Neue Zürcher Zeitung - 22.02.2020

(Frankie) #1

Samstag, 22. Februar 2020 SPORT 43


Das schöne Genfer Mosaik


Der kluggeführte Servette FCbietetwundersamePersonalgeschichten und ist einer der aufregendstenAufsteiger seit Jahren


PETERB.BIRRER, GENF


Hinter dem Stade de Genève läuft ein
schmächtiger junger Mann zumPark-
platz, dieAugen nonstop auf sein mo-
bilesKommunikationsgerät gerichtet.
Das istkein Gymnasiast, sondern einer
der jungenFussballer, die den Servette
FC nach vornetragen. Timothé Co-
gnat, Franzose, 22-jährig, 67 Kilo leicht,
1 Meter 73 gross. Dass er in Genfund
nicht inLyon Fussball spielt, steht wo-
möglich mit seinemKörperbau in Zu-
sammenhang. Und ganz sicher mit der
Liebe zu einer Genferin. Ein Glücksfall
für die Super League.
Vor der Saison ist das Mittagessen mit
dem Servette-Trainer Alain Geiger im
Restaurant neben dem Stadion beendet.
Geiger erzählt über Gott und dieWelt
undredet davon, nach demAufstieg mit
dem Klub in der obersten Spielklasse
erst einmalFuss fassen zu wollen. Die
meisten Gäste haben das Lokal längst
verlassen,als ein Afrikaner eintritt und
sich erkundigt, ob es hier noch etwas zu
essen gebe. Nein, nicht um diese Zeit.
Geiger hatreichlich Afrika-Erfahrung
und ruft dem einsamen Gast zu: «Oh,là,
là, da muss man aber früher sein.»Wer
ist das? «Der ist neu bei uns», sagt Gei-
ger, «er war inRussland und hat sich
etwas verirrt.Das ist alles nicht so ein-
fach für ihn.» Und schon sitzt derTrai-
ner mit dem Afrikaner amTisch.
Es ist der Kameruner Gaël Ondoua,
24-jährig, lauf- und kampfstark.Von
Machatschkala nach Genf. Er ist ein
Gewinn für die Super League und ein
lebendiges Beispiel dafür, dass der Ser-
vette FC gut spielt und gutrekrutiert.
«Ich weiss, wie es ist, alsTrainer allein zu
sein. Und ich weiss, wie es ist, in einem
Team zu arbeiten», sagt Geiger über die
Genfer Scouting-Abteilung, «die Dif-
ferenzist gross.» AlsVorbild dient YB.
Das ist nicht nur einmal zu hören, wenn
der Gang der Genfer Dinge verhandelt
wird. Der Servette FC ist der besteAuf-
steiger seitJahren und wird nur knapp
vom FC St. Gallen, Ausgabe 2012/13, ge-


toppt, der nach dem Abstieg 2011 mit
erheblichen Mitteln umgehend denWie-
deraufstieg anstrebte und danach gleich
in die Europa League stürmte.

Nachvornerennen


Dass die Genfer auf Anhieb Erfolg
haben, hat auch mit dem Offensivspieler
Varol Tasar zu tun, mit dem 23-jährigen
Deutschen, der ebenfalls nur 65 Kilo auf
die Waage bringt und in einem kleinen
fensterlosenRaum des Stade de Genève
bes cheiden darauf hinweist, dass man
auch Glück beanspruche. Tasar, der vom
FC Aarau gekommen ist, hat den Draht
zu Genf gefunden und bedient das Kli-
schee-Handbuch, wenn er auf Mentali-
tätsunterschiede hinweist. «Hier lassen
die Spieler den Erwartungsdruck nicht
so auf sichwirken, sie sind lockerer als in
Aarau. Sie nehmen das nicht so ernst.»
O ja, und risikobehaftet sei die Spiel-
weise, «wirrennen teilweisezu fünft
oder zu sechst nach vorne.»Tasar nennt
Cognat, dazu denschnellen 29-jährigen
Bosnier Miroslav Stevanovic und «die
zwei Stürmer» –Koro Kone, Grejohn
Kyei, Ivoirer undFranzose.

DerAufsteiger bietet wundersame
Personalgeschichten im Übermass. Er
entfaltet offensive Wirkung und hat
dazu die beste Abwehr der Liga.Warum
das? DerTrainer Geiger wartet lange
mit der Antwort. «Die Equipe funktio-
niertals Block gut, und wir haben wenig
verl etzte Spieler.» Links hinten spielt
meistens Dennis Iapichino, in der zen-
tralen AbwehrVincent Sasso und Steve
Rouiller, rechts der Captain Anthony
Sauthier, alle erfahren mitJahrgang 1990
oder1991. Der FC Zürich hat mehr als
doppelt so vieleTore erhalten wie die
Genfer. Hier 44, dort 21. Solche Zahlen
erklären viel.
In das schöne Servette-Mosaik fügt
sich aucheine Chefetage ein, die im
Gegensatz zu früher nicht derVer-
suchung erliegt, die Bodenhaftung zu
verlieren. Der Spieler SébastienWüth-
rich trainiert zwar mit, ist aber sonst
nicht mehr erwünscht. Dazu erzählt der
Klub-CEO Constantin Georges von
ein er Zeichnung, die im Hinblick auf
di e nächste Saison angefertigt werde.
Wüthrich seiTeil davon gewesen,sagt
Georges. Der Spieler und dessen Agent
wollten mehrVertragszeit und viel mehr

Geld, «wer so weit auseinanderliegt, fin-
det keinenKompromiss», sagt Georges,
seine mächtigen Arme weit ausbreitend.
Der Klub will nicht mehr zu sehr träu-
men, was mehrmals insVerderben ge-
führt hat,Konkurse, Negativschlagzeilen
und Zwangsabstiege inklusive.
Dagreif t viel ineinander. Ökono-
misch sichert dieRolex-Stiftung ab. Die
Klubführung haben Constantin Georges
undPascal Besnard (Präsident) inne, der
auf DidierFischer folgte. Das Scouting
leitet Gérard Bonneau, der lange für
Lyon seine Netze ausgeworfen hat und
in Frankreich einen gutenRuf geniesst.
DerAkademie stehtMassimo Lom-
bardo vor, der als Servette-Spieler zwi-
schen 2002 und 2005 sowie später als
Nachwuchstrainer strube Zeiten erlebte
und heute vor allem eine Botschaft hat:
«Früher Instabilität, heute Stabilität.»

Dürftige Resonanz imVolk


DieAuferstehung ist noch nicht voll-
endet. Im Klub heisst es, dass erst 60 bis
70 Prozent des verlorengegangenenVer-
trauens zurückgewonnen worden seien.
Genf ist ein harterFussballboden. Gei-
ger nennt ihn im gleichen Atemzug wie
Zürich. In der Abstiegssaison 2012/13
lo ckte der Klub im Schnitt 6666 Zu-
schauer an, jetztkommen nur 500 mehr.
Solche Zahlen mahnen zurVorsicht.
Die Publikumsresonanz ist ein dunkler
Fleck im bunten Servette-Mosaik.
Im Hinblick auf die nächste Saison
wird versucht, das Ärgste wegzuschmin-
ken. Derzeit fangen dieFernsehbilder
in der zu grossen Arena nicht die gut
gefüllte Haupttribüne ein, sondern die
weitgehend leere Gegentribüne. Ein
Seitenwechsel ist offenbar nicht mög-
lich. Kostenfrage. Bald soll die verwaiste
Tribüne dank Umplatzierungen etwas
mehr bevölkert werden.
Constantin Georges schnippt mit den
Fingern und sagt, dass es nicht «Bumm»
mache und plötzlich alles gut sei. Er
versucht Realismus vorzuleben und
sagt, dass der Servette FC auch von der
schwächelndenKonkurrenz profitiere.
«Wir sind ein neuerFisch im grossen
See», sagt er, «dieFische, die bereits im
See waren, haben etwas Probleme. Wir
schwimmen als kleinerFisch im gros-
sen See schnell, wasdie grossenFische
etwas überrascht.» Einige Genfer fragen
sich etwa, obPa Modou, der FCZ-Links-
verteidiger, inzwischen weiss, wer Miro-
slav Stevanovic sei,der auf derrechten
Servette-Seite zu Hause ist. Die letzten
zweiResultate gegen denAufsteiger aus
Sicht des FCZ-SpielersPa Modou: 1:4 in
Genf, 0:5 im Letzigrund.

Der DeutscheVarol Tasar (links)und der Bosnier Miroslav Stevanovichaben mit Servette viel zu feiern. JEAN-CHRISTOPHE BOTT / KEYSTONE

Kunstrasen?


bir.· Im Stade de Genève ertöntkein
wohlklingender Oldie, sondern ein ner-
vigerBallermann-Hit in der Endlos-
schlaufe. Das Stadion hängt amTropf
der öffentlichen Hand und wird die Pro-
bleme nicht los.Weil der von Pilzen befal-
leneRasen in miesem Zustand ist und die
Genfer Stimmbevölkerung im November
denBau einesTrainingszentrums beim
Flughafen hauchdünn ablehnte, forciert
Servette das Modell YB. Das heisst: Er
möchte einenKunstrasen, der auch zu
Trainingszwecken genutzt werden kann.
Damit würde das Nationalteam Genf
künftig fernbleiben, was zu verschmer-
zen ist, weil esseit 2014 nur drei Mal nach
Genf kam. Ziehen die Genfer ihren Plan
durch,steigt dieAnzahlKunstrasen in der
Super League neben Neuenburg, Bern
undThun weiter. Auch der mögliche
AufsteigerLausanne setzt im neuen Sta-
dion auf eine künstliche Unterlage. Das
Waadtländer Plastik wird in der Super
League womöglich einfach dasjenige in
Neuenburg oderThun ersetzen.

Panik statt Lockerheit


JulienWanders enttäuscht amHalbmarathon in Ras al-Khaimah– Weltrekord bei den Frauen


JÜRG WIRZ


Auch für einenAusnahmeläufer wie
JulienWanders wachsen dieBäume
nicht in denHimmel.Das Schicksal
sorgt hin und wieder dafür, dass man bei
allem Erfolg noch an seine Grenzen er-
innert wird. Knapp sechsWochen nach
dem superben Europarekord über zehn
Kilometer inValencia (27:13 Minuten)
scheiterte der Schweizer beimVersuch,
auch auf der Halbmarathon-Distanz in
neue Sphären vorzustossen.
Vor einemJahr hatteWanders inRas
al-Khaimah im nordöstlichsten Emi-
rat MoFarahs Europarekord mit 59:13
Minuten ausgelöscht. Im Moment seines
grösstenTriumphs ahmte er dann bei
der SiegerehrungFarahs traditionelles
Siegeszeichen,den«Mobot», nach. Nun
wurdeWanders amPersischen Golf in
den frühen Morgenstunden desFreitags
enttäuschender Elfter in 60:46 Minuten.
Die Bedingungen beim Start um 7
Uhr waren ideal, die Zielsetzung hoch.
In 13:50Minuten sollten die dreiTempo-
macher dieLäufer über die ersten fünf
Kilometer führen, in 27:40 über die ers-


ten zehn, einTempo, das eine Schluss-
zeit von 58:22 Minuten ergeben hätte.
Nur ein Athlet, Geoffrey Kamworor bei
seinem grandiosenWeltrekord im Sep-
tember des letztenJahres inKopenha-
gen (58:01 Minuten), war die 21,1 Kilo-
meter schon schneller gelaufen. Doch
die Schrittmacher waren ihrerAufgabe
nicht gewachsen und machten einen
schlechten Job: 14:07 Minuten und
28:04 – das war gerade noch knapp im
Bereich vonWanders’ Bestleistung.

Grosser Frust


Bis dahin lief der 24-jährige Schweizer
ein sehr aufmerksames und offensives
Rennen. Als errealisierte, dass die er-
hoffte Zeit von unter 59 Minuten aus-
ser Reichweite lag, verlor er indessen
die Lockerheit und geriet ein bisschen in
Panik. «Zwischen Kilometer 12 und 13
hatte ichkeine Beine mehr», erzählte er
Stunden später, nachdem er sich einiger-
massen erholt hatte. «Am Schluss war es
mir nicht mehr ums Kämpfen, da ging
es nur noch darum, fertig zu laufen.»
Der Frust war gross, weil die letzten

Trainingsergebnisse auf einen besonde-
ren Exploit hatten hoffen lassen. In den
Worten vonWanders: «Ich war heute in
einer besseren Form als inValencia und
bedeutend besser als vor einemJahr hier
in Ras al-Khaimah. Manchmal bist du
hundertprozentig bereit, und es klappt
trotzdem nicht.Das ist Sport.» 58:58
Minutenreichten demKenyaner Kibi-
wott Kandie für den Sieg.
Für Wanders gehtes nun darum, das
Negativerlebnis wegzustecken und sich
auf den Höhepunkt der Strassensaison
vorzubereiten, die Halbmarathon-WM
am 29.März im polnischen Gdynia. Dort
bekommt er seine nächste Chance. Be-
reits am Samstag ist er wieder zurück
in Kenya, wo er auch nach der WM in

Polen und einer kurzenPause zu Hause
in Genf einenTrainingsblock einschal-
ten wird. Offen ist die Planung, was die
Wettkämpfe angeht. Sein Genfer Coach
Marco Jäger sagt: «Ende Mai, Anfang
Juni wird er in dieBahnsaison einsteigen.
Die Zeit bis zu den Olympischen Spielen
in Tokio ist kurz. Sicher ist im Moment
erst, dassJulien im Sommer in St. Moritz
sein wird und von der Schweiz aus anrei-
sen wird. Und entschieden haben wir uns
auch, dasser an der EM EndeAugust in
Paris den Halbmarathon läuft.»

Bestmarke und100 000Dollar


Keine Probleme mit denTempomachern
hatten dieFrauen. Die ersten zehn Kilo-
meter legten die Marathon-Weltrekord-
lerin BrigidKosgei ausKenya und die
Äthiopierin AbabelYeshaneh Birhane
in 30:15 Minuten zurück,15 Sekun-
den schneller alsJoycilineJepkosgei
bei ihremWeltrekord am 22. Oktober
2017 in Valencia (64:51 Minuten). Am
Schluss stoppte die Uhr für die 28-jäh-
rigeYeshaneh bei 64:31 –Weltrekord
und 100000 Dollar Bonus.

«Am Schluss
war es mir
nicht mehr
ums Kämpfen.»

JulienWanders
Schweizer
PD Langstreckenläufer

Christian Gross


muss gehen


Weggang beial-Ahli Jidda


(sda)/sbr.· Der Schweizer Christian
Gross ist nicht mehrTrainer bei al-Ahli
Jidda. Der Klub aus Saudiarabien trennt
sich vom 65-jährigen Zürcher, wie er in
einem Communiqué verlauten liess.
Gross hatte im HerbsteinenVertrag
bis Ende Saison unterschrieben, der nun
vorzeitig aufgelöst wurde. In achtzehn
Pflichtspielen unter Gross gewann al-
Ahli zwölfPartien und verlor vier. In der
Meisterschaft liegt der Klub im dritten
Rang und ringt um dieTeilnahme an der
asiatischen Champions League.
Für Gross war es bereits die dritte
Anstellung beim Klub aus der Hafen-
stadt Jidda. Der ehemalige Grasshop-
pers-, Basel- und YB-Trainer war mit
Ausnahme eines kurzes Unterbruchs
vonJuli 2014 bis Juni 2017 bereits für
al-Ahli tätig und gewann mehrereTitel.
Danach trainierte er für eine Saison er-
folgreich den ägyptischen Klub Zama-
lek. Gross gewann mit Zamalek den
Confederations Cup des afrikanischen
Fussballverbands und den saudisch-
ägyptischen Supercup. Danach wech-
selte er zu al-Ahli zurück.

SuperLeague, 23.Runde


Samstag, 19 Uhr Sonntag, 16 Uhr
Thun – Luzern Basel – Servette
Zürich – Xamax Lugano – Sitten
St. Gallen – YB



  1. St. Gallen 22/44 6. Luzern 22/30

  2. YB 22/44 7. Lugano 22/25

  3. Basel 22/39 8. Sitten 22/22

  4. Servette 22/36 9. Xamax 22/18

  5. Zürich 22/31 10. Thun 22/18

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