Frankfurter Allgemeine Zeitung - 14.03.2020

(Nancy Kaufman) #1

SEITE 12·SAMSTAG, 14.MÄRZ2020·NR. 63 Feuilleton FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


Bei Wolfgang Rihm ist2017 eine schwere
Krankheitdiagnostiziert worden. Erkom-
poniertaber unverdrossen weiter .Dass
ein Dokumentarfilm über ihn kürzlich
mit „Vermächtnis“ betitelt wurde,gefällt
ihm garnicht .InseinemZuhauseinKarls-
ruhe gibt ersichfrohgemut undkampfent-
schlossen. F.A. Z.




In Ihrem Essay „Der geschockteKompo-
nist“ von1978schreiben Sie: „Der erste
Schock,das Neue altert!“ Jetzt sindSie
selbst, 1952 in Karlsruhe geboren, nicht
mehr der ganz jüngste. Ist ein abgeklär-
tes Spätwerk schoninSicht?
Das sind ja allesWorthülsenfrüchte.Wer
weiß schon, wie „spät“ es oderetwasist –
und wasbedeutet eigentlich„abgeklärt“?
Undwenn schon: absichtlichlässt sichda
sowieso nichts bewerks telligen. Ichbin zu
allen Zeiten meiner Intuition gefolgt,
sehe darin aberkeine Heldentat,sondern
einfachdas Menschenmögliche. Aber
schauen Sie: „Intuition“ istauchsoeine
Hülsenfrucht.UmimBild zu bleiben:
Letztlichinteressiertes„nicht die Boh-
ne,“ ob musikalische Dichteintuitiv ent-
standen ist. Es zählt einzig die Sache
selbst. Ermöglicht diese ein Weiter-
atmen, einen tieferen Blick, einen Schritt
vonsichselbstweg?


Sie haben überden Fortschrittsbegriff in
der Neuen Musik einmal in Prosavers-
formgedichtet:„Der Fortschritt ist sei-
ner Naturgemäß immer fort/Nie dort
wo man ihn weiß“(1998). Wie, wann
und wo ist er Ihnen, falls überhaupt,
dennbegegnet?
Natürlichnochnie, denn er istjaimmer-
fort fort.Außerdem ist„Fortschritt“, auf
Kunstbezogen, eine deplazierte Katego-
rie. Wirkönnen im Erkennen,wasKunst
als Phänomen darstellt, selbstverständ-
lichFortschritte machen. Dem Kunst-
werk selbstkommen wir mit diesem nai-
venBegriffsbestecknichtnäher.Mozart
istnicht „fortschrittlicher“ als Bach,
Proustnicht „fortschrittlicher“ als Ho-
mer.Wir können durch Einbezugeiner
Vergleichsgröße Fortschritt messen, aber
dennochmusseine Skulptur aus Plastik
nicht automatischfortschrittlicher sein
als eine Skulptur aus Metall. Mankann
die komischen Bestandteile des Fort-
schrittsdenkens in den unterhaltenden
Künstenbeobachten: Ein „Popstar“ gilt
vielleichtwegenseinerFrisur,seinen Be-
wegungen, seiner Kleidung alsfortschritt-
licher als ein anderer–die musikalischen
Mittel, die er zum Einsatz bringt, sind je-
dochdieselben. „Fortschritt“ istinden
Künstenetwas Akzidentielles, oftmals
ein Habitus, jedenfalls nichts,waszur Es-
senz der Sachegehört. Der BlickDu-
champs schafft via ironische Deutungs-
macht erst ein ready-made. Ichbin ge-
spannt,wann via KI (die ja offenbar die
Beethoven-SymphonienNr. 10 bis 4711


bereits vorgelegt hat) ein „Duchamp-
Blick“geschaffenwird, der alleReady-
mades wieder zurückverwirklicht, als
habe er sichversehen.

Waswürden Sie jungenKomponieren-
denraten: Lieber darauf warten, dass
derFortschritt von selbstvorbeikommt
oder sich in die„Diesseitigkeit“ stürzen,
um durchWerkverneinung gesellschaft-
liche Relevanz für sich reklamieren zu
können?Böse,oder?
Eher lieb. Man soll neu aufkeimendeNai-
vitäten aber nicht entmutigen. Schließ-
lichmachtKunstviel Arbeit, wie schon
der PsychologeKarlValentin lehrte ...das
musskurzvor seinemRauswurfaus dem
George-Kreis gewesen sein ...apropos
Fake News:Was halten SievomJenseits?
Neulichwurde einFilm über michge-
macht und ichhatteden Eindruck, man
wolltemich als einen auf demWegdort-
hin zeigen.

Der Dokumentarfilm„DasVermächt-
nis“ (SWR, 21. Januar) über Sieähnelte
filmisch einer rührseligen Homestory,
wieich finde. Sie haben aber noch nie
zwischenKunst und Leben getrennt. Sie
selbst wirken in demStreifen putzmun-
ter. Wie ging es Ihnen jetzt mit diesem
Film, der doch arg finalwirkt?
Ichfand denFilmdann eigentlichganz
schön. Man mussauchimmer den Gestal-
tungswillen derFilmkünstler berücksich-
tigen. Die hatten sichmit demTiteleine
gewisse Hypothek aufgeladen.„Vermächt-

nis“ istjaeine ziemlicheBegriffsblähung.
Man denkt sofortanPsycho-Grusel in
Artder siebziger Jahre.Nun–die Leute
warensehr liebenswürdig, aber wie unter
einem Zwangsdiktatstehend:Wo istdas
Bild des leidendenKünstlers?Aber las-
sen Sie unsvonwas anderem sprechen.

Arnold Schönbergwurde sofort nach der
Machtergreifung durchdie National-
sozialisten 1933 als Kompositionspro-
fessor an derBerliner Musikhochschule
entlassen, weil er Jude war. Ist es nicht
lange schon an der Zeit einer der beiden
BerlinerMusikhochschulen den Namen
Arnold Schönberg zu geben?
DiesenVorschlag habeich bereitsvor
Jahren1991 gemacht, alsman mit dem
Gedanken spielte, die Musikhochschu-
len Berlinszuvereinigen. Ic hwurde da-
malsindie Struktur -und Berufungs-
kommission berufen. Der politischeWil-
le fand andereWege.Nach wievor aber
halte ichden Namen „HannsEisler“ für
die Hochschule im ehemaligen Ostteil
Berlinsfür die auch historischrichtige
Bezeichnung.

Wir feiern Ludwig Beethovens 250. Ge-
burtstag.Wie stehtder wohl meistaufge-
führte deutsche Komponist derGegen-
wartWolfgangRihm zumwohl meist-
aufgeführten deutschen Komponisten
der Vergangenheit Ludwig vanBeetho-
ven:Schaut Wolfgang Rihmdurch die
Brahms-Brille auf den Schöpfer der
„Fünften“ und der „Neunten“ sowie von
32 Klaviersonaten?

BrucknersBrille sollja in Beethovens Sarg
liegen. Als 1888der Sarggeöffnetwurde,
hat Brucknerwohlallzu neugierig hinein-
geschaut. UndBrahms? DerVerbleibvon
dessen Brilleist mir nichtgeläufig. Ichsel-
bertrage nochkeine Augengläser. Wie
also schauen auf Beethoven? ZurZeitist er
kaum zu erkennen:Dampf,Nebel, Qualm
–ständigwerden neueOpferaltäre errich-
tet, au fdenen ergeschlachtetwerde nsoll.
Neulic hhörte ichvon Plänen,die relativ
komplizierte Rhythmik desschönen Lie-
desmit dem Schiller-Text imFinale der
„Neunten“ zu vereinfac hen, beziehungs-
weise dasStück so zuverlangsamen,dass
es auchfür Laien und Kinder singbar wird.
Wahrscheinlich habe ichmichhoffentlich
verhört. In derTatist es aberauchziemlich
frustrierend, dassman,umendlich zu dem
„Song“ zu gelangen, eine lange Weile
durchseltsamunbekannte Musikhindurch
warten muss.Nein, es hatkeineNot,zur
„Rettung“ Beethovens aufzurufen. Seine
Kunstist vonenormer Widerstandskraft.
Sehrwetterbeständig.Waskönnen wirvon
ihmlernen? Subjektivität undVerausga-
bung, zartesteDetail-Fürsorge,ungeschütz-
tenForm-Trieb, AngstfreiheitauchinEng-
pässen,Freudeander generativenGewalt
natü rlichen Wuchses, irrenHumor, die Fä-
higkeit, Zeit wi eeine Substanzzustauen
und loszulassen,Selbstvergessenheit, die
Einheit desWidersprüchlichen auszuhal-
ten, plötzlichzuenden.–Undplötzlich
wieder zu beginnen.Aber dasist nichtal-
les.Man mussihm wohl zuhören.

Das GesprächführteAchim Heidenreich.

Ein Georgier,Jahrgang 1927, dessen
vonDeutschland begeisterter Vateraus
dem sowjetischgewordenen Heimat-
landgeflohenwar, um sichinBerlin nie-
derzulassen–dasseseinfachereAuspi-
zien für eine Biographie im zwanzigs-
tenJahrhundertgibt, kann man anneh-
men.Undsicher hat die Entscheidung
vonGiwi MargwelaschwilisVater, 1945
aus dem sicheren Salzburgkurzvor
Kriegsende ausgerechnetnachBerlin
zu gehen und seinen siebzehnjährigen,
seit langem mutterlosen Sohn dorthin
mitzunehmen, dessen Lebensweg nicht
erleichtert.
Der Vaterverschwand in einem sow-
jetischen Arbeitslager,der Sohn wurde
bald nachGeorgien deportiert,wo er
allmählichsein Deutschumdie Landes-
sprache ergänzte, und das in einerWei-
se, die seine auf deutschgeschriebenen
literarischenTexteprägensollte. Es ist
eine Sprache zwischenden Welten, die
elegant ist, aber nieglatt, im Bewusst-
sein der Möglichkeiten, die Dinge
anderszusagen, und diese oftgenug
nutzend.Fürsein großes, autobiogra-
phischgrundiertes, mehrbändigesRo-
manwerk um einen „KapitänWakusch“
bedeutet das durchaus,dassman si ch le-
send um einenZugang erst bemühen
muss, dann aber mit einer unverg leichli-
chen Perspektivebelohnt wird.
Margwelaschwili, der das sowjeti-
sche Georgien erst kurzvorder Wende
wiederverlassen durfte, nachBerlin
zog und 2011 dann dochwieder zurück
nachTiflis,warnicht nur in dergeorgi-
schen Literatur ein Solitär,dortaber
auf augenfälligeWeise. Mit seinenTex-
ten, die anarchisch, spöttischund voller
Ironie dieZeitläufte betrachteten (und
nicht zuletzt diegroteskenWendungen
der eigenen Biographie),stand erquer
zu allen Richtungen undfand so auch
nicht die breiten Leserschaften, die
etwaAkaMorchiladze oder OtarTschi-
ladse für sichgewinnenkonnten, und
als er sich–wie einstTschiladse mit sei-
nemRoman „Der Gartender Dariat-
schangi“–mit demRoman „Die Medea
vonKolchis inKolchis“ dem bekanntes-

tenMythenstoff Georgiens zuwandte,
geschah das auf derartgespielte undge-
brocheneWeise, dassdaraus die Ge-
schichteeinerRomanfigur wurde, die
überall denkünstlerischen und literari-
schenAbbildernihrer selbstbegegnet
und sichmit ihrem Schöpfer anlegt.
Giwi Margwelaschwili, seit 1994
deutscher Staatsbürger und vielfachaus-
gezeichnet,warjahrelang eingefragter
Gesprächspartner für deutsche Journa-
listenund andereNeugi erige, die sich
vonihm Auskunftüber dieWirren sei-
ner Biographie und zunehmendauch
über die literarischenVerhältnisse in
Georgien erhofften, diesvorallem, je
näher dergeorgische Gastlandauftritt
im Rahmen derFrankfurterBuchmesse
im Oktober 2018 rückte. Sie wurden
nicht enttäuscht,wenn sie sichdarauf
einließen,den hakenschlagenden Ge-
danken desAutors zu folgen, um am
Endereich belohnt die mit Büchern
und ManuskriptenüberfüllteWohnung
zu verlassen. Eineganze Reihe vonwei-
teren„Kapitän Wakusch“-Romanen
harren dort, so heißt es, nochder Veröf-
fentlichung.Gestern istGiwiMargwe-
laschwiliinTiflis gestorben. Er wurde
92 Jahrealt. TILMAN SPRECKELSEN

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Giwi Margwelaschwili FotoBrigitteFriedrich

Die deutschsprachigeAusgabevonWoo-
dy Allens Biographiewirdwie geplant
am 7. April beiRowohlt erscheinen.
„So können sichinteressierte Leserin-
nen und Leser ihr eigenesUrteil bil-
den“, hieß es in einer Mitteilung. Die
Veröffentlichungwarwegen der unge-

klärtenRechtelageunsicher,nachdem
der amerikanischeVerlag Hachettedie
Memoiren desNewYorkerRegisseurs
nachProtesten aus dem Programmge-
nommen hatte(F.A.Z. vom7.März).
Die entstandene Debatte,die „grund-
sätzlicheFragen desVerlegensvonBü-
chernimSpannungsfeldvonEthik und
Meinungsfreiheit“ berühre, so der noch
amtierendeVerleger Florian Illies,wol-
le derVerlag weiterführen und plane
eineVeranstaltung in Berlin zu diesem
Thema in naherZukunft. F.A.Z.

Fortschritt? Vielleicht bei Frisuren vonPopstars


Der KomponistWolfgang Rihm überWorthülsen,Fake News,BrucknersBrille und Beethovens ir renHumor


Woody Allens


Bucherscheint


Wolfgang Rihm, zu Hause inKarlsruhe: „Neu aufkeimendeNaivität soll man nicht entmutigen.“ FotoAlexander Hammer

Medea legt sich


mit ihremSchöpfe ran


ZumTod des SchriftstellersGiwi Margwelaschwili

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