60 Überbrü-
ckungsleistungen beziehen. Zwingende
Bedingung wäre, dass man nach 50 noch
fünfJahre gearbeitet hat.

Etwas notdürftiger Entscheid


Gleichzeitig hat dieKommission den
Sozialausbau aber auch eingedämmt: Sie
will die neuen Leistungen weniger gross-
zügigausgestalten als der Bundesrat. Ihre
Höhe soll den bereits bestehenden Ergän-
zungsleistungen entsprechen, mit denen
der StaatRentner unterstützt,die ihre
Lebenshaltungskosten nicht selber de-
ckenkönnen.Auch beimVermögen wür-
den strengereVorschriften gelten:Wer
mehr als 50 000 Franken besitzt (Ehe-
paare: das Doppelte), würde inkeinem
Fall Überbrückungsleistungen erhalten.
In einem brisanten Punkt hat die
Kommission einen Entscheid gefällt, der

etwas notdürftig anmutet. Es geht dabei
um dieFrage, ob die Schweiz bei den
neuen Leistungen auch Arbeitsjahre in
EU-Ländern berücksichtigen muss. Das
würde bedeuten, dass auch Zuwanderer
rasch Zugang dazu hätten, was der Bun-
desrat tunlichstverhindern will. Doch
einRestrisiko besteht – und dasParla-
ment hat es lautFachleuten sogar noch
erhöht. Denn diebürgerlichenParteien
beharren darauf, dass Bezüger der neuen
Leistungen weiterhin eine Arbeit suchen
müssen. Dieskönnte in einemRechts-
verfahren dazu führen, dass die Schweiz
auch Arbeitsjahre imAusland anrech-
nen muss. DieKommission schlägt dazu
keine klareRegelung vor. Stattdessen
soll der Bundesrat alle dieseFragen auf
Verordnungsebene festlegen.Dadurch
könnte er schnellreagieren, falls die
Schweiz hier unter Druck gerät.
Ob dasParlament das Eilverfahren
trotz der Unsicherheit durchzieht, zeigt
sichin den nächstenWochen. Gegenwär-
tig sind in National- und Ständerat je drei
Zeitfenster für dieVorlagereserviert. So
lässt sich die ganzeDifferenzbereinigung
in einer Session durchpauken.

Tausende unklareTestamente? Anwälte kritisierendie Erbrechtsvorlage. GAETAN BALLY / KEYSTONE
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