Frankfurter Allgemeine Zeitung - 14.03.2020

(Nancy Kaufman) #1

SEITE 6·SAMSTAG, 14.MÄRZ2020·NR.63 Politik FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


E


ineswolltePremierministerBo-
risJohnson in derPost-Brexit-
Phase unbedingtvermeiden: wie
seineVorgängerin Theresa May
in denVerhandlungen mit der EU in die
Defensivezugeraten. Anfang derWoche
kündigtedie britischeRegierung an, sie
werdeinKürze einen umfassenden Ent-
wurffür einen Handelsvertragvorlegen,
nochvor der nächstenRundekommende
Woche. Mit einem am EU-Kanada-Abkom-
men angelehntenTextwollteJohnsonsich
einenStartvorteil verschaffen. Dochden
hat nun die EU.Schon amFreitagmorgen
verschickte Chefunterhändler Michel Bar-
nier seinenEntwurffür das–nicht nur
Handel, sondernauch Sicherheitumfas-
sende–Abkommen an die Mitgliedstaa-
ten, das EU-Parlament und London.
Der Entwurfliegt dieserZeitungvor.
Barnier legt auf insgesamt 458 Seiten die
vonder EUgewünschteumfassendePart-
nerschaftmit demVereinigtenKönigreich
dar.Von der ersten bis zur letzten Seite
zieht sicheine klareBotschaft: Die EU
will dieVerhandlungen aus einerPosition
der Stärke heraus führen. Nicht London,
sondernBrüssel legt die Bedingungen für
das künfti ge Verhältnisfest. Geradezu
exemplarischdafür istdas Kapitel zumfai-
renWettbewerb, dem heikelstenVerhand-
lungspunkt. Die EU willkeinerlei „Dum-
ping“ akzeptieren.Wasnachihrer Lesart
heißt, dassdie Briten die EU-Vorgaben in
denFeldern„Staatshilfen,Wettbewerbs-
recht, staatseigeneUnternehmen, Steu-
ern, sozialeund arbeitsrechtlicheStan-
dards,Umweltstandardsund beimKampf
gegenden Klimawandel“ beibehalten.
Damitnicht genug,auchkünftigeStan-
dards undRegeln sollendie Briten über-
nehmen. Zwar soll es eine ArtKonsulta-
tionsverfahren dafürgeben, und London
wäre nicht dazugezwungen. Sollte es aber
ausscheren,könntedie EU „angemessene

Gegenmaßnahmen“verhängen, alsoTeile
des Abkommens aufheben. Ganz neben-
bei wirdklargestellt,dassdas sogenannte
Vorsorgeprinzip unantastbar sei. Die EU
könntedaherweiterhinvorsorglichund
ohne wissenschaftlich umfassendaner-
kannteBelege die Einfuhrgentechnisch
veränderter Organismen odervon „Chlor-
hühnchen“ unterbinden. Dieser Punkt hat-
te schon dieVerhandlungen über einFrei-
handelsabkommen mit den Vereinigten
Staaten belastet.
Barnier buchstabiertdamit dievonden
MitgliedstaatenfestgelegteVerhandlungs-
liniekonsequent aus.FürJohnson istdas
eine Provokation. Er hat nämlich schon
ausgeschlossen, dassdas Königreichsich
weiterhin den bestehenden EU-Standards
unterwirft,von neuenganz zu schweigen.
Das giltauchfür denZugang der Europäer
zu britischen Fischgründen, daszweite
heikle Handelsthema. Johnson will denZu-
gang jährlich neu aushandeln,während
die EU auf einen ungehindertenZugang
zu britischen Gewässernpocht.Bis zum


  1. Dezemberjeden Jahres sollen beide
    Seitengemeinsam dieFangquotenfür ihre
    Gewässer festlegen, sosteht es im Ent-
    wurf.
    Das istaber nicht als offene Verhan d-
    lunggedacht, sondern sollwie schon bis-
    her auf Basiswissenschaftlicher Empfeh-
    lungengeschehen.Vorallem abersteht in
    dem Entwurf, dassdie Fischer der EU
    auchohne eine Einigungweiter in briti-
    schen Gewässernfischen dürfen. Sechzig


SeitenvonBarniersEntwurfbeziehen sich
auf diekünftig eSicherheitspartnerschaft.
GleichamAnfangsteht, dasssichdie Zu-
sammenarbeit nicht aufFelder bezieht,
die „exklusiv“ für EU-Mitglieder sind. Das
hat gravierendeFolgen. So soll Londonkei-
nerleiZugang mehr zurgrößten und wich-
tigstenDatenbank bekommen, dem Schen-
gener Informationssystem. Das enthält
rund achtzig Millionen Datensätze zuVer-
brechen in den Mitgliedstaaten,vonge-
stohlenenFahrzeugenund Papieren biszu
gesuchtenPersonen.Es wird bei jeder Ein-
reisekontrolle in die EU abgefragt, und das
Vereinigte Königreichwar bisher mit
mehr als 500 MillionenAbfragen im Jahr
einer dergrößten Nutzer.Nun wirdSchen-
genimEntwurfnicht einmal erwähnt.
Die künftig nochmöglicheZusammen-
arbeitsteht unter zwei wichtigen Vorbehal-
ten. Zumeinenmussdas VereinigteKönig-
reichdie EuropäischeMenschenrechts-
charta anerkennen,eine Konvention des
Europarats,wasLondon ablehnt. Außer-
demmussdie EU-Kommission demKönig-
reichbescheinigen, dassdessen Daten-
schutzstandardsvergleichbar hochsind;
daran gibt es schon erheblicheZweifel in
Brüssel.UnterdiesenVorau ssetzungen ist
die EU bereit, mit London sicherheitsrele-
vante Daten auszutauschen. Das betrifft
DNA-Profile undFingerabdrücke (im Rah-
mendes PrümerVertrags),Fluggastdaten
sowie „operativeInformationen“. EineZu-
sammenarbeit mit denPolizei-und Justiz-
behörden der EU wirdkünftig nur noch

überVerbindungsoffizieremöglichsein.
London nimmt somit nicht mehr an derre-
gulären Bekämpfunggrenzüberschreiten-
der KriminalitätvonEuropolteil; auch
das istden Mitgliedstaatenvorbehalten.
DermitdemBrexitebenfallsendendeEu-
ropäischeHaftbefehl soll durch ein ver-
gleichbaresAbkommen zurwechselseiti-
genAuslieferungvonVerdächtigen ersetzt
werden. Darin müssen beide Seitenfestle-
gen, ob sieihreeigenenStaatsangehörigen
ausliefern; der Entwurfenthält dazukeine
abschließendeRegelung.
Die künftig eaußen- undverteidigungs-
politischeZusammenarbeitist auf 17 Sei-
tengeregelt.DieserTeil wurdevonBar-
niergesondert ausgefertigt.Die EU-Staa-
tenwollenLondon im Einzelfall anbieten,
dassessichanRüstungsprojektender Eu-
ropäischenVerteidigungsagentur und der
militärischenZusammenarbeit (Pesco) be-
teiligendarf. Ebenso soll dasKönigreich
auchkünftig an zivilen oder militärischen
Einsätzen der EUteilnehmenkönnen. Es
musssichdann aber der operativenFüh-
rung durch einen EU-Kommandeur unter-
werfen. Das codierte militärische Ortungs-
signa ldes europäischen Satellitensystems
Galileo darfLondon nur nutzen,wenn es
sichentweder am zivilenWeltraumpro-
gramm der EU beteiligt oderder EU einen
vergleichbarenZugang zu einemkünfti-
geneigenen Satellitensystem gewährt. Die
Verhandlungen mit den Briten sollen
nächste Wochefortgesetztwerden. Aller-
dings nicht in London, wie eigentlichge-
plant, sondernwohl inVideokonferenzen.

Vertreterder drei Oppositionsparteien
FDP,Grüne und Linkehaben amFreitag
einenGesetzesentwurfzur Ablösungder
sogenannten altrechtlichenStaatsleistun-
genandie Kirchen vorgestellt.Demnach
sollendie Länder „die auf Gesetz,Vertrag
oder besonderenRechtstiteln beruhen-
den“ jährlichenZahlungen an dieReligi-
onsgesellschaften in denkommenden Jah-
ren„durch einmaligeZahlungen oder
durchRatenzahlungen“ ablösen. DieFest-
legung der maximalen Höhe derAblö-
sungsleistungen soll sichandem Äquiva-
lenzprinzip orientieren. Diesem zufolge
müsstendie Länder das 18,6-Fache der
Summe an die Bistümer und Landeskir-
chen zahlen, die ihnen im Jahr 2020 an
StaatsleistungenvonGesetzeswegenzu-
steht.Legt man für das laufende Jahr eine
Gesamtsummevonetwa560 Millionen
Eurozugrunde,kämen auf die Länder
Forderungen in Höhevonmaximal gut
zehn Milliarden Eurozu–allerdings über
einenZeitraumvonetwa25Jahren.
Der Gesetzentwurf siehtvor, dassdie
Länder innerhalbvonfünf Jahren nach
dem Inkrafttreten des Grundsätzegeset-
zes eigeneVereinbarungen mit den jewei-
ligen Schuldnerntreffen.Die eigentliche
Ablösung,die auchdurch andereLeistun-
genals Geldleistungen und ingeringerer
Höheerfolgenkann, soll dann nochein-
mal zwanzig JahreinAnspruchnehmen.
Bis dahin, so der Entwurf, sind die eigent-
lichenStaatsleistungen an die Kirchen
weiter zu zahlen, handele es sichdochim
weites tenSinn um eineKompensation

für denWert des verlorenen Eigentums in
Gestalt vonLändereien und Immobilien.
Die religionspolitischen Sprecher derRe-
gierungsfraktionen haben sichden Geset-
zesentwurf,den diereligionspolitischen
SprecherStefanRuppert(FDP),Konstan-
tin vonNotz(Grüne) und Christine Buch-
holz (Linke) erarbeitet haben, bislang
nicht zu eigengemacht.
Dassesüberhaupteines Bundesgeset-
zes zurAblösung der altrechtlichenStaats-
leistungen bedarf,geht aus Artikel 140
des Grundgesetzesvon1949 inVerbin-
dung mit Artikel 138Absatz der deut-
schenVerfassungvon1919hervor. Dieso-
genannteWeimarerReichsverfassung hat-
te vornunmehr 101 Jahren bestimmt,
dassdie Zahlungen, die sichimWesentli-
chen aus der EinziehungvonKirchenver-
mögen voneigentlichunschätzbarem
Wert zugunstender Staaten zu Beginn
des 19. Jahrhunderts ableiteten, „durch
die Landesgesetzgebung abgelöst“wer-
den müssten. „Die Grundsätze hierfür
stellt dasReichauf.“
Ein entsprechendes Grundsätzegesetz
wurde jedochwederwährend derWeima-
rerRepublik nochnach1949 durch einen
Deutschen Bundestagbeschlossen. Da-
her sind die Länderbis heuteauf der Ba-
sis vonStaatskirchenverträgen in der
Pflicht, den Kirchen für den zumTeil vor
mehr als zweihundertJahren entstande-
nen Schaden einenAusgleichzuzahlen.
Die konkrete Höhe derStaatsleistungen
variiertindes absolut wie proBürgervon
Land zu Land beträchtlich. Ähnlichver-

hält es sichmit der Bedeutung derStaats-
leistungen in den Etats der Bistümer und
Landeskirchen. Für viele katholische Di-
özesen,vor allem inNordrhein-Westfa-
len, sind dieZahlungen des Landesver-
gleichsweise unbedeutend. In Mittel-
deutschland hingegensind vorallem die
evangelischen Landeskirchen starkvon
Staatsleistungen abhängig.Würden diese
nachdem 18,6-fachen Satz entschädigt,
wie er ausParagraph 13Absatz 2des Be-
wertungsgesetzes für Ermittlung desKa-
pitalwertesfür wiederkehrendeNutzun-
genund Leistungen abgeleitet wird, soll-
tensie dereinstinder Lagesein, den ab-
sehbarenAusfall derfortlaufendenZah-
lungen durch Kapital- oder andereErträ-
ge auszugleichen.
Der Initiator des Gesetzesentwurfs,
der scheidende Parlamentarische Ge-
schäftsführer der FDP-Bundestagsfrak-
tion,StefanRuppert, begründete den Vor-
stoß der drei Oppositionsparteien im Bun-
destaggegenüber dieserZeitung mit den
Worten, mit derAblösungder Staatsleis-
tungen würde nachmehr als 100 Jahren
der Auftragdes Religionsverfassungs-
rechts„zum allseitigenNutzen“ erfüllt.
„Das Gesetz erreicht dieVollendung sei-
ner weltanschaulichen Neutralität des
Staates, erfüllt einen kirchlichenRechts-
anspruchund führtdochmittelfristig zur
Einsparung vonMitteln“, so Ruppert.
NachseinenWorten herrschtinder Bun-
desrepublik erst nachder Ablösung der
Staatsleistungen echte Gleichberechti-
gung zwischen allen Religionsgemein-

schaftenuntereinander und auchgegen-
über den Menschen, diekeiner Kirche
oder Religionsgemeinschaftangehören.
Das stärkt edie Glaubwürdigkeit desStaa-
tesund der Kirchen gleichermaßen und
trügeauchdem Anliegender Menschen
Rechnung, diekeiner Kircheangehören,
finanziertensie dochbislang auchdurch
ihreSteuerndie Kirchen.
Der Gesetzentwurf, soRuppert, sei in
langen Gesprächen mit Vertretern der
Kirchen, aber auchmit Politikernvon
CDU,CSU und SPD entstanden. Grund-
legende Einwände seienvonkeiner Seite
erhoben worden. Der Bevollmächtigte
des Ratesder Evangelischen Kirchein
Deutschland (EKD) bei der Bundesrepu-
blik Deutschland, Martin Dutzmann,be-
grüßtegegenüber dieserZeitung den Ge-
setzentwurfals „guteGrundlagefür weite-
re Gespräche“. Die EKDwerdeandiesen
„konstruktiv mitwirken“. Allerdings, so
Dutzmann, müssten die Länderund die
Landeskirchen in diese Gespräche einbe-
zogenwerden. Fürdie katholische Kirche
in Deutschland äußerte sichdie Presse-
stelle der Deutschen Bischofskonferenz
mit denWorten, der Gesetzentwurf biete
„hilfreiche Anknüpfungspunkte“für wei-
tere Erörterungen.Zu diesen sollten die
Vertreterder Kirchen und der Länder hin-
zugezogen werden. Der religionspoliti-
sche Sprecher der Grünen,vonNotz, äu-
ßerte wiederumdie Erwartung, dassdie
Regierungsparteien denVerfassungsauf-
trag zurAblösungvonStaatsleistungen
nun endlichannähmen und entschlossen
umsetzten.

Startvorteil Europäische Union


FregattesollPartner


unterstützen


VerteidigungsministerinAnnegret
Kramp-Karrenbauer (CDU) hat eine
Fregatteder Marine in den indisch-
pazifischenRaum entsandt.Damit
folgt die Ministerinihrer Ankündi-
gung, dassDeutschland „klareZei-
chen der Solidarität“ anPartner in
der Region sendet, die sichteilweise
vonChina in ihrer Handels- und
Handlungsfreiheit bedroht fühlen.
Die Fregatte „Hamburg“ soll Anfang
Mai zu einerFahrtstarten, die sie auf
einer fünfmonatigenAusbildungsrei-
se bis nachAustralien führen wird.
Ausdrücklichnichtgeplant isteine
Fahrtins Chinesische Meer und die
nordpazifischeRegion.Dorttragen
vorallem die Vereinigten Staaten
und China einewachsende Rivalität
aus. pca.

Mitglied interroristischer


Vereinigungverurteilt


Ein 33 Jahrealter Syrer istvom Ober-
landesgericht Cellewegender Mit-
gliedschaftineiner ausländischen ter-
roristischenVereinigung zu einer Ge-
samtfreiheitsstrafevon drei Jahren
und sechs Monatenverurteilt wor-
den. Der Angeklagtehattegestan-
den, sichAnfang 2013 in Syrien einer
Gruppierung namens „LiwaAl-Izza
Lil-lah“ angeschlossen zu haben. Das
teilteein Sprecher des Oberlandesge-
richts amFreitag mit.Das Urteil ist
nochnichtsrechtskräftig, eineRevisi-
on istmöglich. (Az.:4StS 1/19) Der
Angeklagte hatteangegeben, wäh-
rend des syrischen Bürgerkriegs mit
einem Schnellfeuergewehr bewaffnet
an Kampfhandlungengegen das As-
sad-Regimeteilgenommen zu haben.
Im Februar 2014 setzteersichdem-
nachvon der Gruppierung ab und
floh in dieTürkei. dpa

GemeinsamePatrouillen


vonTürkeiundRussland


Die Türkei undRussland haben sich
nachAngabenaus Ankara auf gemein-
samePatrouillen in der syrischen Pro-
vinz Idlibverständigt.„Beide Seiten
haben dieVorlageunterzeichnet, und
diese istinKraft getreten“, sagteder
türkischeVerteidigungsministerHulu-
si Akar amFreitagder amtlichen türki-
schenNachrichtenagentur Anadolu.
Die gemeinsamenPatrouillen sollen
demnachamSonntag beginnen. Ge-
meinsam mit einerrussischen Militär-
delegation wurden in Ankaraseit
Dienstag die Details einerFeuerpause
ausgearbeitet.Die Feuerpause hatten
der türkische PräsidentRecepTayyip
Erdogan und derrussische Staatschef
WladimirPutin am 5. MärzinMoskau
ausgehandelt.Die Vereinbarung sieht
einen Sicherheitskorridorgemeinsa-
mer türkisch-russischer Patrouillen
entlangder wichtigen Hauptverkehrs-
straßeM4inder nordwestsyrischen
Provinz vor. Akar bekräftigteden
WunschAnkaras, dassdie Feuerpau-
se „von Dauer“ sei. AFP

Boris Pistorius 60


Der niedersächsische Innenminister
Boris Pistorius zählt zur kleinerwer-
dendenZahl vonLandespolitikern,
derenWirkungskreis bis in die Bun-
despolitikausgreift. Als Sprecher der
SPD-geführtenInnenministerien in
den Ländernhat sichPistorius in den
vergangenen Jahren alsroter Gegen-
spieler des schwarzen Bundesinnen-
ministers etabliert. Der frühereOber-
bürgermeister vonOsnabrückver-
folgt dabei eine klareMarschrichtung:
Sozialdemokratische Innenpolitik hat
darauf zu achten, dasskeinegesell-
schaftliche Gruppestigmatisiertwird.
Sie wendetsichaber zugleichebenso
entschlossen wiekonservativePoliti-
kergegen Gesetzesübertretungen. Pis-
torius setzt denvonihm befürworte-
tenstarkenStaat auchgernöffentlich-
keitswirksam in Szene.Wenn der In-
nenminister irgendwozupackenlässt,
sind vermummteSpezialkräfte mit
Maschinenpistolen in derRegelnicht
fern.Mit seinem offensivenPolitikstil
hat Pistorius erheblich zum Erfolg der
Niedersachsen-SPD in dervergange-
nen Landtagswahl beigetragen. Minis-
terpräsidentStephanWeil und die bei-
den MinisterOlaf Lies und Boris Pisto-
rius bildeten im Wahlkampf 2017
eineTroika, wie siekaum nochein an-
derer Landesverband der Partei auf-
bietenkann. In den zurückliegenden
Monaten zeichnetensichindiesem
Dreiergefügeallerdings Risse ab. Pis-
torius bereiteteseineKandidatur für
den SPD-Bundesvorsitz ohneRück-
sicht auf StephanWeil vor. Derge-
planteSprung des Innenministers
nachBerlin misslang jedoch. An die-
sem Samstag wirdBoris Pistorius
sechzig Jahrealt.(bin.)


mwe. BERLIN.Seuchen sind in der Ge-
schichteimmer schon auchein Politikum
gewesen. Ausder massenhaftenInfektion
mit dem Coronavirusversucht nun die
AfD,Kapital zu schlagen.Neben Partei-
chef JörgMeuthenverficht vorallem Ali-
ce Weidel dieStrategie, die Krisegegen
die Bundesregierung und Angela Merkel
zu instrumentalisieren. Nachdem die
Fraktionsvorsitzende zunächstdie Forde-
rung erhoben hatte,die Grenzen zu schlie-
ßen, setzt sie jetzt auf denVorwurf, die
Regierung habe zu spätreagiert. Der Aus-
bruc hdes Virussei „zunächstinChina

und später auchinItalienvöllig unter-
schätzt“worden, schriebWeidel amFrei-
tagineiner Mitteilung. Das Handeln der
Bundesregierung sei „unverantwortlich
undfahrlässig“, der Schutz „aller Men-
schen in unserem Land“werde„bewusst
vernachlässigt“.Um zu untermauern, wie
unzureichendKanzlerin undRegierung
handelten,greiftWeidel auf eine Risiko-
analyseaus dem Jahre 2012 zurück, die
die Bundesregierung zu einer fiktiven
Pandemie mit einemVirus„Modi-SARS“
erstellt hatte. Tatsächlich weistdas
Worst-Case-Szenario Ähnlichkeiten mit
der heutigen Situation auf, aber aucher-
hebliche Unterschiede. So wurde etwa
voneiner Mortalitätsratevon zehn Pro-
zent ausgegangen, die mit jener des Coro-
navirus nichts zu tun hat.
Tatsächlichsind die Meinungen in der
AfDgeteilt, ob und inwelcherWeise die

Corona-Krisestrategischgegen die Bun-
desregierunggewendetwerdenkann. Wei-
dels Einlassungen in der Sitzung der Bun-
destagsfraktion zum Thema Corona wur-
den vonTeilnehmern als hysterischemp-
funden, sie selbststehe bei dem Thema
unter hohemAngstdruck, heißt es. Mitih-
rerHaltung seisie in derFraktion aber iso-
liert. ZwargelteKritik an der Bundesre-
gierung in einzelnenFragen als berech-
tigt, dochsei die Mehrheitdafür,konstruk-
tiveForderungen zuformulieren.
Auffällig istjedenfalls, dassanderefüh-
rende AfD-Politiker sichWeidelsFunda-
mentalkritik nicht anschließen. Sofor-
dertetwaParteichefTino Chrupalla eine
erweiter te Verdienstausfallregelung für
Eltern, diewegendes VirusihreKinder
zu Hause betreuen müssen,wenn Schulen
und Kindergärten schließen. Bisher sieht
der entsprechendeParagraph des Infekti-

onsschutzgesetzes nur einenVerdienst-
ausfall für infizierte Arbeitnehmervor.
Während Weidel Corona zum Symptom
einer politischen Krise der Bundesrepu-
blik umdeuten will, setzt Chrupalla auf
praktischeVorschläge, in diesemFall un-
terdem Slogan „Helftden Eltern!“.
Schon am Donnerstag hatten unter-
schiedliche Sichtweisen in der AfD-Spitze
zur Absageeiner PresseauftrittsvonChru-
palla undFraktionschef Alexander Gau-
landgeführt.Während Gauland die Ent-
scheidung des Verfassungsschutzes ent-
schieden kritisierenwollte, lehnteesChru-
palla nachInformationen dieserZeitung
ab, der Sache durch eineKommentierung
nochmehr Bedeutung zugeben. Denn die
Beobachtung der AfD durchden Verfas-
sungsschutz sei in der Bevölkerung nega-
tiv besetzt und damit ein Thema, bei dem
manwenig gewinnenkönne.

Wichtiges inKürze


sat.WASHINGTON.Der amerikani-
sche Präsident DonaldTrumphat we-
gender Ausbreitung des Coronavirus
in denVereinigtenStaaten einen na-
tionalenNotstand ausgerufen. Durch
den Schritt würden Bundesmittel in
Höhevonbis zu 50 Milliarden Dollar
zur Bekämpfung derPandemie freige-
setzt, sagteTrump am Freitag in einer
Pressekonferenz imRosengartendes
Weißen Hauses. Er erteiltezudem sei-
nem Gesundheitsminister AlexAzar
weitgehendeVollmachten, um Ärzten
und KrankenhäusernFlexibilität bei
der Bewältigung der Krise zugeben.
Mitarbeiter des Präsidenten hatten
zuvor erläutert, dassesgeplant sei,
den „StaffordAct“ zu nutzen, ein Ge-
setz, durch das Katstrophenhilfen für
die Bundesstaaten und Kommunen
aus einemFonds freigegebenwerden
können. Dies sei nötig, um die Ge-
sundheitsfürsorge zu sichern. Das Ge-
setz aus dem Jahr 1974 überträgtder
KatastrophenschutzbehördeFEMA
die Zuständigkeit, die Hilfsmaßnah-
men mit den Gouverneuren und Bür-
germeisternzukoordinieren. Einen
landesweiten Ausnahmezustand, in
demetwa Grundrechteaußer Kraftge-
setzt werden, bedeutet der Schritt
nicht.
Unabhängigvonder Notstandser-
klärung setzt dieRegierung auf eine
„Public PrivatePartnership“, um
mehr potentiell infiziertePersonen
auf dasVirustestenzukönnen. Ge-
plant sei es, mobileTestgeräte auf
ParkplätzenvonSupermärkten anzu-
bringen. Dortkönnten sichPersonen,
die Symptome zeigten, selbsttesten
lassen.Trumpzeigtesichzuversicht-
lich, dassdie Engpässe schonvonder
nächstenWocheanüberwundenwer-
den könnten.
Finanzminister StevenMnuchin
undNancyPelosi, die „Sprecherin“
des Repräsentantenhauses,konnten
bis zumFreitagabendkeine Einigung
über ein Maßnahmenpaket verkün-
den, über das beide Seiten seitTagen
verhandeln.Trumpsagte, zwischen-
zeitlichhabe es so ausgesehen, als
werdeman sichverständigen. Doch
machten die Demokraten nicht das,
waserforderlich sei.Pelosi will zum ei-
nen, dassdie Testsallen Amerika-
nern, die diesen bräuchten,kostenlos
zur Verfügunggestellt werden –auch
jenen, die nicht krankenversichert
sind. Zum anderenfordertsie, dass
Personen, die Symptome zeigten,
ohne Gehaltseinbußen der Arbeit
fernbleibenkönnen, da dies im öffent-
lichen Interesse sei. Die Demokraten
befürchten, dassviele Amerikaner
sichauchaus finanziellen Gründen
nichttesten ließen. Offiziell gibt es
derzeit 1600 Covid-19-Fälle in den
VereinigtenStaaten. Laut der Behör-
de für Seuchenbekämpfung CDCgab
es bisher allerdings erst weniger als
14 000Tests.
Trumpgab erstmals zu erkennen,
dasserdochbereit sei, sichselbsttes-
tenzulassen, nachdem er amWochen-
endeKontakt zum Pressesprecher des
brasilianischen Präsidenten Jair Bol-
sonarohatte. Dieserwar später posi-
tiv getestetworden.


Barnier präsentiertden


Entwurf fürdie künfti ge


Partnerschaftmit


London.Aufjeder Seite


wirdklar: Brüssellegt


die Bedingungenfest.


VonHendrikKafsackund


Thomas Gutschker,


Brüssel


Position derStärke:Barnier (rechts) und DavidFrost, Europa-BeratervonPremierminister Johnson, am 2. MärzinBrüssel Fotodpa

rit. ZÜRICH. Die Schweiz ergreift
nochdrastischereMaßnahmen, um
das Coronavirus einzudämmen.Un-
terRückgriff auf Notrecht hat dieRe-
gierung in BernamFreitagnachmit-
tagverfügt, dassbis zum 30. April
alle Veranstaltungen mit mehr als
100 Personenverbotensind. Bisher
galt einVerbotfür Versammlungen
mit mehr als 1000 Menschen. InRe-
staurants,Barsund Diskotheken dür-
fensichnachdem Willen derRegie-
rung nunmehr maximal 50Personen
aufhalten, einschließlich des Service-
Personals.
An den Schulen soll bis Anfang
Aprilkein Unterricht mehrstattfin-
den.Für die Grundschulen organisie-
rendie Kantone allerdings Betreu-
ungsangebote,umzuverhindern,
dassdie Kindervonihren Großeltern
betreut werden. ÄltereMenschen
sind besondersdurch denVirusge-
fährde t. A ußerdem beschlossdie Re-
gierung, die Einreise aus Italienwei-
tereinzuschränken. Bis aufweiteres
dürfennur nochSchweizer Bürgerso-
wie Personen mit einerAufenthalts-
genehmigungfür die Schweiz in die
Eidgenossenschafteinreisen.Auslän-
dern, die aus beruflichen Gründen in
die Schweizkommenwollen, istdie
Einreise allerdingsweiterhin erlaubt.
An ihren Grenzen wollen die
Schweizervonsofor tanwiederKon-
trollen durchführen. Menschen, die äl-
terals 65 Jahresind, wirdempfohlen,
öffentlicheVerkehrsmittel zu meiden.
Arbeitgeber sollenPendlernermögli-
chen, vonzuHause zu arbeiten. Als
Soforthilfefür dieWirtschaftstelltdie
Regierung bis zu zehn Milliarden
Franken zurVerfügung. Dazu redu-
ziertsie dieKarenzfristfür Kurzarbeit
auf einenTag. DieUnternehmen müs-
sen so nur den Arbeitsausfallvonei-
nemTagselbsttragen,bevor ihnen
Unterstützung zusteht.

Werden Staatsleistungen für Kirchen abgelöst?


Gesetzentwurfvon Grünen, FDP und Linken–Bischofskonferenz und EKDgesprächsbereit /VonDaniel Deckers


Zwei Wege


Die AfD und Corona


Personalien


Drastische


Maßnahmen


in der Schweiz


Trumps


Notstand


Das Weiße Haus gibt


Bundesmittel frei

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