Frankfurter Allgemeine Zeitung - 09.03.2020

(singke) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton MONTAG,9.MÄRZ 2020·NR.58·SEITE 9


W


enn nicht alles täuscht,
musskaum eineTierklas-
se imtägl ichen Sprachge-
brauc hsomassivFedernlassen wie
die derVögel. Schließlichexistier tfür
viele Mäkeleien auch eineavifaunisti-
sche Variante, die ihreInfamie in ei-
nem Putzigkeitskokonversteckt:hier
der Trinker ,dortdie Schnapsdrossel,
hier der Hygienemuffel, dortder
Schmutzfink,hier der intellektuelle
Tiefflieger ,dortdas Spatzenhirn.Für
Letzteres hat das Deutsche sogar eine
auf Frauen zugeschnitteneAusgabe
in petto–dumme Gans. Ähnliche
Verhältnisse im Englischen: Etwas
Unattraktives ist„forthe birds“, ein
gripsloserZeitgenosse wirdals „bird
brain“ bezeichnet. Diese Schmähung
taucht evor rund hundertJahren zum
ersten Mal auf,weil manVögelfür
Automaten hielt, bei denen eswohl
piept, aber niemalsgeistesblitzt.Heu-
te wissen wir,dassElstern sichselbst
im Spiegel erkennen,Neukaledoni-
sche KrähenWerkzeugeherstellen,
Alexder Klügste vonallen war. Der
Graupapagei wurdevonder Verhal-
tensforscherin IrenePepperbergtrai-
niertund konnteWünsche äußern
und sichmit Hilfevon zweihundert
Wörternartikulieren.Nunlegen sei-
ne neuseeländischen Verwandten
nach: EinerStudie derUniversität
Auckland zufolgesind Keas in der
Lage, Wahrscheinlichkeiten abzu-
schätzen. Bislangwarensie vorallem
dafür bekannt, das Hand-,Pard on:
Schnabelwerkder Kfz-Demontagean
den Fensterdichtungen vonGroß-
und Kleinwagenzuperfektionieren.
Die an der aktuellenVersuchsreihe
beteiligtenForscher verpassten fünf
der grünen Papageien boygrouptaug-
liche Pseudonyme (Bruce, Loki,Neo,
Plankton, Taz) und nannten den
sechs tenfieserweise Blofeld. Ganz
abwegig is tdas allerdings nicht, im-
merhin handelt es sichbei seinem
Vorbild um den Lieblingsendgegner
vonJames Bond, der wiederum nach
einem Ornithologen benamst wurde.
Jedenfalls haben dieWissenschaftler
die Keas darauf trainiert, dieFarbe
Schwarzmit einer Belohnung, die
Farbe Orangehingegen mit demAus-
bleiben derselbenzuassoziieren. An-
schließend füllten sie zwei durchsich-
tigeBehälter mit sowohl schwarzen
als auchorangefarbenen Holzteil-
chen, welche sie denVögeln in einem
dritten Schritt anboten–und zwar in
der geschlossenenFaust. Das Ergeb-
nis: DieKeas be vorzugten Gaben aus
jenem Gefäß, in dem sichmehr
schwarzeTeile befanden, und nah-
men sie am liebstenvon einemWis-
senschaftler entgegen, der insgesamt
besonderswenig orangefarbenen In-
halt zutageförder te.Setzten dieFor-
scher eine horizontaleTrennwand
ins Glas,kontrolliertendie Papagei-
en, welche Teile oben undwelche un-
tenlagen. Danachzeigten sie eine
Präferenz für das Behältnis, in dem
mehr schwarze Holzstifte zu er rei-
chen waren. DieFähigkeit,statisti-
sche Rüc kschlüsse zu ziehen,hat
man bislang nur Menschen und eini-
genAffen zugetraut.DassKeas, die
wegenihres Sinnsfür Unsinn übri-
gens als Spaßvögel bezeichnetwer-
den, jetzt zu uns aufschließen, bringt
die Rede vom„birdbrain“ weiter in
Verruf. Gut so, hoffentlichpfeifen es
die Spatzen baldvonden Dächern.

BirdBrain?


VonKaiSpanke

E


sdürfteselten sein, dass bei einer
Buchpremieredas Werk selbst im
Hintergrund steht.Sogeschehen
amSamstaga bendinDresden,wo UweTell-
kamp einehalbeStundeaus seinem neuen
Band„Das Atelier“las, dann aber viel
mehrZeit daraufverwandte, abermals die
Verhältnisse in diesemLand zu kritisieren.
ZurPremieregeladen hatteSusanne Da-
gen, Inhaberin des Buchhauses Loschwitz
am Fuße des DresdnerElbhangs, dasetwa
anderStelle liegt, anderTellkampspreisge-
krönterRoman „DerTurm“ beginnt. Mehr
als zehn Jahre is tdas her,inzwischen hat
sichDagen sLaden voneiner Pilgerstätte
des Kulturbürgertumszueiner Kampfzone
entwickelt:Von de neinen wirdsie als eine
Art Jeann ed’Arcder Meinungsfreiheit be-
jubelt,vonanderen alsPropagandistin der
„NeuenRechte n“ bezeichnet.
Dagengeht damit inzwischenäußerst of-
fensivum.„NatürlichbinichkeinOpfer“,
sagte sie am Samstag. „Ichbin Täter, und
darau fbestehe ich.“ Denndie P remier ewar
einedoppelte:Neu warauchdie Bu chre ihe
namens „Exil“,die Dagen in ihrer „Edition
Buchhaus Loschwitz“ herausgibt.Neben
Tellkam pveröf fentlichen hierJörg Bernig
und MonikaMaron als Erste jeweilsgut
hundertSeiten starke Bände. Ihr seivöllig
klar, dassschondas Wort „Exil“ in diesem
Zusammenhang eine Provokation bedeute,
sagte Dagen.Vonihr wi sseman, dasssie
auchmal „geschichtsvergessen“ mit Begrif-
fenumgehe,„um sie wiederinGebrauchzu
bringen“.VordreiJahrenhattesie die Petiti-
on „Charta 2017“ initiiert, in der siedem
Börsenverein des Deutschen Buchhandels
einen „Gesinnungskorridor“vorwarfund
voreiner „Gesinnungsdiktatur“ warnte.
Mankanndasaberauchsehrgut alsscham-
loseVereinnahmungderBürgerrechtsbewe-
gung„Char ta 77“ verstehen,inder Men-
sche ninderTschechoslowakeizumTeilun-
terEinsatz ihres Lebensgegendie kommu-
nistische Diktatur protestier thatten.
Nunalso „Exil“,wobei „Exilliteratur“ für
Werkevon Autorensteht, die aus ihrer Hei-
matfliehen müssen,weil ihr eBücher verbo-
tensind und ihr Lebenbedroh tist.Das wis-
se sie alles, sagt Dagen, aber darumgehe es
ihr nicht. „Exil istfür un swas anderes:
nicht flüchten zu müssen, sonderneine ei-
gene Welt zu pflegengegenalle Widerstän-
de, und die sindexistentiell.“ Dagen, die
heute für die „Freien Wähler“ imDresdner
Stadtrat sitzt, sagt,sie habe im Laufeder
Auseinandersetzungen vielUmsatz verlo-
ren, weil sie als „Pegida- undAfD-nah“ gilt.
IhreFan-Gemeinde istumso treuer, die je-
weils rund hundertKarten fürTellkamps


Premiere und zweiFolgeveran staltungen
warenbinnen 48Stundenverkauft.Ideolo-
gisc hgesehen, bliebman unter sich.
UweTellkamp, Erstunterzeichner der
„Charta 2017“, istder Name „Exil“ für die
Buchre ihe nichtgeheuer. „Ich finde ihn
nach wievor zu hoch“, sag te er am Sams-
tag;Exil sei„ein sehrbesetzt er Be griff“ und
nun mal mit Emigrationverbunden. Die
Methoden heute seien subtiler als in Dikta-
turen. Womit Tellkampbei seinemThema
war. Das Spitzelwesen sei heutenicht mehr
die „Kladde derStasi“, erklärte er demge-
bannt lauschenden Publikum, sondern„die
sogenann te Zivilgesellschaft,die so wasfrei-
willig tut“.Wersichfür Be griffe wie Nati-
on, Heimat undTrumpverwende oder kri-
tischzur Mi gration äußere, werdeverleum-
det. Journalisten, vorallem die der Öffent-
lich-Rechtlichen, machten Prop aganda,
undwer sic hdiesem„Gesinnungskorridor“
nicht füge, sei erledigt. „Da setzt eineVer-
nichtungsenergie ein,diemitdemverg leich-
barist,was wirkennen“, sagteTellkamp al-
len Ernstesunter großem Beifall.
Meinungsfreiheitgebe es zwar,sagteTell-
kamp undverstieg sichgar zu der Aussage:
„Aber die Meinungsäußerungsfreihei tund
die Meinungsakzeptanzseheich in diesem
Land in einemMaße bedroht,die michan
1989erinnert.“Erkriegekein egroßen Säle
mehr ,wobeiersichauf eine abgesagteLe-
sung im Lingnerschloss in Dresdenbezog.
DerBetreiber dort hatallerdings klarge-
stellt, dassTellkam pwillkommensei und
die Absageeiner Veranstaltungmit der
„neurechten“Zeitschrift„Tumult“galt.Tell-
kamp aber ,der bei Suhrkamp baldseinen
„Turm“-Nachfolgeromanveröf fentlicht,
sagteallen Ernstes:„DieRealitäten in die-
semLandwerde nimmerschlimmer.“
Um das zu illustrieren,grifferzuMit-
teln,die ihn in ihrer Schlichtheitselbst ent-
larven: Er stell te vorder L esun gein
T-Shirtmit de mLogo der aufgehenden
Sonne, aufdem di eBuchs taben F DJ durch
CDU ersetzt waren, au fdie Bühne,fiel da-
vorauf dieKnieund flehte:„LieberKriti-
ker, bitte ,ich will in der Mitte derZivilge-
sellschaft sein undesganzbestimmt nicht
wieder tun!“ Danachstand erauf under-
klärtemit Bli ck aufdas veränderte Logo:
„Vorwärtsund ni chtvergessen /Womit du
uns lange gequält/InThüringen warstdu
vermesse n/UndhastSED gewählt.“ Tell-
kamp:„Ichklage nicht, ichbin wü tend!“
Achja, und dannwardan och dasBuch:
Tellkam pschreibt über bildendeKünstler
in Sa chsen,inFormeines langenGe-
sprächsetwamit NeoRauch,der hie rMar-
tinRaheheißt, und die meistraunend läs-
tern überKunstbetriebund K ritiker („Ge-
fällig keitsschnitzer“, „Harmonie-Harfner“
„Bes chränkt-Pflaume“) sowie dieheutigen
Verhältnisse. „DasRömischeReich“, so
lässt er einen seiner Protagoni sten sagen,
„ist an der Dekadenz zugrundegegangen,
so is tesauchheute,auchwir werden so zu-
grunde gehen.“
Das seienTexte, sagtSusanneDagen am
Ende desAbends, „in deren Exil ichmich
sehr wohl fühle“. STEFANLOCKE
Der AnfangvonHilaryMantels meister-
licherTrilogie über den Tudor-Staats-
mann Thomas Cromwell bar gbereits das
Ende in sich–nicht nur,weil die Hand-
lung vonder Geschichte vorgegeben
war. In dem Augenblick, in dem sie zu
schreiben begann, wussteHilaryMantel,
dassihreVersionvonCromwells Auf-
stieg und Niedergang enden würde, wie
sie begonnen hatte: mit dem Anblicksei-
nes eigenen Blutes und dem Befehl des
trunkenen Vaters an den beinahe zu
Tode geprügelten Sohn: „Und jetztsteh
auf.“ Diese Wortebegleiten Thomas
Crom well sein Leben lang. Es ist, wie Hi-
laryMantel dem Publikum in der Londo-
ner RoyalFestival Hall amTagnachder
Veröffentlichungvon„The Mirror&the
Light“, („Spiegel und Licht“), dem
Schlussband der in Deutschland am 20.
MärzerscheinendenTrilogie, erläutert,
seine innereStimme, die ihn ermahnt,
sichnicht geschlagen zugeben. DieWor-
te sind Lesernderar tvertraut, dassder
Verlag sie mit einerTudor-Rosevorei-
nem Jahrkommentarlos an eineriesige
Plakatwand in LeicesterSquareanbrin-
genließ wie eingeheimesKennwort.Ein-
geweihteentschlüsselten die Botschaft
ohne Mühe. Eswardas Signal, dassdas
Erscheinen des lang ersehnten dritten
Bandes herannahe. Er istmit neunhun-
dertSeiten so lang wie die beidenvorher-
gegangenen Bücher zusammen.
„Und jetztste hauf“ klingt in Crom-
wells Ohren, als er in „Spiegel und Licht“
vierzig Jahrenachder Prügelszene den
Kopf auf den Blocklegt und spürt, wie
die Axt seinenNacken durchtrennt.Als
Kopf undKörper schon entzweit sind,
versucht er nochein letztes Mal, demVa-
terzug ehorchen. Der Leser begleitet ihn
in denTodhinein, so wie er über drei
Bändevoninsgesamt mehr als zweitau-
send Seiten hinwegfastjeden Atem- und
Gedankensplitter mit ihmgeteilt hat.Hi-
laryMantel hat diesesFinale vorfünf-
zehn Jahren entworfen, als sie noch
nicht wusste, das ssie drei Bücher füllen
würde mit dem Leben dieserschillern-
den Figur,die sic hlangedem Zugriffvon
Biographen entzogen hat.Der er ste
Band,„Wölfe“,kamimJahr 2009 zum


  1. Jahrestag der Thronbesteigung
    Heinrichs VIII. heraus.
    Acht Jahresindvergangen seit derVer-
    öffentlichung des zweiten Bandes, „Fal-
    ken“. In der Zwischenzeit ging das Ge-
    rücht um, HilaryMantel leide an einer
    Schreibblockade. Eine Falschmeldung.
    Sie sagt, sie sei vielmehr „eineFabrik in
    ständiger Produktion“gewesen undver-
    weistauf das mit Cromwells wachsender
    Macht anschwellende Material. In den


letzten vier Jahren zwischen der Hinrich-
tung Anne Boleyns im Mai 1536 bis zu
Thomas Cromwells Enthauptung im Juli
1540, die im dritten Band abgedecktwer-
den, macht der Master Sekretär „allesin
England“, wie Jane Seymour,die dritte
Ehefrau desKönigs ihrer Schwesterer-
klärt. „Ichhabe es nichtverstanden, bis
es mir einer der Botschaftererklärthat.
Er wunderte sich, dassein einzelner
Mann so vielePosten und Titel haben
kann. Dasgabesnochnie. LordCrom-
well is tRegierung und Kircheine inem.“
HilaryMantel beruftsichauf de nThat-
cher-Biographen Charles Moore, der
schrieb, die Geschichte des „politischen
Mords“ an der Premierministerinverlan-
ge ein Poirot-artiges Interesse an Moti-
venund Beweisen, das ihn zwinge, das
DramaStun de fürStunde zu erzählen.
Mit Cromwell sei es ähnlichgewesen.
Seit HilaryMantel das Projekt 2005 in
Angriff nahm, istauchdie Digitalisie-
rung fortgeschritten. Durch das Internet
habe sie Zugang zu einer unermess-
lichen Materialfülle bekommen. Siege-
steht, dassdie große Masse derForschun-
genesnicht einmal in dieNähe des Bu-
ches geschaf ft habe.
In diesen fünfzehn Jahren hat sichfür
sie nochviel mehrgeändert. Am Anfang
warsie einevonRezensentengeschätzte
Autorinohne große Leserschaft. Deswe-
genhat sie die schon seit Jahrzehnten in
ihr gärende Idee, Thomas Cromwell ans
Licht des allgemeinen Bewusstseins zu
führen, auf die langeBank geschoben.
Sie wollteersteinmalversuchen, sich
mit anderen Themen als Schriftstellerin
zu behaupten. Inzwischen istsie zu ei-
nem kulturellen Phänomengeworden.
IhreBücherverkaufen sichmillionen-
fach.„Wölfe“ und „Falken“ sindvom
Fernsehenverfilmt und für dieBühne be-
arbeitet worden. DieVorbestellungen für
„The Mirror&the Light“ übertreffendie
Zahl für MargaretAtwoods „DieZeugin-
nen“. AmVorabend des Erscheinungs-
tags wurde derUmschlag auf den Londo-
nerTowerprojiziert, in dem dasBuchbe-
ginnt und endet. ZweihundertMenschen
haben das Privileg, ein signiertesExem-
plar wenigeStundenvordem allgemei-
nen Verkauf zu ergattern, mit einem hef-
tigenAufschlag und mehrereStunden
Wartezeit zwischen den Regalen der
Flaggschiff-Filiale der Buchladenkette
Waterstone’sinPiccadillybezahlt.Im
Hintergrund spieltein Paar Flöte und
LautenachNoten der Cromwell-Zeit.
Die Autorin sitztgeduldig an einem
Tischund begutachtetwährend deskur-
zen, animiertenAustausches jeden, der
ihr denWälzer zurUnterschiftvorlegt,

mit demselbenFalkenblick,dem sichdie
ebenso präzisen wie sinnlichenNuancen
ihrer stofflichen Beschreibungenverdan-
ken. In ihrerWidmung winden sichdie
Buchstaben ingroßem Schwung um die
kleineren. Die Schriftverströmt Selbstbe-
wusstsein und Kreativität.Sie wirkt dezi-
diertund kunstvoll ausgeklügelt, wie
Mantels Bücher.
HilaryMantel istdie er steFrau und
die er steBritin, die den begehrten Boo-
ker-Preis zweimalgewonnen hat, noch
dazu für zwei aufeinanderfolgende Titel.
Jetzt istdie große Frage, ob ihr mit „Spie-
gelundLicht“ der ersteHattric kder Boo-
ker-Geschichtegelingt.Die Kritiken sind
weitgehend hymnisch. HilaryMantel
habe den historischenRoman neu defi-
niert, schwärmteder „Observer“. Im„Te-
legraph“stand, dieTrilogie sei ein Epos,
das für England sei,wasdie „Aeneis“
vonVergil für dieRömer undTolstois
„Krieg undFrieden“ für dieRussen dar-
stellten.
In einem amWochenendegesendeten
Porträt der BBC erzähltesie, dassesihr
mehr bedeute, den Durchbruc hals eine
aus derArbeit erklassekommendenAuto-
ringeschafft zu haben, denn alsFrau. In
dem Film geht sie auf den Spuren ihrer
Vergangenheit.Sie besucht das kleine
Reihenhaus in den EastMidlands, in
dem ihreals Textilarbeiterin beschäftig-
te Großmutter, einesvonzehn Kindern
irischer Einwanderer,inArmut lebtemit
Tochter und Enkeln. Die irischenVer-
wandten hattenkein Geld, aber dieWor-
te gingen ihnen nie aus, und dieFähig-
keit, einen Erzählfaden zu knüpfen, auch
nicht. Dieseverbale Beweglichkeit sei
ihr eingeprägtworden. In derverhassten
Klosterschule, in der sie einsteinen Auf-
satz über Thomas Cromwell schreiben
musste, spürtsie, wie dasUnglückdurch
die Wände sickert.Sickern istein Lieb-
lingsbegriff.Ini hrer Cromwell-Trilogie
geht es ständig um die allmähliche Ein-
wirkung der Geschichte auf die Gegen-
wart.Selbstwenn er in Schlaf fällt, tapst
die Vergangenheit hinter dem Staats-
mann her,„Pfoten aufStei nfliesen, tipp-
tapp“.Was für ihn gilt,gilt auchfür die
Nation, deren neue Identität er mitgestal-
tet. In Geschichtsbüchernwerde dieZeit
in Kapitel eingeteilt, bemängelt Hilary
Mantel. DerKopf vonAnne Boleynrollt
und im nächstenKapitel spricht schon
niemandmehrvon ihr .Imwirklichen Le-
ben läuftesanders. DieVergangenheit
vergeht nicht.Parallelen mit dem Brexit
lehnt HilaryMantel ab. In derRoyalFes-
tival Hall wirdherzhaftapplaudiert, als
sie erklärt, es sei Cromwell um eineRe-
konfiguration Europasgegangen, nicht
um einenRückzug vomKontinent.

Immerschlimmer


Die für den 7. April angekündigte Au-
tobiographieWoody Allens istvon
der Hachette Book Group aus dem
Prog ramm genommenworden. Voran-
gegangen warenProtest einden New
Yorker und Bostoner Büros derVer-
lagsgruppe sowie aus derFamilie Al-
lens. DieProtestegegen dieVeröffent-
lichung derAutobiographie bezogen
sichauf die Missbrauchsvorwürfe,wel-
cheseine Adoptivtochter DylanFar-
rowseit JahrengegenAllen erhebt,
ohne dassihreBehauptung, er habe
sichinihrer Kindheitan ihr vergan-
gen, jevorGerichtgekommenwar
(F.A.Z.vom7.März). Die Entschei-
dung,vonAllens BuchAbstand zu
nehmen, sei „schwierig“gewesen, er-
klärte Hachette Book Group aufTwit-
ter. Allen, der dieVorwürfe abstreitet,
wirdvon Dylans BruderRonan für
schuldiggehalten,während ihr Bru-
der Moses denVaterunter stützt.Auf
Deutschwerde das Buchunterdem Ti-
tel„Ganz nebenbei“ derweil wiege-
plant am 7. April erscheinen,teilte
der Rowohlt-Verlag mit. dpa/F.A.Z.

Pfoten auf Steinfliesen, tipp-tapp


HilaryMantel schließt ihreTudor-Trilogie ab / VonGina Thomas,London


HilaryMantelgewann zweimal den Booker-Preis. Mit „Spiegel und Licht“ könnteesihr ein drittes Malgelingen. FotoEllie Smith/Laif

Falls er je einWappen benötigte, sagte der
SchriftstellerChris toph Ransmayrandie-
semSamstaginFrankfurt,dannwürde er
einenBaumaus rote mSands tein wählen.
So einen, wieihn der indische Großmogul
Akbar in derStadtFatehpurinseinem „Pa-
las tder Gespräche“habe e rricht en lassen,
um,auf einemweiche nLager in der Krone
liegend, allemöglichenAnsichtenvon Ge-
lehrten, Philosophen, DichternoderReligi-
onsstiftern anzuhören.
Ransmayr selbsthabedie Stadtbald
nach demTod IndiraGandhis1984be-
sucht, sag te er,und währen derdavoner-
zählte,waresnicht schwer,Fatehpur fürei-
nenMomentmit seinenAugenzusehen,
ohne sichaber dabei in östlicher Folklore
zuverlieren. Denndie Essenz dieser Episo-
de wareinSatz, mitdemRansmayrdie Hal-
tung desGroßmoguls charakterisierte und
derseinem Vortragauchals Untertitel
diente:„Jede mzuhören,keinemglauben.“
RansmayrwarnachFrankfurt gekom-
men, um die 1959 begründetePoetik-Do-
zentur derGoethe-Universi tätzubeklei-
den. Anders alsdie Autorender vergange-
nenJahre begnügteersichmit einereinzi-
gen, neunzigminütigenVorlesung unter
dem Titel„Unterwegs nachBabylon“ –
eine Lesungfolgtamheuti genMontagim
Literaturhaus.Und zu rEntscheidun g, die
Vorlesung trotzCorona-Warnungen durch-
zuführen, schlugRansmayr,der an diehu-
manitäre nKatastrophen erinnerte,die
stattfänden ,während Europa „Fieber
misst“,ironisch vor, die Europafahneum
deneingestickten Schriftzugzu ergänzen:
„Mankann sichgar ni chtgenug fürchten.“
Daswar einer derSätze, dieman selbst
dann nochinErinnerung behalten hätte,
wenn manRansmayrsBitte gefolgtwäre,
den Vortragwederaufzuzeichnen noch
sich irgendwelch eNotizenzumachen,da-
mitdie Veranstaltungeinmaligund unwie-
derholbarsei und eben daswenigeErinner-
te umsofester im Gedächtnis bliebe.Zum
Glüc kist eine Reihevon Ransmayrspoeto-
logis chen Arbeiten inzwischen in einer
nunmehrzehnbändigenBuchreihebei S.
Fische rerschienen ,Reden ,Theaterstücke,
Bildbeschreibun gen, Essays,und wasdain
einemVierteljahrhundertunter deminoffi-
ziellenTitel„Spielformen desErzählens“
gewachsenist,kannman du rchausRans-


mayr sliterarischenWerk an di eSeite stel-
len, Romanenwie „DieletzteWelt“oder
„Der fliegendeBerg“.
Unddas schon deshalb,weil Ransmayr
inihnen seitlangemFragenverhandelt,
dieauchimFrankfur terVortrag eineRolle
spiel ten, allenvorandie nachUrsprung
undAusgang des Erzählensund die nach
derRolle desIndividuumsals Subjekt wie
Objekt in der Literatur. DenAnfan gmach-
te Ransmayr ,indem er denProzess und
denTod de sSokra tesmit Blickauf einen
seiner drei Ankläger neu erzählte,den „ta-
lentarmen und entsprechenderfolglosen“
Tragödiendichter Meletos, de rsichvon So-
krates’Verteidigungsredebesondersprovo-
zier tgefühlt hätte, mitden Worten:„Das
Dümmste, wasman über irgendein dichte-
rischesWerk sagenkonnte,kamstets von
seinem Dichter.“
Allerdingskönnenauchander edamit-
halten,glaubt manRansmayr,und so beka-
menandiesemAbendauchLiteraturwis-
sens chaftle r, Kritiker und das Internet die
Levi tengelesen.Der Autorerwiessichals
groß in Liebe undZorn ,zugleic haberals
überaus elegantinden dafüreingesetzten
sprachliche nMitteln, und wie er dieden
Sokrates diffamierenden, Gewaltphanta-
sien gegenIntellektuelle thematisierenden
„Wolken “des Ar istophanes beiläufigmit
deruns geläufigen„Cloud“kurzs chloss,
das hatteschon was.
Vorallem aberwandt esichRansmayr
gegendie Vorstellun gdes „missionari-
sche nDichters“, derzum Berater vonPoli-
tikern avanciereodergar zu mGewissen
der Nation. Dassese twaeinen Zusammen-
hanggebe zwischen demmoralischen Han-
deln vonNationenund dem Blühen der
Künste im je weiligen Landwollte er mit
Blick aufdie Vereinig tenStaaten –„auf
demGebietder Erzählkunsttatsächlich
eine Großmacht“–nichtgelten lassen.
Ihm geht es um denEinzelnen, denmündi-
genLeser,der sic hkeinenKanon vorschrei-
benlässt undsichwie Sokrates auf denei-
genen„Daimonion“statt aufdieStaatsgott-
heitenverlässt.
Vonder Überzeugung, dassein solcher
Ansatznichtindie Iso lation führt, sondern
im Gegenteil den empathischen Blickfür
denanderen nurschärft,war dieVorle-
sung durchzogen. TILMAN SPRECKELSEN

WeiteWelt


Chris toph RansmayrsFrankfurterPoetikvorlesung


In seiner Dresdner


Buchpremiereerklärt


UweTellkampdie


Zivilgesellschaftzum


Erben derStasi.


Gekippt


Woody Allens Buch

Free download pdf