Samsta g, 22. Februar 2020 LITERATUR UND KUNST 39
Pflichteuropa oder Wahleuropa?
Elf Thesen zur Zukunft einer Europäischen Union, die mehr sein mu ss als eine Wirtschaftsgemeinschaft.Von Ot fried Höffe
Vor mehr als siebzigJahren forderte
Winston Churchill in Zürich, «dieVer-
einten Nationen aufzubauen» und
«innerhalb dieser weltumfassenden
Konzeption die europäische Völker-
familie in einerregionalen Organisa-
tion neu zusammenzufassen, die man
vielleicht dieVereinigten Staaten von
Europa nennenkönnte». Für das Pro-
jekt einer «Neuschöpfung der europäi-
schenVölker» drängen sich heute zwei
Gestalten auf, nämlich eine für alle Staa-
ten Europas verbindlicheForm des Zu-
sammenlebens, ein Pflichteuropa, und
ein den Staaten freigestelltes Mehr an
Zusammenarbeit, einWahleuropa.
Gemeinsam ist ihnen der Gedanke
eines Gesellschaftsvertrages. Glück-
licherweise gehört dieser zum Erbe, das
Europa über alle Grenzen und Unter-
schiede hinweg verbindet. Er tritt schon
in einem der ersten staatstheoretischen
Texte Europas, in Platons Dialog «Kri-
ton», zutage:In der Nacht bevor Sokra-
tes auf Beschluss der AthenerVolksver-
sammlung den tödlichen Schierlings-
becher trinken soll, versucht seinFreund
Kriton, den Philosophen zur Flucht zu
bewegen. Sokrates lehnt mit dem Argu-
ment ab, er habe mit Athen einenVer-
trag abgeschlossen, allerdingskeinen
ausdrücklichen, sondern nur einen still-
schweigenden, nämlich durch sein Le-
ben in Athen praktiziertenVertrag.
In der Neuzeit wird zunächst Hobbes
den Vertragsgedanken zum Grund-
begriff derRechtfertigung einer zwangs-
befugtenRechts- und Staatsordnung
ausarbeiten, worin ihm Spinoza, Locke
und Rousseau folgen werden.Ob man
an die platonischenWurzeln oder an die
neuzeitlichenAusgestaltungen denkt–
der Gedanke eines politischen Grund-
vertrages zur Legitimation einesrechts-
förmigen, zwan gsbefugten Zusammen-
lebens trennt nicht die Staaten Europas,
sondern eint sie zu Gesamteuropa.
Dies erlaubt eine ersteThese: Der
Gesellschaftsvertrag ist ein gemein-
europäischer Gedanke: die Legitima-
tion eines Gemeinwesens, das mit dem
Recht und den dafür zuständigen öffent-
lichen Gewalten Zwangscharakter hat.
Dass das Zusammenleben der Men-
schen inForm von Herrschaft organi-
siert wird, bedarf derRechtfertigung.
Und das führt zuThese zwei:DieRecht-
fertigungvon Herrschaft geht mit deren
Begrenzung Hand in Hand.Andernfalls
erhielte die höchste öffentliche Ge-
walt die im Absolutismus fast gegebene
Blankovollmacht. Eine sachgerechte
Vertragstheorie verbindet dieRechtfer-
tigung öffentlicher Gewalten mit deren
Einschränkung und Normierung.
Dieser Gesellschaftsvertrag wird
vielleicht nicht ausschliesslich, in die-
ser Klarheit aber doch lediglich in der
Philosophie Europas entwickelt.Wor-
aus sich die dritteThese ergibt: Nicht
an Besonderheiten Europas gebunden,
bildet für viele Staatstheoretiker die
Argumentationsfigur des Gesellschafts-
vertrages die philosophische Grundlage
jeder politischen Ordnung, die legitim
sein soll. Allgemeingültig ist, dass eine
öffentliche Gewalt ausschliesslich durch
die Zustimmungsfähigkeit der Betroffe-
nen gerechtfertigt wird.Damit die Ge-
walt für niemanden pure Gewalt, son-
dern autorisierte Macht ist, bedarf es
der Einstimmigkeit. Man gibt seine Zu-
stimmung, weil man sich von derRechts-
ordnung und deren öffentlichen Gewal-
ten einen grösserenVorteil verspricht.
Die vierteThese erläutert dieseAuf-
gabe: Der Gesellschaftsvertrag bindet
die politische Legitimation an die Zu-
stimmung jedes Einzelnen, folglich an
einen für jeden Einzelnen geltenden
Vorteil.Ein föderales Gemeinwesen
bestehtnicht nur aus Bürgern, son-
dern zusätzlich aus Gemeinwesen eige-
nen Rechts, aus den (Bundes-)Ländern,
Kantonen oder (Teil-)Staaten.Beim ent-
sprechenden Bundesstaat, einer Bun-
desrepublik,geh t innerhalb der Glied-
staaten alle Gewalt von der Gesamt-
heit derRechtsgenossen, demVolk der
Gliedstaaten, aus, im Gesamtstaat da-
gegen von beiden Seiten, vom Gesamt-
volk und von allen Gliedstaaten.
These fünf: In föderalen Gemein-
wesen ist der Gesellschaftsvertrag mit
Notwendigkeit zweistufig. Es bedarf der
Zus timmung des (Gesamt-)Volkes und
derjenigen der Gliedstaaten. Die ent-
scheidendeFrage, welcherVertrag zum
Zweck der Einstimmigkeit diekollekti-
ven Vorteile für die Gesamtheit und die
Vorteile für jeden Einzelnen zustande
bringt, lässt sich nicht mit den gewöhn-
lichen Interessen von Menschen beant-
worten. Diese sind, zumal in denplura-
listischen Gesellschaften der Moderne,
so vielfältig, dass hier Einstimmigkeit
ausgeschlossen ist. Anders verhält es
sich mit höherstufigen Interessen, näm-
lich mit den Bedingungen, die notwen-
dig sind, damit man Interessen über-
haupt ausbilden, sie artikulieren und sie
zielstrebig verfolgen kann.
Die Rechte jedes Menschen
These sechs: Allein mit dem Schutz
von allgemeinenVoraussetzungen der
Handlungsfähigkeit lässt sich legitime
Herrschaftrechtfertigen. Ein klares Bei-
spiel bildet das Interesse an Leib und
Leben.Wer jemanden tötet, bereitet
der Handlungsfähigkeit des anderen ein
End e. Da dies niemand will, «tauscht»
er seineFähigkeit, zu töten, gegen die-
selbeFähigkeit der anderen ein. Statt
sowohl Opfer vonTötungsdelikten als
auch deren Täter zu sein, zieht man das
Weder-Opfer-noch-Täter vor, was auf
ein wechselseitig gewährtesRecht auf
das eigene Leben hinausläuft.
Nach diesemArgumentationsmuster
erhalten die unabdingbaren Interessen
jenenRang von unveräusserlichen und
unverletzlichenRechten, die man Men-
schenrechte nennt. Sie sind notwendig,
abersie sind nicht zureichend.Für das
Funktionieren einerRechts- und Staats-
ordnung ist weit mehr nötig. Und da
wederMenschenrechte noch Gesetze
sich von allein durchsetzen, folgtThese
sieben: Zu einem legitimen Gemein-
wesen gehört dieTrias der öffentlichen
Gewalten – Legislative, Exekutive und
Judikative.
Zu diesenThesen drängen sich zahl-
lose Feindebatten auf. Im Prinzip ent-
halten sie aber kaum mehr als Binsen-
wahrheiten,die längst ihren Platz in der
Staatsbürgerkunde gefunden haben.
Ernsthafte Probleme wirft erst ein Um-
stand auf, den unter den grossenRechts-
und Staatsphilosophen bloss Kant ge-
bührend erörtert hat:dass es die Staaten
im Plural gibt, weshalb sich die Legiti-
mationsaufgabe des Gesellschaftsver-
trages wiederholt.
Wie natürliche Individuen, so haben
auch Staaten sowohl elementareRechte
gegenüber anderen Staaten als auchdie
Aufgabe, die Rechte nicht von ihrem
eigenen, partikularen Standpunktaus
und mit eigener Gewalt, sondern mit-
tels öffentlicher – hier: international
gemeinsamer – Gewalten zu verwirk-
lichen. Aus dem skizziertenWettstreit
um die Leitziele einer europäischen
Einigung istkeines ihrer Ziele als exklu-
siver Sieger hervorgegangen. Statt um
alternativeThemen handelt es sich viel-
mehr um sich ergänzende, nichtkonkur-
rie rende Leitaufgaben.
Hier seien sieben Gründe wiederholt,
die man zugunsten einer europäischen
Einigung aufzählt:1. ein die Sicherheit
der einzelnen Staaten garantierender
dauerhafterFriede, 2.die Herrschaft des
Rechts, 3. die Überwindung von natio-
nalen Grenzen,4. ein wachsenderWohl-
stand, neuerdings verstärkt durch 5. die
Forderung nach europäischer Solidarität
und 6. die Bündelung des handels- und
des aussenpolitischen Einflusses gegen-
über Grossmächten wie China,Russlan d
und den USA. Hinzukommtein Auf-
trag, den die öffentliche Debatte meist
unterschlägt,7. die im EU-Vertrag ent-
haltene Beistandsverpflichtung: «Im
Falle eines bewaffneten Angriffs auf
das Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaa-
tes schulden die anderen Mitgliedstaa-
ten ihm alle in ihrer Macht stehende
Hilfe und Unterstützung.»
Obwohl jeder der Gründe überzeu-
gen kann,sind sie untereinander so
heterogen, dasssie nichteinen einzigen
Gesellschaftsvertrag rechtfertigen. Sie
sprechen vielmehr für zwei wesentlich
verschiedene Arten von Europaverträ-
gen. Die ersten zwei Gründe, mit klarem
Vorrang der allerersten Leitaufgabe,
rechtfertigen ein den gesamtenKonti-
nent umfassendes «Pflichteuropa», die
nächsten vier das in der Europäischen
Unionrealisierte«Wahleuropa», wäh-
rend die letzteAufgabe beiden Begrif-
fen von Europa zuzuordnen ist.
Man kann analog zu den Men-
schenrechten natürlicherPersonen von
«Menschenrechten der Staaten» spre-
chen.Danach hat jeder Staat auf die
kollektive Sicherheit seiner Bürger-
schaft und seinesTerritoriums einen
rechtsmoralischen Anspruch. Der da-
für zuständige Gesellschaftsvertrag hat,
achteThese, den Rang eines Pflichtver-
trages. Er läuft auf einen «Europäischen
Friedensbund» nach demVorbild der
Uno hinaus und hat denRang ei nes un-
eingeschränkt verbindlichenFriedens-
imperativs. Für alle europäischen Staa-
ten verpflichtend,ist das entsprechende
Europa ein Pflichteuropa.
Während das friedliche Zusammen-
leben der europäischen Staatenrechts-
moralisch geboten ist, besteht zur An-
erkennung der anderen europäischen
Leitzielekeinerlei Pflicht.Nach aller Er-
fahrung dient es demWohl eines Staates,
seine Grenzen zu öffnen und mit ande-
ren Staaten wirtschaftlich zukooperie-
ren. Kein Staathat aber dasRecht, vom
anderen zu fordern, sich auf dieseVor-
teile einzulassen.
Mehr alseine Union
These neun:Vom Pflichtvertrag für
Europa ist ein zweiter Gesellschaftsver-
trag zu unterscheiden, ein freiwilliger
Vertrag oderWahlvertrag, der mit den
dazu bereiten und mit den anderen auch
akzeptierten Staaten einWahleuropa
schafft. Zu Pflichteuropa, dem europäi-
schenFriedensbund, gehören alleLän-
der Europas ohneAusnahme, von Island
und Norwegen über die Schweiz, Liech-
tenstein, Kroatien, Serbien bisRussland,
ebensoWeissrussland und die Ukraine.
Offensichtlich verhält es sich mit
Wahleuropa grundlegend anders. Schon
weil das im Pflichteuropa enthaltene
Selbstbestimmungsrecht jedem Staat
seine Eigenart, sogar Eigenwilligkeit
erlaubt, darf weder eine europäische
Gemeinschaft ein europäischesLand
zum Beitritt noch ein europäisches
Land die europäische Gemeinschaft
zur Annahme eines Beitrittsgesuches
zwingen. ZuWahleuropa gehört jedes
Land, das aufgenommen werden will
und von den anderen alsAufnahme-
land anerkannt wird.
Einen Zusammenschluss der der-
zeit siebenundvierzig Staaten Europas
zu einer einzigen Union kann man sich
nur als deren extremeAusdünnung vor-
stellen, nämlich als dieRückentwicklung
der Europäischen Union zueinem locke-
ren Staatenbund. Sollte eine blosseFrei-
handelszone übrig bleiben, so wäre sie
nichtmehr als Pflichteuropa,nämlich ein
Friedensbund, lediglich um eine gewisse
ökonomischeKooperation inForm einer
Freihandelszone erweitert.
These zehn: Eine grosszügige quan-
titative Erweiterung hat die Qualität
gefährdet, die sichWahleuropa in der
Entwicklungvon den ersteneuropäi-
schen Gemeinschaften schliesslich bis
zur Bildung einer Europäischen Union
erarbeitet hat.
Die Frage «Welches Europa?» kann
man mit unabdingbaren Interessen
allein nicht beantworten. Es braucht
vielmehr Erfahrung, zum Beispiel diese:
Im Zusammenhang mit seinemVersuch,
über eine Erneuerung der deutsch-fran-
zösischenFreundschaft Europa vor dem
(angeblich drohenden) Zerfall zuret-
ten, erzählt der französische Präsident
Macron: «Deutschland habe ich mir zu-
allererst über die Literatur erschlossen.
Für mich war es wichtiger, statt schnell-
lebiger Eindrücke eine echte litera-
risch e, philosophische und musikali-
sche Beziehung zu Deutschland zu ent-
wickeln.» Diese zweifellos sehr spezielle
Erfahrung lässt sich vorsichtig zu einer
kaum strittigen Antwort extrapolieren.
These elf:Ein Wahleuropa hat nach
innen, unionsintern, den Reichtum
Europas, dabei, im Gegensatz zur öko-
nomistischenVerkürzung, nicht nur den
wirtschaftlichen, sondern auch den poli-
tischen und sozialen,ferner den sprach-
lichen, kulturellen und wissenschaft-
lichenReichtum zu mehren. Und nach
aussen hat es das gesamte Gewicht von
Wahleuropa, erneut nicht nur das wirt-
schaftliche, zu stärken.
Otfried Höffeleit et die Forschungsstelle für
PolitischePhilosophie ander Universität Tübin-
gen. Der Text ist ein Auszug aus seinem neuen
Buch «Für ein Europa der Bürger!», das so-
eben im Verlag Klöpfer, Narr erschienen ist.
Was Europa eint, ist der Gedanke des Gesellschaftsvertrags. Aber vielleichtmüssenwir diesen neu verhandeln. VIRGINIA MAYO / AP