Samsta g, 22. Februar 2020 MEDIEN 9
Der Boulevard macht jetzt Fernsehen
Mit Blick-TV will sich Ringier neu e Werbeeinnahmensichern. Doch das Konzept überzeugt noch nicht ganz
LUCIEN SCHERRER
Morgens um 9 Uhr, wenn mancheJour-
nalisten noch nicht einmal die eigene
Zeitung gelesen haben, istJonas Projer
be reits sechs Stunden auf den Beinen.
«Wir haben gerade darüber diskutiert,
ob wir den Täter anonymisieren sollen»,
sagt er, «und eineReporterin ist vor
etwa 40 Minuten nach Hanau losgefah-
ren, in vier Stunden sollte sie dort sein.»
Projer, bekannt geworden als «Are-
na»-Moderator des SchweizerFernse-
hens, ist heute Chefredaktor von Blick-
TV.An diesem Donnerstagmorgen ist er
besonders gefordert; immer wieder klin-
gelt dasTelefon,daneben gilt es, die Kon-
kurrenz zu beobachten («Ah, ‹20 Minu-
ten› zeigt einFoto des Täters ohne
Augenbalken,genau das machen wir
nicht») undAnweisungen an dieRedak-
tion zu erteilen.
Diese hat bereits um 7 Uhr eine erste
Einordnung zumRücktritt des UBS-
Chefs Sergio Ermotti geliefert,und nun
stellt sich auch noch heraus, dass hin-
ter dem neunfachen Mord im deut-
schen Hanau einRechtsextremer steht.
Schneller sein als dieKonkurrenz steht
zuoberst im Pflichtenheft von Projer, die
Erwartungen an ihn und seinTeam sind
hoch. Blick-TV ist zwar erst am letzten
Montag auf Sendung gegangen, aber in
den Monaten zuvor hat dieFührungs-
riege des Ringier-Konzerns kaum einen
Superlativ ausgelassen, um ihr jüngstes
Prestigeprojekt zu bewerben.
Eine Zeit ung im Bewegtbild
Von einem «Meilenstein» war dieRede,
einem Schweizer «CNN imTaschen-
format» oder gar einer «Neuerfindung
des Fernsehens». Interessant ist das
Konzept von Blick-TV allemal. Den
Zuschauern wird von 6 bis 23 Uhr via
«Blick»-App und -Website eine Nach-
richtensendung in Endlosschlaufege-
bo ten, deren Berichte laufend aktua-
lisiert und ausgetauscht werden. Da
die «Blick»-Zeitungsredaktion sel-
ber Videos produziert und Interviews
au f Blick-TV gibt, ist der Sender im
Grunde eine Boulevardzeitung in be-
wegten Bildern, gratis, aber angereicher t
mitWerbespots, die der Zuschauer nicht
wegzappen oder überspringen kann.
Mit diesem Angebot will sich der
Ringier-Konzern angesichts von weg-
brechenden Werbeeinnahmen neue
Einkünfte sichern, zumal die Nach-
frage nachVideos im Internet weiter zu-
nimmt.GlaubtmandenSchätzungendes
MedienexpertenKurt W. Zimmermann,
muss Blick-TV rund 10 MillionenFran-
ken generieren, um profitabel zu sein.
Entscheidend,so schreibt Zimmermann
in seinerKolumne in der«Weltwoche»,
werde dieFrage sein, ob der Sender ein
jugendliches Publikum erreicht – und ob
die Zuschauer dieWerbespotslangfris-
tig akzeptieren werden.
Bei Ringier will man diese Progno-
sen nichtkommentieren. Sicher ist: Mit
48 Vollzeitstellen ist dieRedaktion eher
knapp dotiert für16 StundenFernse-
hen proTag. Jedoch kann sie dank einer
vom Ringier-CEO MarcWalder ausge-
handelten «Premium-Kooperation» täg-
lich auf bis zu 30 Beiträge des Nachrich-
tensenders CNN zurückgreifen.
Etwas Lob undviel Kritik
Anders als1959, als der Ringier-Ver-
lag mit ähnlichemTrara die Boulevard-
zeitung «Blick» lancierte, hat der Start
von Blick-TV bisher eher verhaltene
Reaktionen ausgelöst. Statt Zeitungs-
verbrennungen, wütende Proteste und
Boykottaufrufe gab es einiges Lob für
das «frische»Format, aber auch viel
Spott und Häme:«Verstaubt», «unfrei-
willigkomisch», «überflüssig», so tönt
es in denFeuilletons und Online-Foren,
oder gar: «Ist das Satire?»
Die Kritik ist zumTeil nicht ganz un-
berechtigt, denn viele Sendungener-
innern mit ihrer Unbeholfenheit an
Regionalfernsehen à laTele Bärn oder
Tele Top. So hat dieRedaktion Anfang
Wocheextra einenReporternachEngel-
berg geschickt, der mittels akribischer
Recherchen dieFrage klären sollte, ob
der thailändischeKönig Rama X.wieder
im ViersternehotelWaldeggresidiert.
Das Resultat:Das Publikum sieht
den Reporter mit dem Mikrofon in der
Hand vor dem Hotel stehen, auf dem
Bild nebenan wird die Moderatorin
eingeblendet. «BeniFisch» , so eröffnet
sie das Live-Interview, «ich frage dich
direkt: Hast duKönig Rama schon ge-
sehen?» UndReporterFisch antwortet,
Nein, im Hotel sei der Monarch «ziem-
lich sicher nicht», aber die schwarzen
Limousinen vor dem Hotel deuteten
doch stark auf einen hohen Besuch in
Engelberg hin.Vielleicht sei derKönig
ja gerade auf der Piste, eine Anfrage bei
den Titlis-Bahnen habe zwarergeben,
dass man dort auch nichts wisse, «aber
das muss ja nichts heissen».
Die weiteren Erkenntnisse des Be-
richts: «Man muss annehmen, dass ihm
(demKönig, Red.) die Schweiz gefällt.»
Und:Die Engelberger interessiert es of-
fenbar nur bedingt, dass der Monarch
unter ihnen weilt – das zumindest erge-
ben NachfragenFischs bei einerPöst-
lerin, einem Busfahrer und einem Ge-
tränkelieferanten.
In anderen Beiträgen wird derFrage
nachgegangen, ob das Coronavirus die
Olympischen Sommerspiele inJapan
gefährdenkönne (Antwort:«Manver-
sucht, denBall flach zu halten» , schliess-
lic h dauert es ja noch rund fünf Monate
bis zur Eröffnung). Oder die Zuschauer
werden mit Neuigkeiten aus derWelt
der A-, B- und C-Prominenten unter-
hal ten («D Sarah Lombardi het scho
wider en Neue»).
Die «intelligentenPolitikbeiträge»,
die Blick-TV gemäss offiziellenVer-
lautbarungen neben «harterRecher-
che», «unterhaltsamem Boulevard» und
der «besten Sportberichterstattung der
Schweiz» auch noch liefern soll, waren
in der erstenWoche ziemlich dünn ge-
sät – selbst wenn sich die Moderatoren
redlich bemühen, politischeFragen wie
«Braucht es eine E-Vignette?» mög-
lichst locker und volksnah zu erörtern.
So stellt sich in einer Diskussion zwi-
schen Simone Stern undReto Scherrer
heraus, dass Letztgenannterfür die elek-
tronischeAutobahnvignette ist, weil das
Ablösen der Klebevignette «jedes Mal
eine Sauerei» gebe.
Der ChefredaktorJonas Projer, der
als «Arena»-Chef zumTeil heftig ange-
feindet wurde, nimmt die Kritik an sei-
nem Sender gelassen: «Es ist doch posi-
tiv, dass über uns gesprochen wird.»Von
den besonders oft verspottetenLive-
Reportern etwa ist er «total begeistert».
Ein «aber» gibt’s jedoch auch von ihm
zu hören: «Es ist klar, wir sind amAus-
probieren und am Lernen, wir werden
uns noch stark entwickeln.»
Der offene Umgang mit den eigenen
Unzulänglichkeiten gehört laut Pro-
jer zumKonzept von Blick-TV. Sprich,
wenn sich ein Zuschauer über schlechte
Kameraeinstellungen beschwert, wird
das gleich vor laufender Kamera the-
matisiert. Und wenn die Untertitel nur
noch bizarr sind, weil sie zu spät einge-
blendet werden – was eigentlich immer
der Fall ist –,räumt man das unumwun-
den ein, um sogleichVerbesserungen an-
zukündigen. «Wir werden das Problem
lösen», verspricht Projer.
Mit dem nötigen Respekt
Für ihn ist der vermeintlich unfehlbare
Journalist, der das Publikum von oben
herab belehren will, ohnehin einAus-
laufmodell. Stattdessen sollen sich die
Moderatoren nicht allzu ernst nehmen
und auf jeglichenDünkel verzichten–
dies auch, indem sieJournalisten von
der Konkurrenz als Experten einladen.
Bei allem Mut zuFehlern müssen die
Moderatorinnen und Moderatoren aber
stets in derLage sein, heikleThemen
mit dem nötigenRespekt abzuhandeln.
Dass dies durchaus gelingt, zeigt der
Fall Hanau: Am Donnerstagnachmittag
ist dieReporterinRamona De Cesaris
live vor Ort, um über die Stimmung in
der Bevölkerung zu berichten. Obwohl
sie selber denTränen nahe scheint, be-
schreibt dieReporterin gefasst, wie sich
die Leute auf einem Platz versammeln,
um zusammen zu trauern.
DanachgibtesimStudioinZürichein
Interview mit der Psychologin Monika
Egli-Alge,die überdieMotivedesTäters
mutmasst.Wäre das Blick-TV-Logo
nichteingeblendet,könntemansichglatt
in einer Sendung von SRF wähnen.
Das alles wirkt noch etwas steril: Studio von Blick-TV imRingier-Pressehaus in Zürich am ersten Sendetag. WALTER BIERI / KEYSTONE
Boris Johnson
droht der BBC
Der britische Premierminister
willdemSender an dieGurgel
MARKUS M. HAEFLIGER, LONDON
Am Eingang des Broadcasting House in
der Londoner Innenstadt, demHaupt-
quartier der BBC, steht eine Statue
George Orwells und das in Granit ge-
meisselte Zitat desAutors: «Wenn Frei-
heit etwas bedeutet, dann ist es das
Recht, den Menschen zu sagen, was sie
nicht hören wollen.» Im Umkehrschluss
des stolzen Leitmotivs tritt dieTory-
Regierung dieFreiheit gerade mitFüs-
sen. BorisJohnsonführt eine Einschüch-
terungskampagne gegen die öffentlich-
rechtliche Sendeanstalt und droht ihr
mit dem Entzug der finanziellen Mittel.
So befahl der Premierminister den
Angehörigen seines Kabinetts, Informa-
tionssendungen der BBC zu boykottie-
ren, und er beauftragte den neuenKul-
turminister, John Whittingdale, die Ab-
schaffung der Lizenzgebühr zu «erwä-
gen». Die jährliche Abgabe von derzeit
155 Pfund pro Haushalt finanziert drei
Viertel des Budgets der Anstalt. Schon
vorher soll die Nichtbezahlung der Ge-
bühr entkriminalisiert werden. Ange-
sichts einer Sparmassnahme, nach der
die BBC den Obolus neuerdings auch be i
den über 75-jährigen Nutzern einziehen
mus s, ist dies kaum verhohlen eine Er-
munterung zur Zahlungsverweigerung.
Im Kreuzfeuer der Kritik
Hinter der Kampagne steht Dominic
Cummings, Johnsons Rasputin. Der
Chefberater führt gegen alle, die er
zum Establishment zählt, Krieg – gegen
Chefbeamte, Diplomaten,Richter, Uni-
versitäten und eben auch die BBC. Aus
seinem Blog weiss man, dass Cummings
eine aufKonsens beruhende politische
Kultur dafür verantwortlich macht, dass
kühne technologische Lösungen ver-
schlafen würden.Wie erst dieseWoche
bekanntwurde, zählte er in einem Ein-
trag von 2014 darunter die Eugenik.Die
Feindschaft gegen die BBC nährt sich
aber auch ausJohnsons eigenerVergan-
genheit alsJournalist. Der «DailyTele-
graph», sein langjähriger Arbeitgeber
und gleichzeitiger politischer Sponsor,
hatte den Sender schon immer imVisier.
Die Informationssendungen der
BBC wurden auch früher angegriffen,
aber die Kritik war berechenbar. Der
Brexit-Streit bereitete dem Ritual ein
jähes Ende. BBC-Journalisten sahen
sich plötzlich den Beschimpfungen von
Befürwortern und Gegnern des EU-
Austritts gleichzeitig ausgesetzt. Die
Verantwortlichen nahmen Zuflucht in
absurd anmutendeVersuche, die Aus-
gewogenheit zu wahren. Kürzlich er-
zählte ein Insider, wie er auf demReiss-
brett habe Diskussionsrunden zusam-
menstellen müssen, welche dieVielfalt
von Meinungen, Minderheiten, geogra-
fischenRegionen, Geschlechtern und
Generationen berücksichtigen sollten.
«Das war, bevoreine r der Studio-
gäste überhaupt zugesagt hatte», schrieb
er in einem anonymen Blog. «Wenn
unser einziger ‹progressiver nördlicher
Brexit-Anhänger›ausfiel, musste das
Puzzle neu zusammengesetzt werden.»
KulturellerVandalismus
Die vor 98 Jahren gegründete BBC
bleibt aber ein weltweiter Massstab für
fairen und wahrheitsgetreuenJournalis-
mus. Ihre Auslandsender sind eine Säule
der britischen «soft power», also von
Einfluss und diplomatischer Macht. Zu
meinen, die Lizenzgebührkönne durch
ein Bezahlmodell abgelöst werden, ist
Augenwischerei. Selbst wenn die BBC
hinter einerPaywall so erfolgreich ope-
riert wie Netflix in Amerika, müsste sie
mit Einnahmeausfällen von rund der
Hälfterechnen.
Auf der Strecke blieben dann etwa
die regionalen News-Sendungen. Als
einziges nationales Medienunterneh-
men ist die BBC nicht völlig auf das
Geschehen in der Hauptstadt fixiert.
Nicht zufällig verspürtJohnsonerst-
mals Gegenwind aus der eigenenPar-
tei. Damian Green, ein früherer Minis-
ter, nennt die Anti-BBC-Offensive
«kulturellen Vandalismus».
Die Moderatoren
sollen sich nicht
allzu ernst nehmen
und auf jeglichen
Dünkel verzichten.