Frankfurter Allgemeine Zeitung - 09.03.2020

(singke) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton MONTAG, 9.MÄRZ 2020·NR.58·SEITE 13


M


ein Homie hat am 1. Septem-
ber Amsterdam gekifft.“
Werden erfolgreichs ten
Rap-Song der letzten Mona-
te in Polen entschlüsseln will,kommt mit
der Landessprache nichtweit.Ein „Über-
setzer“ mussher,der möglichstwenig
mehr als achtzehn Jahrealt sein sollte–
sonsthat ihm der Slang, der da aus dem
Lautsprecher dröhnt,nicht viel zu sagen.
Istergefunden,kann das Hörverständnis
beginnen.Vorhang auf also für denRap-
per „Mata“ und seinen bekanntestenYou-
tube-Clip. Sein bürgerlicherName lautet
MichałMatczak,Jahrgang 2000,Abi-Jahr-
gang 2019. Der ersteVersdes Liedes lau-
tetauf gut Deutsch: „MeinKumpel hat
am 1. September (Schuljahresbeginn) Ma-
rihuanageraucht.“
Der Song, der 25 Millionen Mal ange-
schaut wurde, gilt inzwischenfast als
Selbstporträt einer Generation. Er be-
schreibt, oftmit drastischen, vulgären
Worten, das Leben jungerPolen, die gute
Oberschulen besuchen, in diesemFall das
elitär eWarschauer Batory-Gymnasium.
IhreElter narbeiten hart,gebenihren Kin-
derngutes Taschengeld, haben aber
kaum Zeit für sie; das Leben der Jugendli-
chen besteht aus Alkohol, Drogen, Sex,
Rap–und denVersuchen, all dasvorden
Lehrernhalbwegs zu verheimlichen.
„MeinKumpel hat sichzuSilvester aufge-
hängt“, heißt es mittendrin beiläufig, das
Thema wirdnicht vertieft. Der Höhe-
punkt des Liedes: „Zugedröhnt imUnter-
richtsind wir diePatho-Intelligenz“.Ma-
taskritischeWortschöpfung„Pato-Inteli-
gencja“ meint eine pathologisch, also
krankhaftveränderte Bildungsschicht .In
vielen slawischen Völker nhat „Intelligen-
zija“ (so dierussischeVariante) einen
Wohlklang wie etwa „Bildungsbürger-
tum“ hierzulande. Dochbei Matasucht
das lyrische Icheinen Ausweg: denRap,
„denn ichhatteschon fuckgenug vonall
dem Warmen und Schönen“, will sagen:
vondieser Jugend ohne materielle Sor-
gen, aber auchohne Sinn undextreme
Selbsterfahrung. „Ichwoll te immer
Gangsta sein, ichwollteimmer aus dem
Getto sein.“ Die Inteligencja, eine
Schicht mit Mission–aber jetzt zugekifft.
Werden Urheber derAufregung um
diesen Song sucht, mussimNordwesten
Warschaus das unwirtliche Gelände eines
riesigenchemischen Instituts aufsuchen.
In einem Gebäudeblockliegen zwischen
Warenlagernund Kleinfirmen der Krea-
tivwirtschaftdie Büroräume des Labels
SBM, dasgerade die ersteCDdes Rap-
persherausgebracht hat:„MATA.
Tage bis zumAbitur“. Die ersteKonzert-
tourneesteht bevor.
Die anderen Songs der CD sind nicht
alle rauschmittel- und sexfixiert. Mal
blickt Mataversonnen zurückauf seine
frühe Kindheit (im Song „GelbeFilzstif-
te“, zu dem ihn, wie er sagt, ein Psalm in-
spirierte); mal interpretierter, gerade
dem Stimmbruchentwachsen, das Lied

„Hallelujah“des inPolen beliebten Leo-
nardCohen. In „Montana“ tanzt er im da-
zugehörigen Videoclip im plüschrosa
Schlafanzug auf dem Balkon einerVilla
und besingt seine platonische Liebe zur
Walt-Disney-Fi lmheldin Hannah Monta-
na. „Die Bibliothek desTrap“ wiederum
zeigt ihn als braven Schuljungen; er sitzt
voreinem Bücherregal, trägt Mittelschei-
tel, Hornbrille und bewegt sich, wie so oft,
in rhythmischen Zuckungen. Dazu muss
man wissen, dassTrap eine hiphopartige
Musik aus Amerikabezeichnet, in der es
vorallem um die Drogenszenegeht.Im
Lied wehrtersichgegen das Mantrasei-
ner Mutter („nochhundertTagebis zum
Abitur“) und singt, er habe„Träume“ und
viele Liedverse in der Schublade.
Etwas verspätet erscheint der neue
Star,ganz der netteJungevon nebenan,
in Pulloverund Turnschuhen. Sein SBM-
Betreuer,erdürftekaum älter sein als
Mataselbst, sagt, derRapper habe bisher
so gut wie keine Interviews gegeben.
Mata, mit dem wir schnell zum Duwech-
seln, erklärt„Pato-Inteligencja“ undver-
teidigt den Songgege nKritik. Der bisheri-
ge Rapund Hiphop inPolen sei eine her-
metische Musik der Jugend aus den tris-
tenWohnblocks gewesen. Eindringlinge
aus der Inteligencja, aus der Mittel-
schicht, habe eskaum gegeben (auch
wenn Matarespektvoll einigenennt, wie
Tede oderTaco Hemingway). „Und dann
kamich und schrieb dieses Lied in einem
Bewusstseinsstrom, unter Alkoholein-
fluss. Ichbeschrieb Dinge, die ichselbst
gesehen habe, ichwolltesie so authen-
tischund brutal wie möglichschildern.“
Damit ister–trotzseiner ungewöhnli-
chen Herkunft–über Nachtaufgestiegen,
„indie ersteLigader polnischen Musiksze-
ne“. Auch wenn er sichnochnicht so füh-
le, sehe er das als seinengrößten Erfolg
an,soMata. Andere hättensichals Gangs-
tagetarnt und seien erfolglos geblieben.
Ermachteesanders: „Ehrlichkeit,Authen-
tizität, das istfür michdas Wichtigste.
Auch wenn ic haus einerFilterblasekom-
me, nichtvonder Straße, dashat mir
,stree tcredit‘ gegeben. Das istechthiphop-
mäßig.“ Matazieht eine historischeParal-
lele: So wie um 1900 derAdel sein Herz
für das Bauerntum entdeckt habe–ein
großes Thema in der polnischenKultur –,
so komme es jetzt imRapzur Verbindung
vonIntelligenz und „Straße“.
Außerdem spreche er mit dem Lied so-
ziale Missstände an. Prompt meldete sich
eine bekanntePolitikerin derkonservati-
venRegierungsparteiPiS zu Wort:Essei
unerhört,wasdaaneinem Elitegymnasi-
um stattfinde! Matasieht nocheinen As-
pekt:„Der neue Hiphop pflegtebisher ei-
nen Kult des Geldes,weil dieKünstler
vonunten kamen und sichihr Geld erst
verdienen mussten. Ic hdagegenkomme
aus einer Schicht, die alles hat, deshalb ist
mein Song aucheine Kritik des Geldes.
Geld macht nichtglücklich.“
In der polnischen Diskussion über
Matasind sichdie Kommentatoren einig:
Die Zustände an nichtelitäre nSchulensei-
en den im Lied beschriebenen ähnlich.
Den Vorwurf, erverherrliche in seinen
Texten den Drogenkonsum,weistMata
zurück. „Dieses Lied istkein Lob der Dro-
ge.Aber ic hwill auchnicht moralisieren.
Ichrauche manchmal,wie viele hier,Ma-
rihuana.Aber nichttägl ich. Undich bin
nicht stolz darauf.“
IstMataauf seinenVater stolz? Der
Jura-Professor Marcin Matczak istals Publi-
zisteinscharferliberalerKritiker derpolni-
schen Regierung.Manchmal verweist
Mata auf ihn,etwa bei derFrage, ob in Po-
len der Rechtsstaat i nGefahr sei. Gegen-

überHomosexuellensei er selbsttolerant,
sagtMata. Politik sei übrigensfür polni-
scheJugendliche „eines der am meistenver-
hassten undgemiedenen Themen“. Viel-
leicht bringt einVers aus„Tango“ Matas
Einstellung aufden Punkt:„Ichwillnicht
politischsein,aber wir allehabenangefan-
genals KorwinistenoderKommunisten.“
Es is trätselhaft: Kommunistengibt es
in Polen heutenur als winzigeSplitter-
gruppen,Korwinisten, Anhängerdes ex-
zentrischen PolitikersJanusz Korwin-
Mikke, hingegen zuhauf. Der heute
JahrealteKorwin, den viele alsPolit-
clown unterschätzen, istseit 1989 Dauer-
gast auf der politischen und publizisti-
schen Szene. Immerwarerproamerika-
nischund radikalliberal, daher auchskep-
tischgegenüber der „sozialistischen“ EU.
Dochals Russ land 2014 die Ukraine an-
griff, outetesichKorwin überraschend
als Putinist. 2018 führte er als Spitzenkan-

didat die „KonföderationFreiheit undUn-
abhängigkeit“ mit 6,8 Prozentder Stim-
men insParlament. Sie istein Sammelsu-
rium vonMonarchistenbis Rechts extre-
misten, einerechte Konkur renz derregie-
renden PiS, ihrestärksteKlientel sind
männlicheJungwähler.
Korwins Auftreten–Glatze,Schnauz-
bartund Fliege, dazu eine scharfgeschlif-
fene Sprache und dieLust an der Provoka-
tio n–hatihn zum politischen Dauerbren-
ner gemacht.„Die Extreme zogen uns
an“, sagt Mata, „esgabeine Zeit, da glaub-
te ichKorwin jedesWort.“ Sein „Charis-
ma desRegelverletzers“, seine inVideos
zu sehendedeftigeAbrechnung mitpoliti-
schen Gegnern(„das warhiphopmä-
ßig“), seine Idee der „totalen Freiheit“,
wie sie sichinder Forderung nachFreiga-
be aller Drogen äußerte,das habe ihn an-
gezogen. Heutescheint Korwin Mata
nicht mehrgeheuer zu sein.„Vielleicht

waresdie Rebellion um derRebellion wil-
len, die ihn für mich attraktiv machte.
Meine Sympathie für ihnwareher unpoli-
tisch.Wasermacht, sind Pranks–wie ich
sie in der Musik mache.“
So is tdie polnische Jugend: Ihr Land er-
lebt seit dem EU- undNato-Beitritt seine
beste Zeit seit dem 18. Jahrhundert. Den-
nochstimmen viele Jungwähler aus einer
großenteils antipolitischen Protesthal-
tung herausgegendas „System“ und für
Korwin; vielleicht istdie Beschreibung
„GenerationRebellion“, wie sie jetzt wie-
der durch Polens Mediengeistert,eine Er-
klärung. Dochfür Mataist all das nur
Brimborium. „Ichwill Künstler sein,
nichtPolitik machen“, sagt er.Jedenfalls
spürtergesellschaftlicheVerantwortung,
eine „moralischeVerpflichtung“, und er
hat Lampenfiebervorder er sten Tournee.
Das klingtfast nachder guten alten Intelli-
genz –und garnicht mal patho-mäßig.

Im Streit um die Leitung des Lands-
huterKoenig-Museums, das unter
anderem auchModelle der „Großen
Kugelkar yatide“vordem einstigen
WorldTrade Centerin NewYorkbe-
sitzt, hat das Landesarbeitsgericht
(LAG)München eine Entscheidung
getroffen. Das „Vieraugenprinzip“
sei unverhältnismäßig und unwirk-
sam,teiltedas LAGamMittwoch
mit.Die Leiterin des Museums,Ste-
fanjeWeinmayr,hatte geklagt,weil
sieviele Aufgabennur mitZustim-
mungdes Museumsamtsleitersma-
chen durfte.
Der Konflikt zwischen derStadt
Landshut und der Museumsdirekto-
rinkam nachdem Toddes Bildhau-
ersFritz KoenigimJahr 2017auf.
Die Stadt ordnete das Skulpturen-
museum dem Direktor derStädti-
schen Museen,Franz Niehoff, zu.
Niehoffist seitdem derVorgesetzte
Weinmayrs, die alsVertrauteKoe-
nigs undKennerin seinesWerksgilt.
Der Künstler hattesichexplizit
Weinmayr alsMuseumsleiteringe-
wünscht.Koenigund Niehoffhinge-
gengaltenals heillos zerstritten.
LandshuthatteeswederzuLebzei-
tennochpostumgeschaf ft,dem in-
ternationalrenommiertenKünstler
eine Retrospektiveauszurichten; die-
se fand 2018 in den Florentiner Uffi-
zien statt.Zudem istdas Gesamt-
ensemble desvon Koenig 1961
selbstgeplantenAtelierhauses am
LandshuterGanslberginakuterGe-
fahr,seineSammlung Hunderter
wertvoller afrikanischer Plastiken
seit Jahren zugroßenTeilen einge-
mott et.
Nach fast zwei JahrenRechts streit
kamdas LAGnun zu demErgebnis,
dassder ArbeitsvertragvonWein-
mayr aus demJahr 2010 „teilweise
weiter Geltung hat“.Die Stadt darf
ihrdamit weniger Vorgaben ma-
chen. Der Leiterindes Museumsste-
he aberkein Schmerzensgeldwegen
Mobbing zu. DieRevision zum Bun-
desarbeitsgericht wurde nicht zuge-
lassen. S.T.

Gymnasialbildungtaugt auchfür dieStraße: DerRapper Matapräsentiertsichvor der Schultafelals König. FotoSBM

Placido DomingowarEnde Juni in
London als der Marquis vonPosa in
Verdis „Don Carlos“vorgesehen.Nun
hat sichdie Co vent-Garden-Oper den
Häusernangeschlossen, die Auftritte
des spanischenStarsänger saufgrund
der gegenihn erhobenenVorwürfe
der sexuellen Belästigunggestrichen
haben.Wiedie NewYorkerMetropoli-
tan Oper im Herbst2019 teilteauch
Covent Garden mit, die Entscheidung
sei ingegenseitigemEinvernehmen
getrof fenworden. Diekönigliche
Oper hob hervor, dassimZusammen-
hang mit DomingosTätigkeit für sie
keinerlei Beschwerde überFehlverhal-
tenvorliege.
Im Herbsthattedie Opernleitung
den italienischenTenor Vittorio Gri-
golo für dieverbleibendenTermine ei-
ner Japan-Tournee suspendiert, nach-
dem einweibliches Chormitglied be-
hauptethatte, auf der Bühnevonihm
belästigtworden zu sein. Placido Do-
mingogabsein Londoner Debüt 1971
in derRolle des Cavaradossi in Pucci-
nis „Tosca“ und blieb dem Haus über
die Jahrzenteeng verbunden. Es gilt
als un wahrscheinlich, dassder 79 Jah-
re alteSänger dortwieder zu hören
sein wird. G.T.

Entscheidung im


Leitungsstreit


Zugedröhnt


durchsAbitur


Domingofällt


in London aus


Authentischer Star der


„Pat ho-Intelligenz“: Der


Rapper Matatrifftden


Soun dvon Polens


rebellischerGeneration.


VonGerhardGnauck,


Warschau

Free download pdf