Frankfurter Allgemeine Zeitung - 09.03.2020

(singke) #1

SEITE 6·MONTAG, 9.MÄRZ2020·NR.58 Die Gegenwart FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


B


undeskanzle rinAngela Mer-
kelbemerkteinder Haus-
haltsdebatteimDeutschen
Bundestagam7.September
2016: „...der Bürgerin
Deutschlandinteressiert
sichnicht dafür,welche Ebenegerade zu-
ständigist,sondernerwill einenZugang
für sichhaben.“ Mit dieserFeststellung hat
sie sicherlichrecht, denn für den Bürger
sind föderaleZust ändigkeiten im Bundes-
staat ehervonnachgeordnetemInteresse.
Vielfachsindsieihmnichteinmalbekannt
–abgesehenvonder Schulpolitik.Indie-
sem Fall werden sie meisteher alsNachteil
begriff en. Bemerkenswertist aber auch,
dassdiese Fragedie verantw ortli chen Poli-
tiker zunehmend nicht mehr interessiert,
sonderneine Tendenzzum „Alle machen
alles“ besteht.
Der deutsche Bundesstaat unterscheidet
sichvon fast allen anderenföderalenStaa-
tendurch einefunktionaleAufgabentei-
lung.Andersals in den vielfachals Modell
herangezogenen angelsächsischen Bundes-
staaten wie denVereinig tenStaaten oder
Kanada istnicht dieAufgabenteilung nach
Politikfeldernvorher rschend. Seit der Bis-
marck’schen Reichsgründungvon1871 do-
miniertdie Teilung nachFunktionen. Die
Gesetzgebung obliegtimWesentlichen
dem Bund, dieAusführung den Ländern,
die Finanzierungfolgt nicht derVeranlas-
sung ,sondernimGrundsatz derAusfüh-
rung: Nichtwerbestellt, bezahlt, sondern
der,der die Bestellung ausführt.
Eine weitereBesonderheitverbindet
sichmit dieserFormder Aufgabenteilung:
der Bundesrat.Esist weltweit einmalig,
dasssichdie zweiteKammer der nationa-
len Gesetzgebungskörperschaftaus den
Regierungen der Gliedstaaten des Bundes
zusammensetzt.Die Rechtfertigungfindet
sichdarin, dassdie Regierungen der Glied-
staaten die Gesetze des Bundes„als eigene
Angelegenheit“, wie es im Grundgesetz
heißt, ausführen und bezahlen.
Diese besonderen Strukturprinzipien
der bundesstaatlichen Ordnung zeigen
eine enormeKontinuität.Trotz aller Brü-
cheinder deutschen Geschichtedes 20.
Jahrhunderts, trotzzweier Diktaturen und
der VereinigungvonBundesrepublik und
DDR hat sichander grundlegenden Bis-
marck’sche nKonstruktionwenig geän-
dert. Natürlic hhat es auchVeränderungen
gegeben. Die einschneidendste istdie Me-
tamorphose desvordemokratischen Fürs-
tenbundesvon 1871zum demokratischen
Bundesstaat des Grundgesetzes.
Es erscheint paradox,dassdie Rationali-
tätdes deutschen Bundesstaates nicht dar-
inliegt,regionaleVielfalt undUnterschied-
lichkeit zu bewahren. Die Maxime lautet
vielmehr, gleichwertigeLebensverhältnis-
se zu schaffen. Das istdie Konsequenz aus
weitgehendbundeseinheitlicher Gesetzge-
bung inVerbindungmit dem Gleichheits-
grundsatz derVerfassung.FöderaleUnter-
schiedlichkeit beschränktsichauf Variatio-
nen des Gesetzesvollzuges, soferndie Ver-
waltungsvorschriften diese erlauben.
Tatsächlichweistdie Bundesrepublik
auchimVergleichmit unitarischenStaa-
tenein hohes Maß an Homogenitätauf:
Trotzaller ökonomischen Unterschiede
finden sichauchinperipherenRegionen
ordentliche Schulen, eine hinreichende
Krankenversorgung und vielfachauchein
akzeptableskulturelles Angebot. Das istin
der historischenRückschau, aber auchim
synchronenVergleichnicht selbstverständ-
lich.Esentspricht aber auchden vorherr-
schendenErwartungen der Bevölkerung.
UnterschiedlicheStandards,etwa im Schul-
wesen, treffenvielfac hauf Unverständnis
und werden als ungerecht empfunden. In-
sofer nbeschreibt die Bundeskanzlerin die
Erwartungshaltung der Bürgerzutref fend.
Zweiweiter eUmstände sind erheblich
für den interregionalenAusgleich:Zumei-
nen istesder gesamtstaatlichausgerichte-
te Parteienwettbewerb unter Bedingungen
einesprop ortionalenWahlrechts.Keine
Partei kann es sichunter diesen Bedingun-
gen„leisten“, Regionen zuvernachlässi-
gen. Selbstdie CSU,die anders als andere
Parteien spezifische Landesinteressen in
den Vordergrund stellen kann, mussinner-
halb des Landes für einenAusgleic hsor-
gen. Zumanderen sind dieRegierungs-
chefsder Länder als Mitglieder des Bun-
desrates eng in die Bundespolitik einge-
bunden.Zudem sind siegewählteoder Ex-
officio-Mitglieder ihrer jeweiligenPartei-
präsidien. In dieser Eigenschaftnahmen
sie, soweit sie den BerlinerRegierungspar-
teien angehörten, an den letztenKoaliti-
onsverhandlungen auf Bundesebeneteil.
Sie sind damitprimär Lobbyistenfür ihre
Länder beim Bund, denen es nicht in ers-
terLinie umföderalenWettbewerb geht,
sondernumEinflus sauf die Bundespolitik
und um die Optimierung der Landespoli-
tik durch Kooperation mit dem Bund.
Die Bundesstaatsreformen von
und 2009, derenPara digmen „Entflech-
tungder Ebenen“, „mehrföderalerWettbe-
werb“ und „mehr Eigenverantwortung“
hießen, haben einigesinnvolle Er gebnisse
hervorgebracht.Vielfachhaben sie sich
aber auchals problematisch erwiesen und
sinddeshalb 2017 und 2019korrigiertwor-
den. DieReformen, insbesonderedie des
Jahres 2006, wurden in erheblichemUm-
fang zurückgenommen.Außerdem wurde
der bisherigeLänderfinanzausgleichabge-
schaf ft und durch finanzkraftabhängige
Zuweisungenandie Länder ersetzt, die im
Zuge der Umsatzsteuerverteilung zwi-
schen Bund und Länderndurchgeführt
werden.
Die Gründe für diesen Systemwechsel
warenbanal. Bayern wollteseine Zah-
lungsverpflichtungen deutlichreduzieren,
Nordrhein -Westfalen, das imAusgleichs-
system ein Empfängerlandgeworden war,
wolltenicht länger als „finanzschwach“
gelten. Innerhalb des Systems waresnicht
möglich, beidenWünschen zugleichge-
recht zu werden. Deshalbwarein Sy stem-
wechsel er forderlich,genau betrachtet,we-
genSymbolpolitik. Mit dem Länderfinanz-
ausgleichwurde zugleich einKernstück


des deutschenFöderalismus aufgegeben,
nämlich die „bündische“ Solidarität unter
den Ländern,das „Einstehen füreinan-
der“. Diefinanzpolitische Seiteder Ver-
wirklichung der Gleichwertigkeit der Le-
bensverhältnisse im Bundesgebietwurde
damit den Ländernweitgehendaus der
Handgenommen undverstärktindie Ver-
antwortung des Bundesgelegt.
Ob dieseNeuerung für den Bundesstaat
ein Gewinn oderVerlus tist,ist derzeit
nochungewiss. Dasfinanzielle Vertei-
lungsergebnis rechtf ertigt dieReform
nicht, man hättedasselbe auchmit dem
hergebrachten Systemerreichenkönnen.
Kritikerverweisen darauf, dasssichmit
der Abschaffung des Länderfinanzaus-
gleichs dieStatik des Bundesstaatesver-
schiebt.Die Zusammenarbeitunter den
Ländern,deren horizontaleVerflechtung,
wirdaneinem entscheidendenPunkt, den
Finanzen,abgebaut.Das führtnotwendi-
gerweisezueinerStärkung des Bundes
und –entgegen allenpolitischen Sonntags-
reden –zueinerweiterenZentralisierung.
Die Befürworterbegrüßen, dassein Re-
likt der Besatzungszeit–das er steFinanz-
ausgleichsgesetzvon1949 warnocheines
der Trizone–abgeschafft wurde und durch
ein transparenteresVerteilungssystem er-
setzt wurde, in dem der Bund die Hauptver-
antwortung trägt.Von dem neuen System,
das das hochkonfliktträchtige„Abgeben
aus dem Eigenen“–die Zahlungen derfi-
nanzstarken an diefinanzschwachen Län-
der –beendet,wirdeine friedenstiftende
Wirkung und eineEnde des Dauerstreits
über dieSteuerverteilung unter den Län-
dernerhofft.Obdie Kritiker oder Befür-
worter am Enderecht beha lten, istjetzt
nochnicht zu entscheiden.
Die Vertikalisierung der Bund-Länder-
Finanzbeziehungen wurde durch mehrere
Urteile des Bundesverfassungsgerichtesge-
fördert. Die frühenFinanzausgleichsgeset-
ze be standenaus einem Mixvonanerkann-
tenSonderlastender Länder,wie beispiels-
weise dieZahl der Flüchtlinge, die in den
Nachkriegsjahren aufgenommen wurden,
und demAusgleic hvon Steuereinnahmen.
Die BerücksichtigungvonLastenwurde
bei gleichzeitiger Intensivierung desSteu-
erausgleichsabgebaut.Das Bundesverfas-
sungsgerichtentschiedinseinemUrteil
von1986 und infolgenden,dassder Län-
derfinanzausgleichals reinerAusgleich
der Steuereinnahmen ohne die Berücksich-
tigungvon besonderen Lasteneinzelner
Länderzu gestalten sei.Besondere Lasten
könnten bei den Bundesergänzungszuwei-
sungen berücksichtigtwerden.
Schon durch diese Rechtsprechung wur-
de das bündische Eintreten de rLänder für-
einandergeschwächt.Probleme einzelner
Länder wurden nicht mehr untereinander
gelöst, sondernauf Drängen desVerfas-
sungsgerichtesanden Bund delegiert. Inso-
fernistdieEntwicklung hin zu einemverti-
kalen Ausgleic haucheine Folgeder Verfas-
sungsrechts prechung.
Weiter eVerfassungsänderungen desJah-
res2017 stärkten zusätzlich dievertikalen
Strukturelementedes deutschen Bundes-
staates. Mit derÜberführung derVerwal-
tung der Bundesautobahnen in die Bundes-
verwaltungverloren die Länder die Zustän-
digkeit für deren Bau undUnterhaltung.
DassihreMitsprache beimAusbauder Au-
tobahnendavon unberührt bleiben wird,
darfman bezweifeln. Mit der Möglichkeit
vonFinanzhilfen im Bereichder „kommu-
nalenBildungsinfrastruktur“ –spric hSchu-
len –drang der Bund in eines der bisher
vonden Ländernentschiedenverteidigten
Aufgabenfelder ein.Anfangs beschränkt
auf„finanzschwache Gemeinden“, wurde
diese Einschränkung 2019gestrichen. Nun
können auchfinanzstarkeGemeinden von
den Bundesgeldern profitieren.
Fürdie Hochschulen wurde das soge-
nannteKooperationsverbotimBildungs-
und Wissenschaftsbereichschon 2015 auf-
gehoben. Bundund Länderkönnenseit-
demwieder bei derFörderungvonWissen-
schaft, Forschung und–das is tneu –der
Lehrezusammenwirken.
Die Grundgesetzklauselvon2006, dass
der Bund Finanzhilfen nur für durch Bun-
desgesetz bestimmteAufgabengewä hren
dürfe,wurde durch verschiedeneneue ver-
fassungsrechtlich fixierteAusnahmenund
die Wiederaufnahme der Hilfen für die Ge-
meindeverkehrsfinanzierung,die Seehä-
fenund die Haushaltssanierungen vonBre-
men und des Saarlandesfaktischunterlau-
fen. 2019kamder sozialeWohnungsbau
hinzu.Auch für ihn darfder Bund jetzt wie-
der Mittel bereitstellen. Mit derWiederein-
führungvonFinanzhilfen des Bundes für
Aufgabe nder Länder wurde zugleichein
deutlichgestiegenesKontrollrecht des Bun-
des durch den Bundesrechnungshof und
die Möglichkeit zur Akteneinsichtgeschaf-
fen. Zu erwarten ist, dassder Bundesrech-
nungshof auf eine einheitlicheVerwal-
tungspraxis der Länder dringen wird.
Mit diesenGrundgesetzänderungen so-
wie der einfachgesetzli chen Nutzung die-
ser wieder eingeführtenMöglichkeiten des
Bundes, durch Finanzhilfenlandespoliti-
sche Aufgaben zuförd ern, istman noch
nicht an einemEndeangekommen. Im Ge-
genteil, auf derAgenda der Bundespolitik
stehen dieFragen, ob man durch Bundes-
hilfen die besondersverschuldetenGe-
meindenvonihren Altschulden entlasten
könnte, die einerKostenbeteiligung des
Bundesfür den ab 2025geltendenRechts-
ansprucheinerGanztagsbetreuung von
Grundschulkindernsowie diefinanzielle
Förderung deskommunalen öffentlichen
Personennahverkehrs. Es istwohl auszu-
schließen, dassder BundFinanzierungen
ohne Kontroll rechte übernehmenwird.
Warumdieser Paradigmenwechsel?
2006 bestand bei allen Meinungsverschie-
denheiten im Detail Konsens darüber,dass
die Ebenen des Bundesstaates durch eine
Entflechtung derAufgabengestärkt wer-
den sollten. Anstelle vonKooperation soll-
te mehr Eigenverantwortung und damit
auchmehr demokratischeVerantwortung
gegenüber demWählertreten. Auch für
den Bürgersollteesvon Interesse sein,wer

wofür zuständigist. Ihm sollten damit
auchmehr Möglichkeiten gegeben wer-
den, mit demStimmzettelPolitikzubeloh-
nen oder abzustrafen. Damitwäre auch
das höhere demokratischePotentialvon
Bundesstaatlichkeit besser ausgeschöpft
worden. Dieses Experiment istgrundle-
gend gescheitert. Die Einwirkungsrechte
des Bundesauf diePolitik der Länder sind
heuteumfangreicher alsvorden Reformen
von2006 und 2009.

D

eren weitgehendes Scheitern
hat mehrereUrsachen. Die
funktionaleAufgabenteilung
des Grundgesetzes bietet
dem Bund den Anreiz, Bun-
desgesetze in seinem Interesse zu erlassen,
die die Länder ausführen und bezahlen.
Der Bundesrat, über den die Länder dieses
kontrollieren undgegebenenfallsverhin-
dernkönnten, erweistsich, wenn es um po-
puläre„Wohltaten“ des Bundes zu Lasten
der Länder geht, als zahnloser Tiger.
Wenn, wie bei den letztenKoalitionsver-
handlungen im Bund, die Ministerpräsi-
denten derRegierungsparteien in die bun-
despolitischen Entscheidungen eingebun-
den werden, wirdder Widerstand gegen
dieseForm der Fremdsteuerung der Lan-
despolitik nochschwieriger.
Ein weitere sProblem kommt hinzu: In
der Landespolitik besitzt dieAusführung
vonBundesgesetzenPrioritätvorder Um-
setzungvonLandespolitik.Eine Landesre-
gierung is tder Verfassungwegenverpflich-
tet, Bundesgesetze auszuführen und deren
Kosten unabhängigvonder eigenen Fi-
nanzlage zu tragen. Entscheidungsspielräu-
me bestehen hierbei nicht, diese gibt es
nur bei landespolitischdefiniertenAuf-
und Ausgaben.Steht eine Landesregie-
rung unter dem Druckenger Finanzen,
waseher dieRegelals dieAusnahmeist,
dann können Einsparungen nicht bei
durch Bundesgesetz bestimmtenAufgaben
vorgenommenwerden,sondernnur bei de-
nen, die durch die Landespolitik bestimmt

sind: Also bei Schulenund Hochschulen,
bei der innerenSicherheit, den Kommunal-
ausgaben undweiten Teilen der öffentli-
chen Infrastruktur.Finanzhilfen des Bun-
des haben einenähnlichen Effekt.Sie er-
fordernregelmäßig eineKofinanzierung
durch die Länder,andernfalls entfallen sie.
Das wiederum istein Anreiz für dieRes-
sortminister, möglichstFinanzhilfen des
Bundes zu akquirieren, denn die zurKofi-
nanzierung er forderlichenAusgaben sind
gegenüber anderenvorrangig.
Das finanzielle Ungleichg ewicht zwi-
schen Bundund Ländern, das hier deutlich
wird, istauchdarauf zurückzuführen, dass
die nachdem Grundgesetzvorgesehene
Steueraufteilung–Bund und Länder ha-
ben „gleichmäßig Anspruchauf Deckung
ihrer notwendigenAusgaben“–seit Jahr-
zehnten nicht mehr funktioniert. Die Auf-
teilungist weitgehend durch freihändiges
Aushandeln ersetztworden. Wichtiger ist
aber vielleicht noch, dassdie Haushalte
vonBund und Ländernsehr unterschied-
lichaufgebaut sind.
Landeshaushaltesind aufgrund von
rechtli chen undfaktischenVerpflichtun-
genhochg radig unflexibel. Die Lastenin-
folgedes AusführensvonBundesgesetzen,
die Kosten fürPersonal–Polizei und Schu-
le –und der Schuldendienst eines Landes
sind nur sehr langfristiggestaltbar.Mehr
als 90 Prozent der Einnahmen einesLan-
de ssindfix, so dassdie Landtagenur noch
über relativ überschaubareBeträ ge ent-
scheidenkönnen. Der Bundeshaushalt ist
demgegenüber in sehr viel geringerem
Maß gebunden undflexibler,insbesondere
weil die Personalausgaben ehergering
sind. Das erlaubtesdem Bund, deutlich
besserauf neue Herausforderungen zurea-
gieren und politische Akzentezusetzen.
DiesestrukturellenRahmenbedingun-
gendes Bundesstaates wurden durch die Fi-
nanzkrisevon2008 nochverstärkt. Ohne
sie wäre 2009 kaum die Schuldenbremse
in das Grundgesetz eingeführtworden.
Das Zusammenwirkenvon der in derFi-
nanzkrise enorm angestiegenen öffentli-

chen Verschuldung mit den darauffolgen-
den Konsolidierungszwängen, derPolitik
der „schwarzenNull“ und des Erwirtschaf-
tens vonHaushaltsüberschüssen hattezur
Folge, dassinsbesondereimRaum der Län-
der wesentlicheAufgabenvernachlässigt
worden sind. Die vielfachbeklagtemarode
öffentliche Infrastruktur,gravierenderLeh-
rermangel undStundenausfall an den Schu-
len, unterfinanzierteHochschulen, Proble-
me im Bereichder öf fentlichen Sicherheit
und des Gesundheitswesens sind Aus-
druc kdes Scheiterns der Entflechtungs-
strategien. Die Länder sind derVerantwor-
tung, die ihnen mit den Bundesstaatsrefor-
men von2006 und 2009 übertragenwor-
den ist, nichtgerechtgeworden.
Als Reaktion auf die in der Finanzkrise
2008rasantgestiegeneöffentlicheVerschul-
dungwar die Schuldenbremsevon
durchaus richtig. Unverständlic hbleibt
aber, warumdie Ländervonsichaus auf
Spielräumeverzichte ten. DemBund erlaubt
die Schuldenbremse eineVerschuldungvon
0,35Prozent des Bruttoinlandsprodukts –
derzeitrund zwölf Milliarden Euro–,den
Ländernnicht .Haushaltsüberschüsse, wie
wir sie derzeit bei Bund und Ländern ver-
zeichnen, schreibt das Grundgesetz nicht
vor. Sie sind eherAusdruc kvon zu hohen
Steuernund einerVernachlä ssigung öffent-
licherAufgaben. Es istunübersehbar,dass
sichdie Schuldenbremse zu einem Hemm-
schuh für öffentliche Investitionen und für
Steuersenkungen entwickelt hat.
DieLänder haben,wenn auchmit Unter-
schieden, die Gestaltungsmöglichkeiten
kaum genutzt, die sie insbesonderedurch
die Bundesstaatsreformvon 2006 bekom-
men haben. An einem MangelanGeld
kann es kaum gelegen haben, denn für den
Zeitraum bis Ende 2019erhielten die Län-
der vomBund dieselbenBeträge als Über-
gangsmittel, die sie ohneReform als Fi-
nanzhilfen des Bundes in demselbenZeit-
raum auchbekommen hätten.Wegender
Defizitebei der eigenständigenWahrneh-
mungvonAufgaben wurden in den Jahren
2017 und 2018Formen derkooperativen

Wahrnehmung durch Bund und Länder
wieder eingeführt.
Fürdie weiter eEntwicklung der bun-
desstaatlichen Ordnung scheinen derzeit
zwei Vorhaben die Richtung anzuzeigen:
zum einen der Bericht „Unser Plan für
Deutschland–GleichwertigeLebensver-
hältnisse überall“, dervonBund-Länder-
Arbeitsgruppen unterFederführung der
drei Bundesministerien für Inneres, Land-
wirtschaftund Familie erarbeitet und im
Juli 2019vorgelegt wurde, zum anderen
die Ministerpräsidentenkonferenz vom


  1. bis 25. Oktober 2019.
    Der Bericht „Gleichwertigkeit der Le-
    bensverhältnisse“ singt das Hoheliedder
    KooperationvonBund und Ländernund
    sieht darin den Schlüssel für die Bewälti-
    gung der Zukunftsaufgaben.Der Bund
    agiertals Mo torund Geldgeber für die Län-
    der,die sic hweitgehend mit derRolledes
    ausführenden Partners zufriedengeben.
    Andersdemgegenüber die Ministerpräsi-
    denten der drei größten Länder,Nord-
    rhein-Westfalen,Bayern und Baden-Würt-
    temberg, auf der Ministerpräsidentenkon-
    ferenz im letzten Herbst. Offenbar weil
    mehr Autonomie der Länder derzeitkaum
    verhandlungsfähig ist, plädierten sie für ei-
    nen Bundesstaat der „verschiedenen Ge-
    schwindigkeiten“.Sie möchten, dassein-
    zelne LänderZuständigkeitenvomBund
    übernehmenkönnen undvermehrtvon
    dessen Regelungen abweichen dürfen.
    Grundsätzlich würde zwar Bundesrecht
    gelten, aber die Länder hätten die Möglich-
    keit, es in bestimmten Bereichen durch
    Landesrecht zu ersetzen.


D

ie dreigenannten Minister-
präsidenten konnten ihre
dreizehn anderenKollegin-
nen undKollegen zwar nicht
überzeugen. Aber in der
Staatspraxisfinden solche unterschiedli-
chen Verfahren längststattoder sind mög-
lich.Die Grunderwerbsteuersätzevariie-
renunter den Ländern.Fürdie Autobahn-
und Fernstraßenverwaltung, die der Bund
mit derVerfassungsreformvon 2017 über-
nommen hat,kann der Bund zukünftig
mit den LändernindividuelleVereinba-
rungen treffenund dieVerwaltung rück-
verlagern. Bei derreformiertenGrund-
steuer können die Länder die Bundesge-
setzgebung übernehmen, aber aucheige-
ne Modelle entwickeln. Weiter edifferen-
zierte Lösungen sind denkbar,beispiels-
weise könnten kleinereLänder bereit
sein, ihreSteuerverwaltung dem Bund zu
übertragen, die er schon langegernüber-
nehmen würde. Denjenigen Ländern, die
das ablehnen, würde eine solchdifferen-
zierte Lösung nicht schaden.
Möglicherweisedeutet sichhierein neu-
es, innovativesVerhältnis zwischen Bund
undLändernan. Dem BundwirddasRecht
zuges tanden,gesamts taatlichbedeutende
Aufgaben auchder Landespolitik,wie An-
spruc hauf einenKita-Platz, schulische
Ganztagsbetreuung, sozialerWohnungs-
bau und Entwicklung derregionalen und
lokalenöffentlichen Infrastrukt ur,zuunter-
stützenund zufördern, weil zumindestein
Teil der Länder trotzFinanzausgleichaus fi-
nanziellenoderhaushaltsstrukturellen
Gründen damit überfordertist.Tatsächlich
waren trotzaller Kritik an Bund-Länder-
Kooperationen–„Goldener Zügel“, ineffi-
zienter Mitteleinsatz und soweiter –die Er-
gebnissekooperativerPolitik in derRegel
gut.Entfle chtungen hingegenführten eher
zur Vernachlässigung öffentlicherAufga-
ben.
Der Bund würde am Ende an Einfluss
gewinnen.Aber das ließe sichausgleichen,
wenn man dieVorstellungen der drei Mi-
nisterpräsidenten einbezieht. Ihr Vor-
schlag implizierteinenWechselvombishe-
rigensymmetrischen Föderalismus, in
dem die Länder unabhängigvonihrer Grö-
ße und ihrenFähigkeiten dieselbenAufga-
ben wahrzunehmen haben, hin zu einem
asymmetrischenFöderalismus, in dem die
Aufgaben der Länder unterschiedlichsein
können.Essind wenigeArgumente er-
kennbar,warum Nordrhein -Westf alen,
Bayern und Baden-Württembergnicht
mehr Aufgaben bewältigenkönnen sollten
als Bremen, das Saarland oder Mecklen-
burg- Vorpommern.
In de nMöglichkeiten zu landesspezi-
fischabweichendenRegelungen undVer-
fahren der Länder,mit denenAbschiedge-
nommenwürde vonden bisherig nahezu
gleichen Verwaltungsverfahren,liegt die
Chance, jeweils andere, abergleichwertige
Lösungenzufinden.Ein Föderalismus der
verschiedenen Geschwindigkeiten, wie
ihn diestarkenLänderwollen,könnteden
Bundessta at an Flexibilität und damitan
Effizienzgewinnen lassen.Esließesich
der Kritik an denkooperativenVerfahren,
wie Steuerung der Landespolitik durch
den Bund, ineffektiveMittel verwendung,
Unterlaufen derZuständigkeiten der Lan-
desparlamente und Verlustandemokrati-
scher Legitimation, begegnen,wenn den
Ländernmehr Gestaltungsspielräume bei
der Zusammenarbeit mit dem Bund blie-
ben.
Die Landtagekönnten an Entschei-
dungskompetenz gewinnen,wenn dieko-
operativen Bund-Länder-Beziehungen
mehr Raum für einelandespolitische Ge-
staltung ließen. Die demokratischeLegiti-
mität würdegesteigert, dieFragenachder
Zuständigkeit der Ebenenwäre wieder
vonInteresse. Es gibtkeine überzeugen-
den Gründe dafür,warum beigleichen Zie-
lendie Wege identisch sein müssen.Dass
daraus ein für die schwächeren Länder not-
wendigerweise nachteiliger Wettbewerb
entstehen könnte, istprima facie nicht zu
erkennen.Auch Erfahrungen aus anderen
asymmetrischverfasstenBundesstaaten
wie Kanadasprechen dagegen.


Der Verfasser is temeritierterProfessor für
Politikwissenschaftder Universität Magdeburg.

Konrad Klapheck, Der Traum vomFliegen, 1988
©VGBild-Kunst, Bonn 2020

Es erscheint paradox: DieRationalität des deutschen


Bundesstaates liegt nicht darin,regionaleVielfalt


und Unterschiedlichkeit zu bewahren. DieMaxime lautet


vielmehr, gleichwertigeLebensverhältnisse zu schaffen.


Das aberkann nicht das letzteWortsein.


VonProfessor Dr.WolfgangRenzsch


Deutschland,

einig Bundesstaat?
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