Neue Zürcher Zeitung - 22.02.2020

(Frankie) #1

Samstag, 22. Februar 2020 FEUILLETON 35


Elf Thesen zur Zukunft der Europäischen Union, d ie sich


auf einen neuen Gesellschaftsvertrag einigen muss SEITE 39


Die Mutter des Schrif tstellers Robert Musil


lebte in einer Ménage-à-trois SEITE 40


So sieht im 21. Jahrhundert die Lebensmittelproduktion in denNiederlanden aus:BeweglichePflanztische unterrosa Licht optimieren dasWachstum der Shiso-Purple-Kresse. LUCA LOCATELLI

Roboter statt Rindvieh, sagt Rem Koolhaas


Der Architekt und sein Think-Tank sehen Serverfarmen statt Kuhweiden als die Landschaf ten der Zukunft.Von Sabi ne von Fischer


Warum denn Rindvieh halten, wenn auf
demselben StückLandRoboter eine
Vielzahl von Gemüsen züchtenkönn-
ten?RemKoolhaas meint esernst,wenn
er die heutigenFormen derLandwirt-
schaft alsAuslaufmodelle bezeichnet.
Die Idee tauchte auf, als er zusah, wie
in den Schweizer Berggemeinden die
Bevölkerung schrumpfte und trotzdem
immer mehr neue Häuser gebaut wur-
den. Im Übrigen irritierte ihn der Ge-
stank derKühe. DieFerienerfahrungen
im Engadin lieferten den Impuls, sei-
nen forschenden Architektenblick nicht
mehr nur auf die Stadt zu richten.
Von den Zweitwohnungen in den
Bergen führten dieRecherchen weiter
zuAckerland, das die globaleVersor-
gung sicherstellen soll. Mögliche Sze-
narien für die Schweiz fandenKoolhaas
und seinTeam in Riace, Ocha,Jakutien
und Shouguang.
Wieder einmal zielen der holländi-
sche Pritzkerpreisträger und seinThink-
Tank inRotterdam auf vernachlässigte
Gebiete. AusgerechnetRemKoolhaas,
der vor vierzigJahren mit einem Buch
über den städtischen Ballungsraum
ManhattanFuroremachte, sagt nun
mit einer wegweisendenAusstellung
im NewYorker Guggenheim-Museum:
Die Zukunft wird nicht in den Städ-
ten geschrieben, sondern auf entlege-
nenÄckern, in verlassenen Dörfern, in
Wüsten und imPermafrost. Zusammen-
fassend: «auf demLand».


Remsucht das Risiko


DieseThese erregt auch angesichts der
Entwicklung der letztenJahrzehnte viel
Aufsehen. 2007 stellten dieVereinten
Nationen fest, dass zu diesem Zeitpunkt
gleich viele Menschen in Städten wie auf
demLand lebten. Bis 2050 werde dieVer-
städterung auf einVerhältnis von 70 zu 30
Prozent zunehmen.Auf welchen Zahlen


auch immer solche Mutmassungen basie-
ren, sie wurden inPolitik und Gesellschaft
breit akzeptiert. DerFokus eines Gross-
teils von Entwicklungsprojekten liegt der-
zeit weltweit auf den Städten.
Eines der Bilder, die im NewYor-
ker Guggenheim-Museum die fehlende
Aufmerksamkeit für die ländlichen Ge-
biete illustrieren, sind zwei Bücherbei-
gen: links ein hoher Stapel von Architek-
turbänden überdie Verstädterung,wie
sie anKonferenzen und Biennalen in den
letztenJahren produziert wurden.Rechts
einHäufchen Literatur, das eindeutig ab-
fällt und Nachholbedarf markiert.
Aufgrund solcher architekturtheo-
retischer Defizite, aber wohl vor allem
wegen der allumfassenden Ambition
des Projekts bezeichnen die Architek-
ten rund umKoohlhaas ihreRecherche
auch als soziologische und anthropologi-
sche Studie. Ein Blickauf die Materia-
lien zeigt auch anderswokeine Berüh-
rungsängste: Digitalisierung, Technik,
Wirtschaft undWissenschaft,Kunst und
Pop-Kultur, alles hat Eingang gefunden
in die grosse Schau im Guggenheim-
Museum, die zuerst einmal sagt:«T his is
not an art show.»

Rundumblick in der Rotunde


Die Engadiner Bergdörfer,die sich
zwar entleeren, aber wegen der vielen
neuenFerienhäuser in denletztenJahr-
zehnten trotzdem immer weiter in die
Landschaft ausgreifen, dienen in nied-
lichen Leuchtkästen an derRampe des
MuseumsalsVorspiel. DieFrage ist klar:
Was könnte die Zukunft solcherRegio-
nen sein? Die Antwort bleibt aus. Was
sich aber auf der Endloskurve in der
Rotunde des ohnehin spektakulären
Baus vonFrank LloydWright entfaltet,
ist alles andere als wirkungslos.
Mit Zahlen undFakten, persönlichen
und wiedererzählten Geschichten dreht

sich derRundgang hoch bis unter die
Glaskuppel des ikonischenBauwerks:
vorbei am Bauernhof-Mock-up von
Marie-Antoinette inVersailles oder an
Herman Sörgels Atlantropa-Vision; vor-
bei anrealen Planungen verschiedens-
ter Diktatoren des 20.Jahrhunderts oder
an den vonFlüchtlingen bevölkerten ita-
lienischen Bergdörfern;vorbei an den
scheinbar unendlichenFeldern von Ge-
wächshäusern im chinesischen Shougu-
ang oder am schmelzendenPermafrost
in Sibirien, der ganzeLandstriche zu-
sammenfallen lässt, bis hin zu den Ser-
verfarmen in derWüste vonTahoe. Wer
ohne Schwindel oben ankommt, hat
nicht richtig hingeschaut.

Rosarot stimmt optimistisch


Zum Glück gibt der Schlussteil Grund,
trotz allem optimistisch zu bleiben:Dank
intelligent eingesetzter Technologie
könnte dieLandwirtschaft auch Antwor-
ten liefern, so zum Beispiel mit Pixel-Far-
ming, einerim niederländischenWage-
ningen entwickeltenTechnik, die uraltes
Wissen zum synergetischen Nebeneinan-
der verschiedenster Pflanzenartenrobo-
tisch optimierenkönnte.
Auch den Indoor-Plantagen, in denen
fahrendeRoboter unterrosaKunstlicht
dasWachstum von Kressen oderToma-
ten überwachen, ist eine ästhetische
Wirkung nicht abzusprechen. Der Be-
fund derLandwirtschafts- und Lebens-
mitteltechnologie ist nämlich, dass nicht
das Sonnenlicht, sondern ein Magenta-
Farbspektrum dasWachstum der Pflan-
zen am meisten fördere. Prominent sind
Bilder von Indoor-Plantagen in derAus-
stellung montiert, und für die halbjäh-
rigeDauer der Schau steht auch ein
weisser Container mit einer solchen
Indoor-Plantage neben einem riesigen
Tr aktor auf demTr ottoir vor der elegan-
ten Spirale des Museums.

Dass die Endlossequenz des
Rampenrundgangs immer auch den
Blick aufs Ganze ermöglicht, ist der ein-
maligen Qualität diesesRaums geschul-
det. Obenangelangt, gibt es drei Optio-
nen:Tr eppe, Lift oder denWeg über
dieRampe abwärts nochmals zurück-
legen. Letzteres wird wärmstens emp-
fohlen, denn in einem Mal lässtsich das
hier präsentierte Materialnicht erfassen.
Und überhaupt empfiehlt sich dieVor-
ablektüre des silbrig eingefassten Büch-
leins, das einzelne Einblicke in dieFor-
schungen desTeams gibt.
Entgegen allen Erwartungen ist
das BuchkeinFollow-up zuKoolhaas’
Manifest von vor vierzigJahren.Das
macht das winzigeFormat, das fast
in eine Handfläche passt, auf den ers-
ten Blick deutlich. Die Entscheidung
für dieseForm haben die Designerin
Irma Boom undRemKoolhaas wäh-
rend ihrerRecherchen in der Biblio-
thek desVatikans getroffen, als sieVer-
gilsTexte in der Hand hielten,in denen
dieLandschaft ebenfalls eine wichtige
Rolle spielt. Der untersuchte Zeitraum
wiederum istsogross wie die Ambition:
«Countryside, The Future» (absichtlich
mit einemKomma) spannt den Bogen
vom antiken «otium» bis zum Solartrak-
tor-Sharing in Rwanda, das die bäuer-
licheWirtschaft modernisieren soll.

Fragen überArchitekturhinaus


Erklärt unsRemKoolhaas wieder ein-
maldieWelt? Überraschenderweise:
Nein. Seine Stimme nimmt sich auch im
Buch zugunsten der vielen Mitwirken-
den zurück. Nur eine kurze Einführung,
zwei Interviews und das Schlusswort be-
hält er für sich. Am Ende allerdings lie-
fert er, anders als jeweils zuvor, keine
Analyse, sondern einzigeinen endlosen
Schwall vonFragen. Er beginnt mit:
«Wohin gingen dieKühe?» Und endet

nach 28 Seiten mit: «Ist Nachhaltigkeit
nachhaltig?»
Wer soll das alles beantworten?
«Es ist eine Einladung, sich zu beteili-
gen», erklärt der Leiter desThink-Tanks
AMO, SamirBantal, undRemKoolhaas
hakt nach: «Es sind umfassendeFragen,
und es wird in nächster Zeit Antwor-
ten brauchen.»Wie bald denn?Bald. Er
meint es ernst.
Und was geschieht mit den Schwei-
zer Bergdörfern? Niemand weiss es.
Koolhaas erwähnt verschwindende
Kühe, freundlicheJäger sowie die mar-
ginale Rolle der Landschaftstheorie
und lässt uns auf das nächste Buch war-
ten. Ob Heidi bis dann immer noch vor
einer Alpenkulisse «I can’t get enough
of it» durch dieLautsprecher der Sky-
metroim Flughafen Zürich haucht und
einKuhmuhen den ganzenWagen zum
Vibrieren bringt?
Falls sich dieVermutungen vonRem
Koolhaas bewahrheiten sollten, wird
die Heidi-Figurin nicht allzu ferner Zu-
kunft eine andere Leidenschaft finden
müssen. Nicht mehr Rindvieh auf grü-
nenWiesen, sondernrosa belichtete In-
door-Plantagenwürden die Essensver-
sorgung derWeltbevölkerung sicherstel-
len und das planetareLandschaftsbild
dominieren. Ob dies so passieren wird,
ist nicht nur eineFrage ästhetischer Prä-
ferenzen. EinVerständnis der vielfälti-
genVerwicklungen ist gefragt. Eine Zu-
kunft unterrosaKunstlicht mag nicht die
einzige mögliche Antwort auf die plane-
taren Herausforderungen sein. Wer aber
nicht hinschaut und mitdenkt, wird bald
einmalkeineWahl mehr haben.

«Countryside, The Future», Guggenheim-
Museum, NewYork, bis 14. August. Danach
StationeninEuropa (Bordeaux,Amsterdam).
Die Begleitpublikation«Countryside, A Report»
vonAMOundRemKoolhaaserscheintim
Taschen-Verlag, 352 S., Fr. 27.
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