Der Spiegel - 29.02.2020

(Jeff_L) #1
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Markus Feldenkirchen Der gesunde Menschenverstand

Kreatives Täterraten


Der Reporter vor Ort erfüllt eine wichtige Aufgabe
im Journalismus: Er berichtet, was er mit eigenen
Augen gesehen hat. Wenn er aber nichts sieht,
wird er zur tragischen Figur, man könnte auch
sagen, zum Hanswurst. Besonders undankbar ist
der Einsatz nach einem Attentat, wenn der Repor-
ter in irgendwelche Livesendungen geschaltet wird, die
Nähe und Information suggerieren und doch meist nur hilflos
dahingestammelte Spekulationen liefern.
Wie das konkret aussieht, konnte man am Montag zum Bei-
spiel auf n-tv beobachten. Gerade war im hessischen Volkmar-
sen ein Auto in den Karnevalsumzug gefahren und hatte viele
Menschen verletzt. Mehr wusste man zum Zeitpunkt der
Schalte nicht. Trotzdem ging es gleich live nach Volkmarsen,
konkret: zur Alex. Am Ende blickte sie brav in die Kamera,
während der Moderator im Studio ihr erzählte, was hinter ihr
los war. »Wir sehen hinter Ihnen auch Menschen, noch im Kos-
tüm, die natürlich bei der freiwilligen Feuerwehr vermutlich
engagiert sind und sich dort einbringen. Eh, ja. Wir sehen dort
auch einen Bauzaun, der jetzt aufgebaut wird, um eben dort
die Rettungsmaßnahmen in keiner Form irgendwie zu stören.
Ja, ehm, Alex, ehm, vielen Dank erst mal für den Moment.«
Die Alex konnte nur nicken, weil sie die kostümierten Feuer-
wehrleute am Bauzaun nicht sah. Der Nachrichtenwert der
Schalte war überschaubar. Aber immer-
hin, man war live! Und immerhin rich -
tete die Alex keinen Schaden an.
Nach Attentaten bittet die Polizei
regelmäßig darum, keine ungesicherten
Meldungen zu verbreiten. Was sie mit
dieser Bitte verhindern möchte, illus-
trierte »Bild Live« in der Attentatsnacht
von Hanau geradezu vorbildlich. Dort
spekulierten gleich zwei Reporter vor
Ort um die Wette, wie ein Zusammen-
schnitt des Portals »Übermedien« doku-
mentiert. »Ich habe aus relativ gut unterrichteten Quellen in
Hanau hier erfahren – aber ich muss dazusagen: es sind nur
Spekulationen – dass es sich bei dem Täterumfeld um Russen
handeln könnte«, erzählte der eine Reporter. »Es kann ja auch
sein, dass die Betreiber der Bars schlicht und ergreifend kein
Schutzgeld bezahlen wollten«, spekulierte der andere. »Was
glauben oder fühlen die Menschen vor Ort?«, hakte der Mode-
rator später nach. »Glauben oder wissen kann man ja zu dieser
Stunde wohl kaum sagen. Aber was hörst du?«
»Es gab hier die Angst, dass es sich um einen rechtsextremen
Anschlag handeln könnte«, erklärte der erste Reporter. »Aber
die meisten Spekulationen, die ich bisher wahrnehmen konnte,
gehen eher in die Richtung, dass es sich um eine Milieutat han-
deln könnte.« Wer sich am kreativen Täterraten beteiligt, sollte
wissen, dass Tausende AfD-Anhänger an ihren Twitter-Schleu-
dern lauern, in der Hoffnung, was Neues gegen Migranten
raushauen zu können.
Ich weiß nicht, welchen Stuss ich mir zusammengestammelt
hätte, wenn ich nach einem Attentat in Hanau stünde und
gefragt würde, was die Menschen vor Ort denn so fühlen und
was den Täter getrieben haben könnte. Ich kann nur hoffen,
dass mich niemals jemand in eine solche Lage bringt.

An dieser Stelle schreiben Markus Feldenkirchen und Alexander
Neubacher im Wechsel.

Nachgezählt
Behinderungen durch Drohnen
im deutschen Flugverkehr

Quelle: Deutsche Flugsicherung

2015 meldeten die Piloten

14
Behinderungen
durch Drohnen.

2019 waren es

125
Meldungen,

davon 110 im
Großraum von
Flughäfen.

Nach Atten -
taten lauern
Tausende
AfD-Anhänger
an ihren
Twitter-
Schleudern.

Bundeskanzler
Volksschelte

 Kanzler Helmut Kohl (1930
bis 2017) war nicht zufrieden
mit seinem Volk. Das zeigt
der Vermerk eines Gesprächs
mit einem US-amerikani-
schen Besucher im März
1989, den das Institut für Zeit-
geschichte in einer Dokumen-
tensammlung (De Gruyter
Oldenbourg) jetzt veröffent-
licht. Danach klagte der
christdemokratische Regie-
rungschef, die Deutschen
müssten »Bescheidenheit ler-
nen«. Diese Tu gend sei ihnen
»nicht ange boren«. Sein Vor-
gänger Konrad Adenauer
(CDU) habe ihm gesagt, die


Deutschen seien in der ersten
Hälfte des 20. Jahrhunderts
Hochstapler gewesen. Nun
müssten sie dagegen, so Kohl,
»Tiefstapler« sein. Auch miss-
fiel ihm die Neigung, »geliebt
werden« zu wollen. Das sei
nicht möglich, wenn man
wirtschaftlich so erfolgreich
sei. Die Deutschen sollten
sich damit zufriedengeben,
dass »sie den Respekt der
anderen« hätten. Unter Kanz-
lern hat Deutschenschelte
Tradition. Adenauer schimpf-
te einst, die Deutschen seien
»entsetzlich dumm«; Helmut
Schmidt (SPD) attestierte
ihnen die »Neigung zu Aufge-
regtheit, Gefühlsüberschwang
und Überheblichkeit«. KLW

Restitution
Vorteil

Hohenzollern


 Georg Friedrich Prinz von
Preußen, Chef der Hohenzol-
lern, hat im Rechtsstreit mit
der öffentlichen Hand Zeit
gewonnen. Das Verwaltungs-
gericht Potsdam hat seinem
Antrag auf Fristverlängerung
für eine Stellungnahme bis
Mitte August stattgegeben. Es
geht um Immobilien, die von
den Sowjets nach 1945 enteig-
net wurden. Dafür stehen den
Hohenzollern 1,2 Millionen
Euro zu. Brandenburg verwei-
gert die Zahlung, weil die
Hohenzollern dem National-

sozialismus »erheblich Vor-
schub« geleistet haben sollen,
was diese bestreiten. Die
Aussichten der Hohenzollern
sind mäßig; das Bundesver-
waltungsgericht hat 2017 eine
Entschädigung in einem min-
derschweren Fall abgelehnt.
Allerdings sind die 1,2 Millio-
nen Thema in den Vergleichs-
verhandlungen zwischen
den Hohenzollern und Berlin,
Brandenburg sowie dem
Bund über einige Tausend
Kunstwerke, die einst den
Hohenzollern gehörten. Gut
möglich, dass Prinz von Preu-
ßen auf diesem Wege die Ent-
schädigungssumme einstreicht
und das Verfahren vor August
ohne Urteil beendet wird. KLW
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