Frankfurter Allgemeine Zeitung - 09.03.2020

(singke) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Politik MONTAG, 9.MÄRZ2020·NR.58·SEITE 3


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as Gerichtsgebäude, in dem an
diesem Montag einer dergröß-
tenStrafp rozesseind er nieder-
ländischen Geschichtebe-
ginnt, liegt direkt am Amsterdamer Flug-
hafen Schiphol.VondortstarteteamMor-
gendes 17. Juli 2014 eine Boeing 777 der
Malaysian Airlines RichtungKuala Lum-
pur.DochFlug MH17 erreichtenie sein
Ziel. Das Flugzeug verschwand sechs
Stunden nachdem Startvon denRadar-
schirmen.SeineTrümmergingeninder
Ostukraine nieder,ineinem Gebiet, das
bis heutevon prorussischen Separatisten
gehalten wird. Alle 298 Menschen an
Bord, die meistenaus den Niederlanden,
kamen ums Leben. Die niederländische
Staatsanwaltschaftist sichsicher :Das
Flugzeug wurdevonLeuten abgeschos-
sen, dieauf Seitender Separ atisten kämpf-
ten. Vier vonihnen wirdjetzt der Prozess
gemacht–inAbwesenheit.
Die Anklagelautet auf Herbeiführung
eines Flugzeugabsturzes mitTodesfolge
und vorsätzlichen Mord. Sierichtet sich,
nachjahrelangen Ermittlungen, gegen
drei Russ en und einen Ukrainer. IgorGir-
kin, genanntStrelkow (nach demrussi-
schenWort für Schütze),warseinerzeit
Verteidigungsministerund oberster Kom-
mandeur dervonden Separatisten ausgeru-
fenen „Volksrepublik Donezk“. SergejDu-
binskij,genannt Chmuryj (derMürrische)
wareiner derStellvertreterGirkins undlei-
tete den Geheimdienstder „Volksrepu-
blik“. Oleg Pulatow warder stellvertreten-
de Leiter des Geheimdienstes. All edrei
standen zuvor inrussischen Diensten. Gir-
kin warOberst des Inlandsgeheimdienstes
FSB, Dubinskijarbeitete für den Militärge-
heimdienstGRU,Pulatow gehörte dessen
Spezialeinheit an. Der vierte Angeklagte
LeonidChartschenko, genannt Krot
(Maulwurf), istUkrainer.Erhat keinen mi-
litärischen Hintergrund, kommandierte
im Juli 2014 aber eine Separatisteneinheit.
Die Staatsanwaltschaftwirft den vier
Männernvor, dasssie eine mobile Flugab-
wehreinheit ausRusslandindas Separatis-
tengebietverlegt haben und amAbschuss
des Passagierflugzeugs beteiligt waren.
Dabei handelteessichumein Geschütz
des Typs Buk-M1, das die Ermittler der


  1. Luftabwehrbrigade der russischen
    Streitkräfte zuordnen. Sie istinder Nähe
    der westrussischenStadt Kurskstatio-
    niert. Es geht deshalb in diesem Prozess
    nicht nur um dieAufklärung eines mut-
    maßlichenVerbrechens–was die Angehö-
    rigender Opfer,die alsNebenkläger am
    Prozessteilnehmen, seit langemfordern.
    Es geht auchumRusslandsRolle im
    Krieg in der Ostukraine.
    Alle vier Angeklagten halten sich, so-
    weit bekannt, inRussland oder auf der
    vonRussland annektierten ukrainischen
    HalbinselKrimauf. Da Moskaugrund-
    sätzlichStaatsangehörig enicht an andere
    Staaten ausliefert,verzicht etedie Staats-
    anwaltschaftauf einen entsprechenden
    Antrag.Nachniederländischem Recht ist
    es möglich, auchAbwesenden den Pro-
    zess zu machen. Es gibtkeine Pflicht des
    Angeklagten, selbstimGerichtssaal zu er-
    scheinen, oder sich voneinemAnwalt ver-
    treten zu lassen. Einer der vier Angeklag-
    ten, Oleg Pulatow, hat allerdings eine An-
    waltskanzlei eingeschaltet. Er könnte,
    wenn er will,vonseinemWohnortMos-
    kauaus perVideoschaltung an demVer-
    fahren teilnehmen.Um diese Möglichkeit
    zu eröffnen, wurdeeigen sdas niederländi-
    sche Recht geändert.
    Ursprünglichwollten die Ermittler den
    Prozessvor einem UN-Tribunal führen,
    dochlegteMoskau 2015 dagegen sein
    Veto ein. Dazu sagteder damalige UN-Bot-
    schaf terdesLandes, erkönne nichtverste-
    hen, warumder Abschus sals Bedrohung
    für den internationalenFrieden eingestuft
    werden solle. Immer wieder klagteMos-
    kau, es seivomJoint InvestigationTeam
    (JIT) ausgeschlossenworden, das die Er-
    mittlungenvonAnfang an führt. Die Nie-
    derlande haben darin denVorsitz, außer-
    dem haben drei StaatenFachleuteent-
    sandt, die selbstOpfer verzeichneten: Ma-
    laysia, Australien und Belgien. Die Ukrai-
    ne wurde hinzugezogen,weil das Flug-
    zeug in ihrem Luftraum abgeschossen wur-
    de. Russische Staatsangehörigewaren
    nicht an Bord, und Moskau leugnet, am
    Konflikt im Donbassbeteiligt zu sein, so
    dassunklar ist, aufwelcher Grundlage
    Russland am JIT beteiligt seinkönnte.
    Seinerseits beklagtedas JIT immer wie-
    der die mangelnde MitwirkungRusslands


bei den Ermittlungen. Moskau bezeichne-
te dagegenTonbandaufnahmen aus den
ostukrainischen „Volksrepubliken“ als
„Fak eNews“ im Sinne der „Propaganda“
Kiews.Das fiel umso leichter,solangenur
ukrainische Behörden und Journalisten,
allen vorandas führende Online-Recher-
cheprojekt Bellingcat, solcheAufnahmen
als echt behandelten. Seit aber das JIT
Aufnahmen als offizielle Dokumentewer-
tetund nun im Prozessverwenden will,
hat sichdie Lageverändert.

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enn deutlichwird, dassdie
„Volksrepubliken“ Schattenge-
bilde sind, mitrussischen Emis-
sären, die sichständig in Mos-
kaurückversichern.Aufden Bändernist
nachÜberzeugung der Ermittler unter an-
deren WladislawSurkowzuhören, der bis
in denvergangenen Januar Präsident Wla-
dimir PutinsBera terfür die Ukraine ein-
schließlichder „Volksrepubliken“war. So
dürfteder Prozess, auchwenn die Ange-
klagten nicht an Ortund Stelle sind, ein
weiterer Sargnagel für die Kreml-Mär
vom„Bürgerkrieg“ nacheinem „faschisti-
schenUms turz in Kiew“werden.
Moskau passt es nicht, dassder im Wes-
tenvon vielenvergessen eKrieg in der Ost-
ukraine nun wiederinErinnerung gerufen
wird. Denn man hofft,auchmit de n„Part-
nern“ im sogenanntenNormandie-Format
in Berlin undParisDruck auf Präsident
WolodymyrSelenskyj aufbauen zukön-
nen, umZugeständnissezuerreichen, und
will dieAufhebung derwestlichen Sanktio-
nen erwirken. Der Prozesskönnteden ei-
gentlichgünstigenKontext gefährden.
Auch für Selenskyjkönnteerzueiner
Herausforderungwerden. Zwar hat die

Ukraine selbstverständlichein großes In-
teressedaran, dassdie vier Angeklagten
verurteiltwerden undRusslandsSchuldda-
mit quasi bewiesen ist. UndKiewwirdes
ebenso gutheißen, dassmit dem Prozess
der Krieg in der Ostukraine wieder in den
Fokusrückt, in dem es seit 2014 mehr als
13 000Tote gegeben hat.Dochder junge
Präsidentwarmit demVersprechen in den
Wahlkampfgezogen, ebendiesen Kriegzu
beenden–und dazu bedarfeseiner akzep-
tablen Beziehung zu Russland. Erste

Schritteder Annäherung hat es in denver-
gangenen Monaten schongegeben: zwei
Gefangenenaustausche,Truppenentflech-
tungen an derKontaktlinie und schließlich
den ersten Normandie-Gipfel seit drei Jah-
renimDezember.Dochschon imFebruar
kameszur nächstenEskalation in der Ost-
ukraine,die Selenskyj als „zynische Provo-
kation“ bezeichnete.Seit seinem hohen
Sieg in derStichwahlgegenAmtsinhaber
PetroPoroschenkosinken die Beliebtheits-
wertedes ukrainischen Präsidenten und
seinerRegierung inUmfragen. Erst in der
vergangenenWochehat der ukrainische
Präsident viele seiner jungen, politischun-
erfahrenen Minister,die einen Neuanfang
in der ukrainischen Politiksymbolisieren
sollten,gegenerfahrenereausgetauscht.
Drei Tage vordem Beginndes Prozes-
ses um MH17stellteSelenskyjRuss land

in der britischenZeitung „Guardian“ ein
Ultimatum: Bis zum Ende des Jahres solle
es eine Lösung fürFrieden in der Ost-
ukrainegeben. „Wenn es länger dauert,
müssen wir dasFormat ändernund eine
andereStrategiewählen.“ SeineDru ck-
mittel sind begrenzt –und derAusgang
des Prozesses wirdzudiesemZeitpunkt
voraussichtlichnoch nichtfeststehen.
In der Verhandlung wirdesfür die
Staatsanwaltschaftdarauf ankommen, die
Beteiligung der vier Angeklagtengerichts-
fest nachzuweisen. DengrößerenTeil ih-
rerBeweisstücke will sie erstmals im Pro-
zessvorlegen, für den das Gericht zu-
nächs t25Verhandlungswochen bis März
2021 reservierthat.Esstellen sichvor al-
lem zwei Herausforderungen. Zum einen
gehörendie vier Angeklagten zu einergrö-
ßeren Befehlskette, die nachÜberzeu-
gung der ErmittlervomKreml und dem
russischenVerteidigungsministerium bis
zu den Soldatenreicht, die dasRaketenab-
wehrsy stem an jenemTagbedient haben
–über diesePersonen istjedochbislang
nichts weiter bekannt.Waren sie Frei-
schärler odergehörtensie zur 53.Luftab-
wehreinheit derrussischenStreitkräf te?
Warendie vier Angeklagten wirklich
(mit-)verantwortlichfür denAbschuss?
Zumanderen deuten die bislangveröf-
fentlichten Tonbandaufnehmen darauf
hin, dassdie Separatistennicht vorhat ten,
ein Passagierflugzeugabzuschießen.Viel-
mehr hatten sie eswohl auf ein ukraini-
sches Militärflugzeug abgesehen. Kann
dasGerichtsiegleichwohlwegen„vorsätz-
li chen Mordes“verurteilen? Lauteiner
jüngstenUmfrag edes Meinungsfor-
schungsinstituts Lewada-Zentrum glau-
ben mittlerweile zehn Prozent derRuss en,

dassRusslandverantwortlichfür denAb-
schus svon MH17war. Das scheinenweni-
ge zu sein, sind aber fünfmal so viele wie
2015, als es nur zwei Prozentwaren. 60
Prozent gaben jetzt der Ukraine die
Schuld, 26Prozentwollten sic hnicht festle-
gen. Hinzukommt, dasssichmehr als die
Hälfteder Befragten dafür aussprach, den
Hinterbliebenen der Opfer Entschädigung
zu zahlen, sollte ein GerichtRussland für
den Abschussverantwortlichmachen.

W


elche Bedeutung der Fall
MH17 für den Kreml hat,
zeigtesichimvergangenen
Spätsommer,als Moskau
laut russischen Medienberichten die Ein-
beziehung des UkrainersWladimirZe-
machzur Bedingung dafür machte, dass
ein Gefangenenaustauschmit Kiewzu-
standekommen würde. Das JITwollte
den vomukrainischen Geheimdienst
SBU aus dem besetzten Donbassentführ-
ten, ehemaligenKommandeurder Luftab-
wehr der Separatistender Stadt Snischne,
in derenNähe MH17 abgeschossen wur-
de, alsZeugen befragen. DennZemach
hatteineinemFilm der Separatistenge-
sagt, er habe nachdem Abschus setwas
„ver steckt“. DieStelle, an der er sagt,was
dies war, istmit einem Pieptonunkennt-
lichgemacht, laut Fachleuten sagt er
„Buk“.Zemachwurde dann jedochim
AustauschAnfang September 2019von
KiewanMoskau übergeben, so dasser
nicht alsZeugeaussagen wird. Präsident
Selenskyjstand in der Ukraine deswegen
heftig in der Kritik,viele sahenZemachs
Auslieferung als einen zu hohen Preis an.
DerFallMH17gilt au ch längs tals Mus-
terbeispiel für Moskaus Desinformations-

taktik.Kurznachdem Abschus shattedas
Staatsfernsehen berichtet,die Separatis-
tenhätten abermals ein Flugzeug der
ukrainischen Luftwaffeabgeschossen,
wie eine Erfolgsmeldung unter vielen.
Erst als dieVerwechslung klar wurde,
schwenkte man um–und setztedarauf,
eine Vielzahlvon Versionen zum Ende
des Fluges zustreuen.Ziel is tes, Verwir-
rungzustiften,aufdassdasPublikum
glaubt, es sei unmöglich, dieWahrheit
über denAbschuss herauszufinden, und
Russland Opfer einerVerschwörung.
Daran beteiligt warauchder bekanntes-
teder vier Angeklagten, Igor Girkin. Der
mittlerweile 49 JahrealteMoskauer beju-
belteam17. Juli 2014 zunächst,dassein
weiteres Transportflugzeug vomTyp
An26 der ukrainischenLuftwaffeabge-
schossenworden sei, wie schon dreiTage
zuvor .„Wirhaben dochgewarnt :Fliegt
nicht in ,unseren Himmel‘.“ Alsbald di-
stanzierte er sic hvon demAbschus sund
verbreit ete, diePassagiereanBord des
Flugzeuges seien schonvordem Absturz
totgewesen: Ein „bedeutenderTeil der
Leichname“,welche die Separatistenein-
sammelten,sei „nicht frisch“. „Die Leute
sind bis zu einigenTage vorher gestor-
ben“, die Pilotenseien indes „natürlich“
nochamLeben gewesen.
Diese Geschichtegriff das russische
Staatsfernsehen auf, ebenso eine andere
These: „UkrainischeRaketen“ hätten ei-
gentlichdasFlugzeugPutinsabschießen
sollen, mit dem der Präsident an jenem
Tagaus Lateinamerika zurückflog; man
berief sichauf ähnlicheKonturen undFar-
ben beider Flugzeuge. Nicht alle diese
Theorien dürften mit dem Segen des
Kreml entstanden sein: DieStaatsmedien-
macher habeneinen gewissen kreativen
Spielraum innerhalb dervonoben gezoge-
nen Linien, in diesemFall PutinsAussa-
ge,„der Staat, über dessen Gebietdas ge-
schah, hat dieVerantwortung für diese
schrecklicheTragödie“.
Aber auchhohe Funktionärewirkten
an de rKampagne mit. Kurznach dem Ab-
schus sforder te der damaligestellvertre-
tende VerteidigungsministerAnatolijAn-
tonow–er is tnun Russ lands Botschafter
in Washington–die Ukraine auf,Aus-
kunftüber dieVerwendung ihrerLuft-
Luft-sowie Boden-Luft-Raketen zuge-
ben. Denn seinerzeit hattesichMoskau
nochnicht darauffestgelegt, ob ein ukrai-
nischesKampfflugzeug oder eine Flugab-
wehrrakete der ukrainischenStreitkräfte
das Flugzeug abgeschossen haben sollte.
Erst in dem Maße, in dem sichdie Er-
kenntnisse über den Abschusshergang
konkretisierten, passteman sichanund
behauptetmittlerweile, eine Buk des
ukrainischen Militärshabe MH17 abge-
schossen. Immer wieder wurden Russ-
landsFunktionären plumpeFälschungen
nachgewiesen.
Antonowadelteseinerzeit sogar die
vonKreml-Medienverbreit eteAussag eei-
nes angeblichen „spanischen Fluglotsen“,
dass„zwei ukrainischeKampfflugzeuge“
die malaysische Boeingkur zvor d eren
Abschuss „begleitet“hätten. In einem In-
terview-Band deskremlfreundlichen ame-
rikanischenRegisseursOliver Stone aus
dem Jahr 2017griffselbstPutin die Lot-
sen-Geschichteauf. Sie wirktevon Be-
ginn an bizarrund wurde widerlegt;Jour-
nalistenfanden später einen Spanier,der
im StaatssenderRT aufgetretenwar und
berichtete, er habevonrussischen Quel-
len für seineTwitter-Beiträgeals „spani-
scher Fluglotse“ 48 000 Dollar bekom-
men, habe nie als Fluglotsegearbeitet
und sei beimAbschus svon MH17 nicht
in der Ukrainegewesen.
Noch kurz vordem Prozesssucht ePu-
tins Sprecher,Dmitrij Peskow,Moskaus
Sache zu dienen, indem er Behauptungen
eines kremlfreundlichen Niederländers
zu einem angeblichenFehlen vonBuk-Ra-
ketenamTator tzur Tatzeit zum Anlass
nahm, den Ermittlerneine „engagierte
Position“vorzuwer fen. Bald darauf sagte
Peskow,erwolle die Entscheidung des Ge-
richts nichtvorwegnehmen, habe aber
die Objektivität der Ermittler immer an-
gezweifelt, und MoskausAußenministeri-
um beklagtedieser Tage,inden Nieder-
lande nwerde Druckauf dieRich teraufge-
baut.Auf dieseWeise stimmt der Kreml
sein Publikum auf den Prozessinden Nie-
derlanden ein und macht klar:SolangePu-
tin an der Macht istund womöglichdar-
über hinaus,werden dieTotenvon Flug
MH17 ungesühnt bleiben.

Stumme Anklage: Wrackteil der Boeing 777 der Malaysian Airlines im ukrainischen Grabowo im Juli 2014 FotoMauricio Lima/Laif

Das St Antony’sCollegezählt zu denfeins-
tenAdressen der internationalenPolitik,
weshalbNorbertRöttgen nicht zögerte,
die Einladung nachOxfor danzunehmen.
Werhier sprechen darf, zumal imRah-
men der „DahrendorfLecture“, schwebt
zwei Fußbreit über dem Boden. FürRött-
gen, denVorsitzenden desAuswärtigen
Ausschusses im Bundestag, der imRen-
nen um den CDU-Vorsitz hinterherhinkt,
istdas ein seltenesVergnügen.Timothy
GartonAsh, der Hausherr, näherte sich
der Lageseines Gastesmit sanfterIronie,
als er ihn den „möglichen nächstenAnfüh-
rerder freienWelt“ nannte.
In der ersten Reihe saßen Manuel Bar-
roso, einstmals EU-Kommissionspräsi-
dent, und Lady Dahrendorf, die mit dem
verstorbenen Leiter desSt Antony’sCol-
legeverheiratet gewesen war. Alleswar
an diesemAbend ein bisschen ehrwürdi-
gerals sonst, auchRöttgens Diskussions-
partner GideonRachman, den Garton
Ash zu dem (neben ThomasFriedman)
„wichtigstenKommentator der englisch-
sprachigenWelt“ erklärte.Eigentlichwar

der Journalistnur fürRöttgen eingesprun-
gen, nachdem der wiederum die Haupt-
rednerin hatte ersetzen müssen: die frühe-
re amerikanische Sicherheitsberaterin
Condoleeza Rice, diekurzfristig abgesagt
hatte.Röttgen übtesichinenglischem
Understatement, als er betonte, wie ent-
täuscht er sei, nunstatt Frau Rice sich
selbstzuhören zu müssen. In seinem ein-
stündigen, weitgehend frei gehaltenen
Vortrag zum Thema „Deutschland, Euro-
pa und derWesten“ führte er dannvor,
dasserzuden wenigen BerlinerPoliti-
kern gehört, die übergeopolitischeFra-
gennachdenken und auchsprechenkön-
nen.
Erst vorelf Jahren hatteder im Rhein-
land verwurzelteRechts- und Innenpoliti-
kererste Gehversuche auf derWeltbühne
gemacht.Sein Amt alsUmweltminister
führte ihn aufweit entfernteKonferen-
zen, wo er vorallem staunteund lernte.
In seinerRolle alsVorsitzender desAus-
wärtigen Ausschusses–ein Gnadenbrot
nachseinemRausschmissaus demKabi-
nett Merkel–holteerdann auf und mach-

te sichbald einenNamen alskompetenter
Außenpolitiker.
Dem Vereinigten Königreich gehört
sein besonderes Interesse, nicht nurweil
er zwei seiner drei Kinder auf englische
Internategeschickt hat.Röttgenzählt zu
den VermittlernimBrexit-Prozessund ist
präsent in britischen Medien.Unlängst
wählteihn der in Londonansässig e„Club
of Three“ zu seinem Präsidenten, ein bri-
tisch-deutsch-französisches Gesprächsfo-
rum, dasvondem Verleger George Wei-
denfeldgegründetwordenwar. Damit ist
Röttgen nochnicht auf demWeg, nach
Dahrendorfund Weidenfeld der nächste
deutsche „Lord“ zuwerden, aber zurzeit
isthier kein deutscherAußenpolitiker so
respektiertwie derAbgeordnete aus dem
Rhein-Sieg-Kreis II.
Der präsentierte eine düstere Analyse.
Zusammengefasst lautetsie so: DerWes-
tendroht zu zerfallen, Europaverschläft
die Entwicklung, und Deutschlandsteckt
in einer Identitätskrise. DieWeichenstel-
lung, die Deutschland nunvornehmen
müsse (also, so hörte man mit, unter Mer-

kelverschleppthat), lasse sichinseiner
Tragweitenur mit den Entscheidungen
der Adenauer-Ära vergleichen, sagteer.
Es gehe um dieFrage: „Wer wollen wir
sein?“ Der nachlassendeFührungs- und
OrdnungsanspruchAmerikas hättedie
„Stunde Europas“ einläutenmüssen, argu-
mentierte er.Stattdessen sei die EU „so
gespalten undgelähmt wie nie zuvor“.
Phrasen wie dievonder „WeltmachtEU“
warenvon Röttgennicht zu hören. Er ließ
wenig Zweifel daran, dasserden Integrati-
onsprozessfür erschöpfthält und die EU
jetzt über nationalstaatlicheKooperation
„Resultateproduzieren“ müsse,wolle sie
ihreGlaubwürdigkeit erhalten. Die EU,
sagteRöttgen, müsse sich„voneinem
nachinnen gerichtetenProjekt in ein
nachaußengerichtetesProjekt verwan-
deln“.
Als Keimzelle der Neuausrichtung
sieht er eineverstärkte Zusammenarbeit
Deutschlands,Frankreichs und Großbri-
tanniens. Sie sollten alsNationalstaaten
ihreaußenpolitischen Ziele definieren,
koordinierenund gemeinsamvorgehen –

je nachLagemit weiteren EU-Mitglie-
dern.Wolle Europa seine Interessen in
der Nach barschaft–in Afrikaund imNa-
hen Osten–durchsetzen, müsse dieses
„E3-plus“-Engagement aucheine „militä-
rischeKomponente“ beinhalten, sagte
Röttgen.
Rachman bezeichnete die Einbezie-
hung desKönigreichs in einekünftig eEu-
ropastrategie als „Musik in britischen Oh-
ren“, wendete aber ein, dassdie Br exit-
Verhandlungenbislang nicht auf einege-
deihliche Kooperation hindeuten wür-
den. Er fragteRöttgen,wo er diestrategi-
schen Gemeinsamkeiten Deutschlands,
Post-Brexit-Britanniens und eines eher
gaullistischorientiertenFrankreichs
sehe. Skeptischäußerte er sic hauchüber
die Begeisterung vonEU-Staaten wie Ita-
lien über eine selbsterklärte Avantgarde.
Röttgen hattenicht auf alle Einwände
Antworten, aber erverteidigteseine gro-
ßen Linien.Zurgrößten Herausforderung
–noch vordem Islamismus und Putins
Russland –erklärte er dieVolksrepublik
China. Die Europäer müssten endlich

eine „gemeinsame China-Strategie“ ent-
wickeln und im „transatlantischen Dia-
log“ zu einem Konsensfinden. Dabei
blitzteVerständnis für die härtere Gang-
artWashingtonsgegenüberPeking her-
vor. Er warnte zwar davor, mit China ei-
nen „Feindesersatz“ zu schaffen, um so
die Nato zu kitten, bezeichnete aber die
Einbettung in denWesten als eine „Frage
des europäischen Selbsterhalts“. Ohne
die VereinigtenStaaten drohe die EU aus-
einanderzufallen und ihresicherheitspoli-
tischen Interessen nicht mehrvertreten
zu können.
Am Ende desAbends warRöttgen so
sehr Welt- undRealpolitiker, dasserFra-
genandie „Werte“der EU eherkühl be-
antwortete .EinemStudenten, den die
Lageder Flüchtlingeander griechischen
EU-Außengrenze Grenze empörte,riet
Röttgen, lieber auf die türkische Grenze
zu Syrien zu blicken. Dortgeschähen die
Kriegsverbrechen und humanitärenKata-
strophen,während den Flüchtlingen im
Westen derTürkei„nur derZutritt zu eu-
ropäischem Bodenverwehrt“ werde.

Werschoss MH17 ab?

SofiaDreisbach,
Thomas Gutschker,
Brüssel,Friedrich
Schmidt,Moskau

Ausdem Wahlkreis Rhein-Sieg II nachOxford


Im Rennen um den CDU-Vorsitz läuftNorbertRöttgen hinterher,dochinGroßbritannien wirderals außenpolitischer Denkergeschätzt / VonJochen Buchsteiner, London


An diesem Montag beginnt in Amsterdam der Prozessgegen dreiRussen und einen


Ukrainer,die mitverantwortlichfür denAbschus sder Passagiermaschine über der


Ostukraine im Jahr 2014 sein sollen.

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