Die Welt - 07.03.2020

(Ben Green) #1

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07.03.20 Samstag,7.März2020DWBE-VP1


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48 REISEN DIE WELT SAMSTAG,7.MÄRZ2020


M


it dem Padrone ist in
Sachen Persönlich-
keitsrechte nicht zu
spaßen. Als er da steht,
von der Kundschaft ab-
gewandt, und in eines seiner legendären
Panini beißt, wagt es einer dieser Kun-
den tatsächlich, ein Foto von ihm zu
machen. Sogleich folgt eine über meh-
rere Meter hinweg lautstark artikulierte
Strafpredigt, in der die Worte „Pause“,
„Anstand“ und etwas Derbes auf Italie-
nisch vorkommen.

VON EVA BIRINGER

Dass „Mike’s Deli“ eine Legende ist,
hat zum großen Teil mit seinem Besit-
zer David Greco zu tun, seinen streng
pomadisierten Haaren und seiner sono-
ren Verkäuferstimme. Touristen lieben
Legenden und strömen folglich an allen
sieben Tage der Woche in die Markthal-
le in der Arthur Avenue, um sich an der
Wursttheke des Delikatessenhändlers
Salamischeiben auf die Hand geben zu
lassen wie Kinder. Schon Greco Senior,
der 1947 als kalabrischer Einwanderer
mit 50 Dollar in der Tasche in die USA
kam, genoss landesweite Berühmtheit.
Während der Arbeit schmetterte Mike
Greco gerne Puccini-Opern, Kochbuch-
autorin Marcella Hazan lobte seine ge-
trockneten Steinpilze.
Als der „Salamikönig“ im März dieses
Jahres im Alter von 89 Jahren starb,
übernahm Sohn David den Betrieb, oh-
ne ihm den Stempel seines Vornamens
aufzudrücken. Wie in den fünf Dekaden
zuvor gibt es dort Wurst, Käse, italieni-
sche Feinkost und frisch belegte Panini
zu kaufen. Während New York rast, übt
sich ein Straßenzug in dessen verru-
fenstem Viertel in Stillstand.
Anders als Manhattan oder Brooklyn
steht die Bronx auf kaum einer Must-
see-Liste. Zu weit liegt das knapp 150
Quadratkilometer große Gebiet vom
Stadtzentrum entfernt, mit dem Zug
von der Grand Central Station aus
braucht man mehr als eine Stunde.
Noch problematischer ist sein Ruf. Wer
bei Google nach Bronx sucht, erhält als
Erstes die Vorschläge „Getto“ und „ge-
fährlich“. Von den 1,4 Millionen Ein-
wohnern ist etwa die Hälfte weiß, die
größte Minderheit machen mit 30 Pro-

zent die Hispanics aus. Insgesamt liegt
der Anteil der Einwanderer bei rund 40
Prozent. Wer käme auf die Idee, dass
man dort den besten Parmesan der
Stadt bekommt?
„Den musst du probieren!“, ruft Cris-
tina Lombardi überschwänglich. Vor ihr
auf der Theke reihen sich Schalen mit
Pecorino, Büffelmozzarella und Ricotta
auf. Lombardi bewegt sich durch den
Verkaufsraum als wäre er ihr Wohnzim-
mer. Mit ihrer Divensonnenbrille und
dem eleganten Mantel wirkt sie wie eine
mediterrane Version von Audrey Hep-
burn. Wenn sie lacht, wippen ihre brau-
nen Locken, und sie lacht viel. Lombar-
di ist in New York geboren und auf Long
Island aufgewachsen. Ihre Urgroßeltern
stammen aus Süditalien, die Vorfahren
ihrer Mutter aus Rom.
Vor einiger Zeit hat sie sich als Tour-
guide selbstständig gemacht. „Wer Litt-
le Italy sucht, fährt üblicherweise nach
Manhattan“, erklärt die 34-Jährige, „da-
bei werden die meisten der Geschäfte
dort inzwischen von Armeniern, Slawen
und Kroaten betrieben. Das hier ist eine
viel authentischere Version.“ Sie meint
den 1949 gegründeten Käseladen des Si-
zilianers Salvatore Calandra, der seit
dessen Tod von seinem treusten Ange-
stellten, einem Argentinier, weiterge-
führt wird. Sie meint auch die Arthur
Avenue, eine knapp zwei Kilometer lan-
ge Straße im Herzen der Bronx.
Warum New Yorks flächenmäßig
größter Stadtteil im Gegensatz zu den
anderen einen Artikel hat, erklärt des-
sen Geschichte. 1639 ließ sich der
schwedische Farmer Jonas Bronck dort
nieder. Bekannt waren er und seine
Frau für rauschende, tagelang dauernde
Partys. Gäste, die dafür aus dem Süden
der Stadt anreisten, pflegten zu sagen:
„Wir fahren hoch zu den Broncks.“ Im


  1. Jahrhundert kamen italienische Im-
    migranten als billige Arbeitskräfte nach
    New York, zuerst in jenes Viertel in
    Manhattan, das heute noch nach ihnen
    benannt ist. Einige von ihnen zog es je-
    doch von Little Italy aus nach Norden,
    wo die Luft besser war: nach Belmont,
    abgeleitet vom französischen belle
    mont, schöner Berg. Seit 1870 war der
    Bezirk im Besitz der Tabakerbin Catha-
    rine Lorillard Wolfe, der damals reichs-
    ten Frau Amerikas. Dort, wo heute das


Herz der Bronx schlägt, ließ sie botani-
sche Gärten und einen Zoo anlegen und
benannte die Hauptstraße nach dem 21.
US-Präsidenten Chester A. Arthur.
Schon bald war die Arthur Avenue
fest in italienischer Hand – und sie ist es
noch heute. Viele der hier ansässigen
Geschäfte sind Institutionen. Etwa der
Pastaspezialist Borgatti’s oder der Cal-
abria Pork Store, von dessen Decke 400
Kilo Würste herabhängen. Seit 1967
werden hier Schweineschultern geräu-
chert und die kalabrische Frischwurst
Nduja hergestellt. Zu den alteingesesse-
nen Geschäften gehört auch Mario Ma-
donas Pasticceria, die2019 Jahr ihr 100.
Jubiläum feierte. Hier wird die siziliani-
sche Gebäckspezialität Cannoli erst auf
Bestellung mit süßer Ricottacreme ge-
füllt, wie es sich gehört. Lombardi be-
stellt zwei Stück und lässt ein Dutzend
Mandelkekse einpacken, für später.
Essen ist Heimat, so lässt sich ein
Phänomen wie die Arthur Avenue erklä-
ren. Vor allem die ersten, kaum Englisch
sprechenden Gastarbeiter sahen sich
mit zahlreichen Vorurteilen konfron-
tiert. Die Küche ihrer Vorfahren war ei-
ne Möglichkeit, ihren Stolz zu bewah-
ren. Während sie um die Jahrhundert-
wende eher unter sich blieben, fand
durch die beiden Weltkriege ein Menta-
litätswandel statt. Plötzlich war es
wichtig, Amerikaner zu sein, auch für je-
ne Einwohner mit europäischem Pass.
Deren Nachkommen vereinen stolz
beide Lebenswelten, fühlen sich genau-
so als Amerikaner wie als Italiener. So
wie Lombardi, die jetzt mit erstaunlich
schnellen Schritten – eine Dame wie sie
trägt natürlich Pumps – in das Herz des
Bezirks führt, den Arthur Avenue Retail
Market. Dabei handelt es sich um eine
Markthalle, wie sie in jeder Stadt der
Welt stehen könnte – mit dem Unter-
schied, dass hier keine Hipster für Kaf-
fee für sechs Dollar anstehen, sondern
Einheimische für ein Stück Pizza Mar-
gherita auf die Hand. Gegründet wurde
sie von New Yorks erstem italienischen
Bürgermeister. Fiorello LaGuardia woll-
te die Lebensverhältnisse der Immig-
ranten verbessern und die hygienischen
Zustände der Marktstände.
Der seit 1940 bestehende Retail Mar-
ket ist die älteste Markthalle New
Yorks. Bei Casa Grande gibt es handge-

machte Zigarren, bei Mount Carmel
Foods sonnengereifte San-Marzano-To-
maten und die Pastaspezialität Rusti-
chella d’Abruzzo, bei Boiano’s die
schönsten Artischocken. Ob man jetzt
bereit sei für David Grecos One-Man-
Show, fragt Cristina Lombardi. Man ist
bereit. Es folgt die eingangs erwähnte
Szene, die aus einer Legende einen nah-
baren Mann fortgeschrittenen Alters
macht, der einfach mal in Ruhe essen
will. Wir hingegen wollen etwas trin-
ken, ein Glas Soave am Tresen der
„Bronx Beer Hall“. Die wirkt wie eine
Mischung aus amerikanischer Fußball-
kneipe und italienischer Aperitivobar –
nicht glamourös, aber echt.
Das gilt auch für die nächste Station
der Tour, obwohl ein jüdisches Geschäft
in einer italienischen Nachbarschaft
erst mal für Verwunderung sorgt. 1912
kamen Jacob und Morris Teitel von Ös-
terreich aus nach New York, ließen sich
in der Bronx nieder und gründeten drei
Jahre später ihr Lebensmittelgeschäft.
Dass sie sich früh den Wünschen ihrer
südeuropäischen Kunden anpassten
und als erstes Geschäft nach Hause lie-
ferten, sorgte dafür, dass die Gebrüder
Teitel schwere Zeiten wie die Große De-
pression überlebten. Heute gibt es bei
Gilbert Teitel und seinen Söhnen Jean,
Michael und Eddie Prosciutto zu kauf-
en, Sardinenkonserven und Kekse der
italienischen Marke Mulino Bianco.
Schon drängt Lombardi zum Aufbruch.
Einige Schritte weiter wartet bei Cosen-
za ein Dutzend Austern, zusammen mit
der Information, dass der unweit von
hier gelegene New Fulton Fish Market
nach Tokio der zweitgrößte der Welt ist.
Die letzte Station der Food-Tour hat
nichts mit Essen zu tun. Bis Anfang des


  1. Jahrhunderts gab es nur eine Kirche
    in Belmont, die italienische Gottes-
    dienste abhielt. Die 1906 erbaute Our
    Lady of Mount Carmel Church war zeit-
    weilig die größte italienische Gemeinde
    in ganz New York. Sie bot den Einwan-
    derern erster und zweiter Generation
    das, was ihnen auch das Essen bot: eine
    Heimat in der Fremde.
    Vor dem Portal bittet Lombardi, auf
    den Steinstufen Platz zu nehmen. Zeit
    für die Mandelkekse. Dazu einen Cap-
    puccino to go – das hat dann doch etwas
    sehr Amerikanisches.


JOE BUGLEWICZ/REDUX/ LAI

F

Das wahre LITTLE ITALY


Wer authentisches italienisches Leben in New York sucht, muss in die Bronx fahren. Auf der Arthur Avenue gibt es den besten Parmesan der Stadt


Echt italienisch: Bei Borgatti’s bekommt man seit Jahrzehnten Pasta in allen erdenklichen Formen
NEW YORKNEW YORKNEW YORKNEW YORKNEW YORKNEW YORKNEW YORK

Manhattan CollegeManhattan CollegeManhattan CollegeManhattan CollegeManhattan CollegeManhattan College

Retail MarketRetail MarketRetail Market

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Carmel ChurchCarmel ChurchCarmel ChurchCarmel ChurchCarmel ChurchCarmel ChurchCarmel ChurchCarmel ChurchCarmel Church

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Anreise Von Deutschland aus
fliegen zum Beispiel die Lufthansa
(www.lufthansa.de), United Airlines
(www.united.com) und Delta
(https://de.delta.com) direkt nach
New York. In Manhattan nimmt
man die U-Bahn von der Grand
Central Station zur Prospect Ave-
nue, dann den Bus, alternativ den
Regionalzug nach Fordham, von
dort ist es bis zur Arthur Avenue ein
Kilometer Fußmarsch. Achtung: Die
Haltestellen des Regionalzugs wer-
den manchmal nicht angesagt.

UnterkunftDas „Opera House Ho-
tel“ ist seinem Namen entsprechend
in einer ehemaligen Oper unterge-
bracht. Mit 60 Zimmern ist es das
erste Boutiquehotel der Gegend.
Doppelzimmer ab 95 Euro
(www.operahousehotel.com).
Sich fühlen wie ein amerikanischer
Collegestudent? Unabhängig vom
Alter geht das im „Manhattan Col-
lege“. Zur Auswahl stehen Suiten
oder Schlafsäle – allerdings nur von
Mitte Juni bis Mitte August –, in der
restlichen Zeit des Jahres läuft der
reguläre Universitätsbetrieb. Preis
auf Anfrage (bit.ly/3aqDXuO). Das
„Roadway Inn“ direkt am Bronx Zoo
ist eine sehr annehmbare Filiale
einer Kette, Doppelzimmer inklusive

Frühstück ab 107 Euro
(www.choicehotels.com/new-york).

Food-Tour „Follow me New York“
heißen die durch die ganze Stadt
führenden Touren von Cristina Lom-
bardi. Viele davon drehen sich um
Essen und Trinken, beispielsweise
gibt es spezielle Pizza- oder Speak-
easy-Bar-Touren, aber auch eine
durch die Grand Central Station
(followmenycadventures.com).

Essen gehen Das Restaurant „Zero
Otto Nove“ auf der Arthur Avenue
serviert klassisch Italienisches wie
Pizza und Pasta auf gehobenem
Niveau (www.zeroottonove.com).
Gleich um die Ecke liegt das „Tra di
Noi“, eine Trattoria, deren in Italien
geborener und ausgebildeter Kü-
chenchef Marco Coletta über mehr
als 50 Jahre Küchenerfahrung ver-
fügt (www.tradinoi.com).Wer ge-
nug von italienischer Küche hat,
bekommt im „Eating Tree“ karibi-
sches Soulfood in entspannter At-
mosphäre serviert. Ziegencurry und
Jerk Chicken schmeckten schon der
New Yorker Kochlegende Anthony
Bourdain (892 Gerard Ave).

Auskunft
de.nycgo.com

Tipps und Informationen

Italienisches Gemüt: David Greco von „Mike’s Deli“

EVA BIRINGER

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