Frankfurter Allgemeine Zeitung - 13.03.2020

(avery) #1
FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton FREITAG,13. MÄRZ 2020·NR.62·SEITE 9

W

ie gern hätteerzuden Zei-
tender altenWikingerge-
lebt!Wiesie auf schwan-
kendemKahn dasweitewilde Meer
durchfuhren, so trotzte Louis Hardin
mit gehörntem Helm, wallendem
Bart, Speer undUmhang den Elemen-
teninden Straßenschluchten von
NewYork. ZurOrientierung hatteer
nochnicht einmal die Sonne und die
Sterne, denn mit sechzehnJahren hat-
te er dasAugenlichtverloren. Sein
Künstlername wies ihn als heulen-
den Trabanten des Erdtrabanten aus.
„Moondog“:UnterdieserÜberschrift
erschien hier am 12.November 1969
eine GlossevonSabina Lietzmann.
Seit einemVierteljahrhundertstand
Moondog damals schon an der Ecke
vonSixthAvenue und 54.Straße.
UndmachteMusik,wenn er nicht be-
brillten Naturhistorikern den Weg
zum American Museum ofNatural
History erklärte.Als Sabina Lietz-
mann ihnvorstellte, hatteihn gerade
einegroße Plattenfirma unterVer-
traggenommen.UnsereKorrespon-
dentin sagtevoraus: „Überkurz oder
lang wirdauchMoondog aus dem
Straßenbildverschwinden wie so vie-
le andereWahrzeichen dieserwandel-
barenStadt.“ Sokames. Der Comic-
zeichner Simon Schwartz hat die Ge-
schichteauf einem Blatt seiner Serie
„Vitaobscura“ erzählt. EinesTages
warMoondogverschwunden–und
1974 tauchte er in derFußgängerzo-
ne vonRecklinghausen wieder auf.
Er gabKonzerte in Frankfurt,Hanno-
verund Münster, wo er 1999starb
und begraben ist. In derKunsthalle
im Hafenviertelvon Münsterhaben
Tobias Euler,Thies Mynther undVeit
Sprenger jetzt eine „Moon Machine“
installiert, einverdrahtetesEnsem-
ble ausTröten, Trommeln,Triangeln
und anderen Weltmusikinstrumen-
ten. DasKein-Mann-Orchesterspielt
Tafelmusik fürWalhall,vonGeister-
hand dirigiertoder vomWechsel der
Mondphasen. InVitrinen liegenZei-
tungsartikel, die Moondogs deutsche
Jahredokumentieren. Als Nikolaus
sollen ihn aufgeweckt eKinder in
mehrerenStädten apostrophiertha-
ben.Aber dasweißbärtigeWesen soll-
te nicht derWeihnachtsmann sein,
ganz im Gegenteil: Demchristlichen
Glauben hatteMoondog nachseiner
Erblindung abgeschworen. Er be-
zeichnete Deutschland als seine spiri-
tuelle Heimat, interessierte sichaber
nacheigenem Bekunden nur für das,
„was vorden Christenhier in
Deutschlandpassiertist“. Eineseltsa-
me Stille umgibt inAusstellung und
Begleitpublikation die politische Di-
mensionvonMoondogs Interesse am
Germanentum, obwohl sie so deut-
lichund simpel istwie die auf dem
Kanon, derWiederholung, beruhen-
de Machartseiner Musik.Die
„Rhein-Neckar-Zeitung“ berichtete
1974: „Ethnische Wertesind für
MoondogvonBedeutung.Unddes-
halb sollte jedeethnische Gruppe be-
wahrtwerden, denn ‚Menschen ohne
Ethikgehen zugrunde‘. Seine Musik
und seine Gedichtesollen den Men-
schen diese Einsichten näher brin-
gen.“ Einsichten, für die damals der
Begriff des Ethnopluralismus auf-
kam. An die Deutschen richtete
Moondog die Bitte: „Kümmerteuch
um eureRoots, eureWurzeln!“ Wäh-
rend dieAusstellungsmacher ihrem
Helden die Bittenicht erfüllen,ver-
nimmt man soetwaswie denNach-
hall dieserTöne an jederStraßen-
ecke.

Moondog


VonPatric kBahners

A


ndiesemAbend hat das
Gretchen früh aufge-
macht. Die Chefin istam
Eingang bei der Schlange
gesessen und hat Schlüs-
selandie Mitarbeiterver-
teilt:„Du machstbittegrün. Marek istder
Zweite.“ Jetzt istesvoll, vorder Bühne ein
paar Jungeund viele Mittelalte, und noch
weiß keiner,was alsNächstes kommt.Da
steht einer mit Glatze hinter einem Mons-
trum ausKabeln und ein anderer mit Bart
am Mikro, und jetzt stimmt ein Berliner
Duo klirrenden Elektropop an. Die Men-
ge setzt sichinBewegung. Hinter der Bar
nickt PamelaSchobeß, die Chefin, es
läuft, jetzt zieht sie sichden Pulli über
Kopf und tätowierte Arme und mixt
Drinks. Dieganze Nacht.
Das Gretchen istein Club.Vonaußen
„voll izzelig“, sagt selbstdie Chefin, innen
ein Kreuzgewölbe mit gusseisernen Säu-
len,eine denkmalgeschützte Halle für Pfer-
deställe, 1854. Hier läuftkein „Wonder-
wall“, hier gibt esKonzerte,alles irgend-
wie elektronisch, aberkein Techno oder
House, dafür Experimentemit Jazz,Funk,
Soul: „Bloßkeine geraden Beats“.
An einem anderenAbend in derselben
Woche, nur später,öffnetinFrankfurtdas
Velvet.Draußenstehen sie in Gruppen
und auf spitzen Hacken, sehr jung und ein
bisschen betrunken, und wissengenau,
wassie bekommen: Partyklassiker auf
fünf Ebenen, Deichkind, Rihanna,Black
Eyed Peas. Das Velvet istandiesem
Abend eine Spielstättefür Konsensklänge
vomBand. Draußen sitztkein Chef. Spä-
terwerden die Gäste mit einem Lächeln
davonschwanken, auchwenn die uninspi-
riertenDJsauf der Emporesie denAbend
überkeines Blickesgewürdigt haben.
Die Clubkultur,soliestman es jetzt
oft,steckt in einer schwierigen Phase,
und das nicht erst nachdem Ausbruchei-
nesVirus, das alles öffentliche Leben
lahmzulegen droht.Inden letzten zehn
Jahren, sagen die Betreiber,mussten hun-
dertBerlinerNachtclubs schließen. Man
nenntesClubsterben, und es hat mehrere
Ursachen,vorallem aber die Immobilien-
lage.Wo neu gebaut wird, müssenWohn-
häuser her in einerStadt, die im Jahr um
40000 Menschenwächst.WoWohnhäu-
ser entstehen,stören Clubs,weil sie laut
sind, Müll machen,wenig Miete zahlen
und vermutlichirgendwas mit Drogen zu
tun haben.Undsozahlreiche Grundstü-
ckebesitzt dieStadt ja auchnicht, viele
hat sie in schwierigenZeiten verkauft.
Das zweiteProblem istdas Gewerbe-
mietrecht.Gehört dasGelände einem pri-
vatenInvestor, kann der seineVerträge
nachBelieben regeln. Passtein Club
nicht mehr in ein Investitionskonzept,
musserverschwinden, eineVerhand-
lungsgrundlagefehlt.Zuletzt istdas der
Griessmühle passiert, einem sehr belieb-
tenTechno- undKulturclub auf einem In-
dustriegelände am Neuköllner Schiff-
fahrtskanal, der imFebruar zumachte,
weil die Besitzer,eine Aktiengesellschaft
aus Österreich, anderePläne hat.
Undjetzt Corona. In dieserWochewur-
de bekannt, dasssicheinigeder Berliner
InfizierteninClubs angesteckt haben.Für
das nahendeWochenende und diefolgen-
de Zeit hat die Berliner Clubcommission
Maßnahmen erarbeitet:Gäste werden
jetzt mit ihrenKontaktdaten „registriert“,
um Ansteckungen besser nachzuverfol-
gen. Unddie Betreiber sollenwegender
Ansteckungsgefahrweniger Gäste einlas-
sen. EinViertel der Besucher istseit den
ersten Infizierungen ohnehinweggeblie-
ben. Die Gesundheitsverwaltung hatVer-
anstaltungen mit mehr als tausend Gästen
untersagt.Man munkelt, dieZahl könne
in diesenTagen auf fünfhundertreduziert
werden. Der in einemFernheizwerkam
Ostbahnhof untergebrachte bekannteste

Club Deutschlands, das Berghain, bleibt
bis MitteApril geschlossen.Fürkleinere
Clubs mitwenigerUmsatz wäre das exis-
tenzbedrohend. Am Mittwochhat sichdie
Kommission deshalb an dieRegierungge-
wandt und nach Hilfegerufen.
GeorgKössler istder einzige Stadtpoliti-
ker, der dieFunktion des clubpolitischen
Sprechersseiner Partei trägt.Über Ent-
schädigungen, sagtKössler am Donners-
tag, müsse jetzt schnell entschiedenwer-
den, damit auchkleinereBetreiber die
Chance hätten,vorübergehend zu schlie-
ßen. Je früher die Anpassung, desto früher
könnedann hoffentlichweitergetanzt wer-
den.Fast die Hälfte der Clubs in Berlin, so
rech netKössler,müssten nachvier Wo-
chen ohne Betriebganz dichtmachen.
In der Hauptstadtpolitik haben die
Clubs inzwischen abererstaunlichviele
Unterstützer.EinigeAbgeordnete gehen
selbstgerntanzen, anderedenken an den
Umsatz von1,5 Milliarden Euro, den Ber-
lin mit seiner Clubszene im Jahr macht.
Ein Drittel derTouristen, heißt es,komme
wegendes Nachtlebens.Fürden Lärm-
schutzfonds des Landes hat der Senat im-
merhin auchzweiMillionen Eurozur Ver-
fügunggestellt.Technisch, sagen die Club-
betreiber,sind die Möglichkeiten, einen
Bassauszulöschen, bevorerdas Gelände
verlässt,groß, nurteuer istdas eben.
Die Lageder Clubskönnte sichverb es-
sern,wenn sie zuKulturstätten erhoben
würden, auf das NiveauvonTheaternund
Konzerthäusern, und nicht mehrVergnü-
gungsstätten wie Bordelle und Spielhal-
len wären. Das würde sie ausder Schmud-
delecke holen und die Mietsituationver-
bessern, sagtPamela Schobeß, die auch
Vorsitzende der Berliner Clubcommis-
sion ist. Das Berghain zahlt siebenPro-
zent Gewerbesteuer –und istdamit als
Ortkreativer Leistung anerkannt.Wenn
Investoren dann in derNähe solcherKul-
turorte Bauplänevorlegten, müssten sie
für angemessenen Schallschutz sorgen.
Es würde demgerechte r, wastatsächlich
hinter ihrer Arbeit stehe, sagtPamela
Schobeß. EinKulturprogramm.

Waswirdaus der Subkultur,
wenn diePolitik mitmischt?
Grüne, Linkeund FDP haben imFebruar
den Kulturstättenantrag im Bundestag ein-
gebracht, der jetztgeprüftwird. Die Grü-
nenforderneine Reform des Gewerbe-
mietrechts. Die Linkeschlägt Kultur-
schutzgebiete vor, um schonvorhandene
Clubs zu schützen und dafür zu sorgen,
dasssichneue imZentrum ansiedelnkön-
nen. Man sollteesnicht einfachdem
Markt überlassen, sagtKössler,der Club-
sprecher,dassdemnächstauchnochdas
fünfundfünfzigsteEinkaufszentrum in der
Stadt geplantwerde.

Ein BerlinerWegmit Schutzzonenetwa
um dieRummelsburgerBucht, ein Gewer-
begelände am Ostkreuz, dürfteinanderen
Großstädten zu interessiertenFragenfüh-
ren. Auch,wenn esgelingt, bei der Pla-
nung freier Gelände Orte für die Clubkul-
tur vorzusehen. Zum Beispiel: Haben alle
Clubs, auchdie kommerziellenTanztem-
pel, die Bezeichnung Kulturstättever-
dient? Ließe sichdas Berliner Modell, hät-
te es denn Erfolg, auf andereStädteüber-
tragen?Und: Waswirdaus der Subkultur,
wenn diePolitikmitmischt?

Dr.Motte sagt:
Wirbrauchen den Lärm

FürDr. Motte, den Gründer der Love Para-
de undTechno-DJerster Stunde, istjeder
Clubgleichviel wert.Motte verteilt Flyer,
auf denen „Künstlerschutzgebiet“steht.
Motte sagt:„Wirbrauchen den Lärm“,
und: „Wir müssen unser Immunsystem
stärken.“ Erkann vonStädten berichten,
derenNachtlebenvorlauterRegularien de-
primierend eintönig wurde (Regensburg),
und vonLändern, in denen die elektroni-
scheTanzmusik ingroßen,etablierten Fes-
tivals auf dieStraßegebracht wird(die
Schweiz). Er hat Lehrbüchergelesen über
Flexibilität undKooperation–und Hera-
klit.Aber daran, dassCorona seinen Plan
vereitelnkönnte, möchteernicht denken.
Manche glauben, dassMottes neuer Coup
nur eine PR-Aktion ist. Die Love Parade
wiederbeleben und denTechno als imma-
teriellesKulturerbe derUnescofestschrei-
ben! Er solltelieber die nochvorhande-
nen Clubs unterstützen.Aber Motte sam-
melt seelenruhig Geld für seineParade im
Sommer 2021.Noch istder Termin nicht
abgesagt.Sein Unesco-Aufruf hat den
langjährigen Bemühungen der Berliner
Clubcommission neue Aufmerksamkeit
verschafft,auchmit fastsechzig gilt der
DJ nochals glaubwürdiger Hüter der Club-
kultur.Neulichhabe er mal wieder im für
seinelibertinären Partysbekannten Kit-
Kat-Club aufgelegt, erzählt er beimTee
im Wedding.Nach Monaten der politi-
schenAgitationwarsein Kopf beim ers-
tenStückfrei. Das KitKat istauchsoein
Kandidatauf der Liste der Gefährdeten.
FüreinenDJ wie Motte, der seit Jahr-
zehnten auflegt, istesunverständlich,
dassdie elektronische Musik mit ihrem
Konzeptaus Licht, Klang, Bühne und
Raumkonzeption, aus Instrumentarium
und aktivenTeilnehmernkeinenKultur-
schutz erfährt.WarumsollteanMischpul-
tenentstandene Musikwenigerwert sein
als einKammerkonzert? Durch Berliner
Clubs hingegen, erzählt Motte,streifen
Mitarbeiter desFinanzamts, diefeststel-
len sollen, wie viel selbstgemachteskünst-
lerisches Programmtatsächlichinihnen
steckt–umnachträglichabzurechnen.

Undwenn jetzt auchnochalle Veranstal-
tungen in Berlin abgesagt würden, sei das
nur einZeichen dafür,dassauf diePolitik
kein Verlasssei: „Diese Entwicklung wird
den ganzen Planeten treffen.“
Spricht man mit Menschen, die nachts
in Berlin unterwegs sind,kann es sein,
dasszehn Personen zehn unterschiedliche
Clubempfehlungen nennen. Sicher,esgibt
die großenTraditionshäuser,Water gate,
Sisyphos,Tresor.Für die hundertClubs,
die zumachen mussten, haben in den letz-
tenJahren immerhin siebzigneue eröff-
net. Aber nicht alleinwegender Standorte
könne man die nicht mit den altenverglei-
chen, sagtPamela Schobeß. Je höher die
Mieten, desto wahrscheinlicher,dassdie
Betreiber sichfür altbekanntes,kommer-
zielles Programm entscheiden, um ihre
Tanzflächen zu füllen.Wegvon den Ni-
schen, denNewcomernund Jazzsängern.
In anderen Großstädten wie London
und Parisist die Clubszene in diePeriphe-
riegewandert. OffSpaces, also abgelege-
ne, oftillegale Flächen, seien ihr auch
rech t, sagt Schobeß, nur liefeesdann im-
mer darauf hinaus, dassdie Tanzlokale die
Orte sexy machten.Unddann komme die
Gentrifizierung.Vordem Gretchen hatte
Schobeß fünfzehn Jahrelang einen Club
am Prenzlauer Berg, den sie aufgeben
musste, als eine Baulücke geschlossenwur-
de. Wasinden Neunzigernnochnormal
war, der illegal eröffnete Club mit dem
Wissen der Ämter,ist vorlauter Genehmi-
gungen und Gutachten undgefordertenIn-
vestitionen, auchnachder Love-Parade-
Katastrophe in Duisburg,undenkbar.An-
dereStädtezum Abschauen gibt es nach
Ansicht der Berliner Clubbetreiber nicht
mehr.Nur die Mahnung, aufzupassen.
Frankfurthat es schon hintersich. Ata
Macias, Gründer desRobertJohnson an
der Offenbacher Grenze, für denvorzwan-
zig JahrenDJsaus Paris, NewYorkund Zü-
rich an den Mainkamen, musstebeim Nie-
dergang der Tanzmusikkultur zusehen.
Das RobertJohnson blieb als einer derletz-
tenClubs mit kreativem Anspruchzurück.
InFrankfurt,sagtMacias,hättensichdie
Politiker nie für die Chancen interessiert,
die derStadt aus dem vielseitigenNachtle-
ben entstanden,auchnicht für dieFreiheit
der Anhänger der „längstenMusikbewe-
gung der Jugend“.Stattdessen Mainuferfes-
te mit Currywurst und Schlagermusik.Die
Planung eines Museums zur Geschichte
der Technokultur in der Innenstadt kommt
wegenProblemen mit derFinanzierung
nichtvoran .Und dann die Gema, die im-
mer nur Geldwollte. „Die elektronische
Musikkultur zahlt DieterBohlens nächste
Villa“,sagt Macias. DerKapitalismus–
das Geradeziehen der Clubkultur–das
mache die Bewegungkaputt.
DieLivekomm istder Dachverband der
Clubbetreiber in Deutschland.Sie könnte
dabei helfen, die Erfahrungenaus der
Hauptstadt inandere,weniger in vestitions-
getriebeneStädte zu tragen.Undbei der
Frage, wiekreativdasProgrammeines
Clubs eigentlichseinmuss, um denTitel
der Kulturstättezuverdienen. InBerlin
wirdmit dem Investor des Griessmühlen-
Geländesweiter über eineRückke hr des
Clubsverhandelt.Ander Lohmühleninsel
in Kreuzberg,wo Anwohner überdie Dau-
erbeschallung klagen, hatdie Clubcommis-
sionein Beschwerdetelefon undNacht ru-
hewächtereingeführt, die auf Anfrageüber-
prüfen, woher der größteLärmkommt.
UndinZeiten vonCorona sind schondie
ersten Online-Rave-FloorsinPlanung.
Mitternacht vordem Gretchen, eine
Gruppe Jugendlicher steht zu fünftim
Kreis und raucht selbstgedrehteZigar et-
ten. Ein Mädchen will wissen,wasjetzt
passiert, es istkalt.Fünf Vorschläge. Der
einzige Club, auf den sichalle einigen
könnten, hat an diesemAbend zu.Und
wirdsoschnell auchnicht mehr aufma-
chen. ELENAWITZECK

Wieman den

Bass löscht

LjudmilaPutinahatteesvon Anfang
an gewusst. Als ihr damaliger Mann,
Russlands Langzeitpräsident, vor
zwanzig Jahren installiertwurde, soll
sie inTränen ausgebrochen sein,weil
sie begriff,dasserdieses Amt lebens-
lang innehaben würde. Die Art, wie
dieseNachrichtnun im Scheinparla-
ment der Duma aus dem Hutgezau-
bertwurde, erschien dennochwie
eineFarce. Aufden Vorschlag der äl-
testen Abgeordnetenund Ex-Kosmo-
nautinValentina Tereschkowa,mit
der bevorstehendenNeuauflageder
Verfassung auchPutins Amtszeiten
wieder bei null beginnen zu lassen,
eiltedas Staatsoberhauptaus dem
Kreml herbei, um sichdamit einver-
standen zu erklären,falls dasVerfas-
sungsgericht dem zustimme–als sei
das nichtvorabentschieden.
Damitwarklar,wozu Putin,von
demPolittechnologen sagen, er be-
treibegrundsätzlichDesinformation,
im Januar plötzlich eineReform des
Grundgesetzes initiierte. Die neue
Verfassung, über die die Bevölkerung
am 22. April abstimmen soll,garan-
tierteinen Mindestlohn, der nicht un-
terdem Existenzminimum liegt, ei-
nen Teuerungsausgleichfür Rentner,
sie beruftsichauf Gott und die histo-
rische Erinnerung der Vorfahren.
Wiesichherausstellt,warendiese
Punkte, die auchdie schmerzhafte
Rentenreformund die insgesamt sin-
kenden Einkommen irgendwiekom-
pensieren sollen,vorallemTannen-
baumschmuckfür die Operation des
Machterhalts über das Ende der jetzi-
genAmtsperiode 2024 hinaus.
DerAusdruck„auf null setzen“
(„obnulit“), den die 83 JahrealteTe-
reschk owagebrauchte, ging sogleich
viral durch die sozialenNetzwerke.
Der User Iwan Davydowdefinierte,
als Variation des lateinischen Mottos
„divideet impera“, das Prinzip„Auf
null setzen und herrschen“ als neue
Machttechnik.Eine Twitter-Nutzerin
erklärte,wennsieessengehe,werde
sie künftigverlangen, dassman ihre
Rechnung aufNull setze. Undder
LinksaktivistSergejUdalzowschlug
vor, die Schulden vielerRussengegen-
über denkommunalen Dienstenauf
null zu setzen.
Aufnull gesetzt wurden abervoral-
lem die Hoffnungen vieler,dasssich
im Land etwasgewaltlos ändern
könnte,stellt derPolitologeFjodor
Krascheninnikow fest.Diese in der ur-
banen IntelligenziaverbreiteteStim-
mung illustriertein depressiverPost
des JournalistenAnton Orech, der
beim oppositionellen Radiosender
„Echo Moskwy“ schreibt, nungäbe es
eineZukunftsgewissheit–und zwar
die eines Gefängnisinsassen, der
durch seine Gitterstäbe zuschauen
muss, wie der Niedergang seines Lan-
des und der Exodus der Klügstenund
Tatkräftigstenimmerweiter gehen.
Vorder Kremlmauer sammelten
sichjüngereLeute, umgegendie Ver-
fassungsänderung nacheinander Ein-
zelmahnwachen abzuhalten, die ein-
zigenicht genehmigungspflichtige
Demonstrationsform.Eine junge
Frau sprichtvoneinemStaatsstreich.
Der 34 JahrealteLew Parchomenko
hält einFoto vonPutin hoch, dem er
per FaceApp das Greisengesichtvon
2036 verliehen hat,wenn die nach
der neuenVerfassung erlaubte zweite
Amtszeit endetund er 84 Jahrealt
sein wird. Parchomenkofindetes
schlimm für sein Land,dassPutin das
Internetweder nutzen kann noch
will. DassRussland auf demWegin
eine neue Gerontokratie ist, dafür
steht auchdie Figur vonTereschko-
wa,die schon 1977 als KPdSU-Mit-
glied im Obersten Sowjeteine Lobre-
de auf Leonid Breschnewund seine
neueVerfassunggehalten hatte.
Als Präsident Putin sichfür dasfor-
mell vonder Senior-Abgeordneten
vorgeschlagene„Auf null setzen“ sei-
ner Amtszeiten aussprach, begründe-
te er das mit derStabilität, dieRuss-
land brauche. Ironischerweise bra-
chen gleichzeitig, auchwegen des
Zerwürfnisses des Kremls mit der
Opec, der Ölpreis und derRubelkurs
ein. Indes spricht Putins plötzlicher
Vorstoßnachnur einem Drittel sei-
ner Amtszeit dafür,dassdie politi-
sche Architekturtatsächlichzuwa-
ckeln beginnt.Die anhaltendeWirt-
schaftskrise hat die Umfrag ewerte
des Präsidenten einbrechen lassen,
und derRegierungswechsel und die
populistischen neuen Verfassungs-
punktesollen dem offenbar abhelfen.
Das Staatsoberhauptwill auchdie
Initiativebehalten, um zu verhin-
dern, dassTeile der Eilte sichum
eine Figur mit einem alternativen
Entwicklungsmodell sammeln, wie
es am Ende derTandem-Herrschaft
mit DmitriMedwedjewgeschah. Die
Corona-Krise kamihm insofern
recht,als in Moskau sämtliche Groß-
veranstaltungen und Demonstratio-
nen verbotenwurden. Mit seinerVer-
fassungsänderungverhänge der Präsi-
dent eine ArtQuarantänegegendie
europäischeRechtskultur überRuss-
land,findetder Schriftsteller Dmitri
Bykow.Dabei sei der defactozum
Zaren„gekrönte“ Putin selbstein
Coronavirus, den das Land nicht
mehr loswerde. KERSTIN HOLM


Ungeachtetder Absageder Leipziger
Buchmesse sindgesternihrePreise
verliehenworden: in denKategorien
Belletristik,Sachbuch/Essayistik und
Übersetzung. Nominiertwaren je-
weils fünf Bücher,und normalerweise
wäre die Preisbekanntgabe auf dem
Messegelände erfolgt, ingroßer Öf-
fentlichkeit undfeierlichemRahmen.
Diesmal wurden die Gewinner ledig-
lichimRadioverkündet, und dievon
DeutschlandfunkKultur produzierte
Sendungwarnicht dazu angetan, den
Schmerzüber dieAbsageder Messe
zu lindern, dafürfiel die Preisverkün-
digung viel zu pannenbehaftetund
lieblosaus. Die Gewinnertitel sind
Lutz SeilersRoman „Stern 111“, Betti-
na HitzersStudie „Krebs fühlen –
Eine Emotionsgeschichtedes 20. Jahr-
hunderts“ und „Oreo“, dervonPieke
Biermann erstmals ins Deutsche über-
setzt eRoman der AmerikanerinFran
Ross aus dem Jahr 1974. apl

Voreinunddreißig Jahren organisierte er die ersteLoveParade. Jetzt will Dr.Motte, dass die elektronischeTanzmusik Unesco-Weltkulturerbe wird. FotoFrank Röth

Prei strägerder


Leipziger Messe


Russland


am Nullpunkt


Gekröntes Virus: Putin


nutzt diePandemie aus


Mit dem Plan, Clubs zuKulturstätten


zu erheben, will Berlin dieZukunft


der elektronischenTanzmusik sichern.


Jetztkommt Corona dazwischen.

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