W
ladimir Putin bleibt, solan-
ge er eben bleiben will.
Nichts steht ihm im Weg,
nicht die Verfassung, die
er gerade ordentlich um-
schreibt. Nicht das Parlament, das ihm die
Tür für zwölf weitere Jahre im Kreml am
Dienstag aufgestoßen hat. Sicher auch
nicht das Verfassungsgericht, das Putin
der Form halber noch fragen möchte. Al-
les deutet darauf hin, dass er bis ins Jahr
2036 Präsident bleiben kann, zwölf Jahre
länger, als es das heutige Recht erlaubt. Er
wäre dann 84 Jahre alt.
Wer sich ein Russland ohne Putin
wünscht, muss nun länger warten. Faire
Wahlen sind unwahrscheinlich, solange
Putin antritt. Wer sich nach Wandel und
Freiheit sehnt, der klammerte sich bisher
an das Jahr 2024. Nach jetzigem Recht en-
dete Putins Präsidentschaft dann. Doch
diese Frist ist nun wohl obsolet, die Hoff-
nung auf ein demokratischeres Russland
nicht mehr realistisch. Putins Schritt ist
daher nicht völlig ohne Risiko. Die Aus-
sicht auf weitere zwölf Jahre mit ihm könn-
te mehr Menschen auf die Straße bringen
als jede andere Reform bisher.
Deswegen tut Putin zwar, was er will,
aber er will es nicht so aussehen lassen. An-
ders ist das Schauspiel der vergangenen
Wochen, sind die Nebelkerzen, Volten und
falschen Versprechungen der letzten Jah-
re nicht zu erklären. So oft hat Putin er-
klärt, dass die Verfassung keinesfalls ange-
rührt werden dürfe. Trotzdem ist seit Lan-
gem spekuliert worden, dass er genau das
irgendwann tun werde, um das Ende sei-
ner Präsidentschaft aufzuschieben.
Als Wladimir Putin Mitte Januar plötz-
lich von Verfassungsänderung sprach,
hielten alle den Atem an und starrten ge-
bannt auf den Passus, der die Amtszeit rus-
sischer Präsidenten auf zwei aufeinander-
folgende Perioden begrenzt. Und tatsäch-
lich veränderte Putin diesen Absatz, aber
anders als gedacht: Zwei Amtszeiten insge-
samt, nicht mehr, das gilt nun für alle
künftigen Präsidenten – nur für ihn wohl
nicht, wie man seit diesem Dienstag weiß.
Er darf mit der neuen Verfassung noch
mal von vorne anfangen. Neue Regeln,
neues Spiel, und Putin ist der Regelma-
cher. Die 20 Jahre, die er bis zur nächsten
Wahl bereits als Präsident im Kreml ver-
bracht haben wird – sie zählen jetzt wie
Null. Putin rechnet sich die Welt, wie sie
ihm gefällt.
Damit alle anderen in Russland weiter-
hin friedlich mitspielen, soll es nicht so
aussehen, als gewinne dabei er allein. Wla-
dimir Putin hat einiges unternommen,
um von seinem persönlichen Nutzen abzu-
lenken. Er hat die Verfassungsänderung
in einem atemberaubenden Tempo durch-
gedrückt. Eine Arbeitsgruppe mit Promi-
nenten erweckte den Anschein, Russ-
lands Elite stehe hinter der Reform. Schö-
ne Sätze über Gott und Vaterlandsverteidi-
ger, die bald in der Verfassung stehen, sor-
gen für die nötige Emotionalität. Mehr als
900 Vorschläge für den Gesetzestext lenk-
ten von der Frage ab, was Putin für seine
eigene Zukunft plant. Sicher war nur: Er
wollte sich mit dieser Reform ein Denk-
mal setzen. Seine Verfassung soll die Re-
geln und Werte festschreiben, nach denen
die Russinnen und Russen nach seiner
Amtszeit leben sollen.
Für ihn schafft die Reform neue Optio-
nen. Putin hat mehrere Posten geschaf-
fen, auf denen er 84 Jahre alt werden könn-
te, er muss nicht noch mal Präsident wer-
den. Wenn er aber im Kreml bleiben will,
könnte er die neuen Vollmachten des Prä-
sidenten ein wenig länger austesten.
Dank diesen kann er etwa Verfassungs-
richter entlassen.
Die Art und den Zeitpunkt, um die stö-
rende Jahreszahl 2024 zu beseitigen, hat
Putin gut gewählt. Als das Parlament
schon zur Abstimmung bereit war, ebnete
ihm scheinbar in letzter Minute eine frühe-
re Kosmonautin den Weg. Ein Mitglied
der Promi-Arbeitsgruppe, ein Vorbild. Sie
schlug vor, die Frist für Putin zu verlän-
gern. Der ließ sich, anstatt die neuen Re-
geln offen zu diktieren, filmreif bitten.
Weil gerade das Coronavirus und der Ab-
sturz des Rubel die Menschen im Land ver-
unsichern, mag vielen die Stabilität in Ge-
stalt des Präsidenten Putin reizvoll er-
scheinen. Dem Narrativ des Kreml hilft es:
Nicht wenn Putin will, sondern wenn das
Volk es will, bleibt er länger. „Wie ihr, liebe
Freunde, entscheidet, so wird es auch
sein“, hat der Präsident gesagt.
Nur an den Wählern kann die Reform
theoretisch noch scheitern, auch deswe-
gen spielt er dieses Theater. Sie dürfen am
- April über die Verfassungsänderung
abstimmen. Die sieht viele Änderungen
vor, die einer Mehrheit der Bürgerinnen
und Bürger gefallen dürften, einen garan-
tieren Mindestlohn etwa. Am Ende ent-
scheidet wohl die Frage, wer mehr Men-
schen mobilisieren kann, Putins Schau-
spiel oder der Wunsch nach Wandel.
Vergangene Woche buhlten die Kandida-
ten für das Amt des Pariser Bürgermeis-
ters in einer Fernsehdebatte um die
Gunst der Zuschauer, und jeder der Einge-
ladenen sollte ein Foto zeigen, das sie
oder er mit Frankreichs Hauptstadt ver-
bindet. Alle präsentierten etwas Schönes
- ein Café, den Hügel von Montmartre,
das Ufer der Seine. Alle, nur Rachida Dati
nicht. Dati zeigte den „Crackhügel“. Einen
heruntergekommenen Park am nördli-
chen Rand der Stadt, in dem alle sozialen
Probleme der Stadt zusammenkommen.
Drogendealer, Obdachlose und Flüchtlin-
ge kauern zwischen kleinen Zelten. Der
Crackhügel ist zum Symbol einer Stadt ge-
worden, die immer teurer wird und die
Schwachen sich selbst überlässt. Bezie-
hungsweise, um in der Logik Datis zu blei-
ben, zum Symbol einer Stadt, in der die
Bürger sich nicht mehr sicher fühlen.
Als Rachida Dati vergangenen Novem-
ber zur Paris-Kandidatin der Republika-
ner gekürt wurde, hatte sie eher etwas
von einer Untoten. Ihre Parteikollegen re-
deten über die 54-Jährige ungefähr so
schlecht, wie der Rest des Landes über die
gesamte Partei. Die Republikaner und Da-
ti schienen vor allen Dingen gemeinsam
zu haben, dass ihre beste Zeit längst hin-
ter ihnen lag. 2007 wurde Nicolas Sarkozy
Präsident und stellte Dati an die Spitze
des Justizministeriums. Es waren die
Blingbling- und Piffpaff-Jahre. Sarkozy
feierte mit Milliardären, Dati posierte in
Designerkleidern. Sarkozy versuchte, ei-
nen Abschiebe-Rekord aufzustellen, Dati
schlug vor, bereits Zwölfjährige zu Haft-
strafen zu verurteilen. Inzwischen, 13 Jah-
re später, ist in der politischen Landschaft
kaum noch Platz für die Republikaner.
Konservative Ideen werden von Präsident
Emmanuel Macron vertreten, radikalnati-
onalistische von seiner Kontrahentin Ma-
rine Le Pen. So weit die Theorie. Die Pra-
xis lautet: Nur weil die Partei tot ist, sind
ihre Wähler nicht verschwunden. Und in
Paris wirkt es, als hätten sie nur darauf ge-
wartet, dass sich jemand zu ihrer Vor-
kämpferin erklärt.
Innerhalb von fünf Monaten hat sich
Dati in den Umfragen von 13 auf 24 Pro-
zent hochgearbeitet. Das Meinungsfor-
schungsinstitut Ifop führte sie sogar
schon ein Mal auf Platz eins, vor der amtie-
renden Bürgermeisterin Anne Hidalgo.
Wer Dati wählt, der hat genug von dem
Versprechen, Paris könne eine grüne
Stadt werden. Der will nicht neue Radwe-
ge, sondern mit dem Auto nicht mehr im
Stau stehen. Ob sie Fahrrad fahre, wurde
Dati in der TV-Debatte der Kandidaten ge-
fragt. „Im Urlaub, ja, aber sicherlich nicht
auf der Rue de Rivoli“, antwortete Dati,
und es klang, als sei Fahrradfahren auch
ein wenig ein Angriff auf die Würde des Pa-
riser Großstadtbürgers. Ja, Dati hat sich
schon mal auf dem Fahrrad fotografieren
lassen. Aber nein, sie verunstaltete dabei
nicht ihre Frisur mit einem Helm.
Die Geschichten, die man über Dati
hört, haben sich nicht geändert, seit ihr
Wahlkampf zur Erfolgstour geworden ist.
Neu ist nur der Ton, in dem man sie er-
zählt. Dati setzt sich durch, das sagt jeder,
der sie kennt. Lange klang das eher nach
Ellenbogen, jetzt klingt es nach Überlegen-
heit. Die Lebensgeschichte der Juristin
wirkt dabei wie eine Langfassung der Er-
eignisse der vergangenen Monate: ein Auf-
stieg, mit dem niemand gerechnet hat.
Dati wurde als zweites von zwölf Kin-
dern geboren. Der Vater Maurer aus Ma-
rokko, die Mutter Hausfrau aus Algerien,
die Kinder teilen sich die Matratzen auf
dem Fußboden einer Sozialwohnung.
Kontakte, die Kinder der Pariser Bourgeoi-
sie en passant am Abendbrottisch abgrei-
fen, knüpft Dati selber. Sie sammelt För-
derer und Ämter (Justizministerin, Euro-
paabgeordnete, Bürgermeisterin des sieb-
ten Arrondissements von Paris). Außer-
halb Frankreichs wurde sie berühmt, als
sie 2009, fünf Tage nach der Geburt ihrer
Tochter, wieder ihre Arbeit als Ministerin
aufnahm. Als sei nichts passiert. Über den
Vater des Kindes schwieg sie lange, inzwi-
schen zahlt der Unternehmer Dominique
Desseigne Unterhalt. nadia pantel
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von stefan kornelius
X
i Jinping und Donald Trump ha-
ben ein sehr vergleichbares Pro-
blem: das Coronavirus, seine Aus-
wirkung auf die Wirtschaft und damit
auf die Arbeitslosigkeit. Der Grad der
Beschäftigung und des Wachstums ist in
China schon immer Maßstab für die Sta-
bilität des Landes und die Autorität der
Führung. Die Wachstumsgarantie ist
auch so etwas wie eine Machtgarantie,
Arbeitslosigkeit führt zu Unzufrieden-
heit und zu Unruhe.
Für den amerikanischen Präsidenten
liegen die Dinge nicht völlig anders. Die
Amerikaner werden im Wahljahr
Trumps Leistung an ihrem Geldbeutel
messen, heißt die gängige Prognose. Will
heißen: Die Wiederwahl Trumps hängt
ganz maßgeblich davon ab, ob die Corona-
Krise von einer lang anhaltenden Wirt-
schaftskrise begleitet wird oder ob die
USA glimpflich davonkommen werden.
In diesem Fernduell hat Chinas Staats-
präsident ein paar Wochen Vorsprung
und den Vorteil, dass die Zentralmacht in
Peking Kräfte mobilisieren kann, die das
föderalistische und eher chaotische ame-
rikanische System gar nicht kennt. Xis
Reise zum Entzündungsherd der Epide-
mie ist ein machtvolles Signal, dass
China die Krise überwunden zu haben
glaubt. Xi würde nicht in Wuhan nach
dem Rechten sehen, wenn er wüsste,
dass er wenige Tage später für seine opti-
mistischen Signale betraft würde. Er
wird das Risiko also sehr bewusst abgewo-
gen und für kalkulierbar erachtet haben.
Trump hingegen gibt ein eher lächerli-
ches Bild ab, von Führungsstärke keine
Spur. Er ist medizinischen Fakten gegen-
über immun, er bleibt defensiv und ver-
breitet Unwahrheiten, etwa, dass hinrei-
chend Virentests im Land zur Verfügung
stünden. Der unsichtbare Gegner scheint
ihn zu überfordern.
Zwei Systeme, zwei Antworten und
trotzdem eine Botschaft: Nur mit Ehrlich-
keit und Transparenz kann die Politik ei-
ner Virusepidemie wie Corona begegnen.
Weder China noch die USA scheinen zu
dieser Ehrlichkeit in der Lage zu sein, die
Glaubwürdigkeit der politischen Füh-
rung in beiden Ländern hat Schaden ge-
nommen. In den USA, weil der Präsident
zu spät und zu erratisch auf die Bedro-
hung reagiert hat und noch dazu beim
Lügen erwischt wurde. In China, weil der
radikalen Seuchenbekämpfung eine Pha-
se des Vertuschens und Abwiegelns vor-
ausgegangen war. So gingen möglicher-
weise entscheidende Tage im Kampf
gegen das Virus verloren.
Irgendwann wird der Moment kom-
men, wo die Seuchenexperten Lehren zie-
hen für den politischen Umgang mit dem
Virus. Diesen Moment sollte man abwar-
ten. Heute schon sollte man aber warnen
vor einer vorsätzlichen politischen Instru-
mentalisierung, am besten noch gepaart
mit Systemtheorie: Seht her, es braucht
ein autoritäres Regime, um so etwas
unter Kontrolle zu bekommen.
In China war es das autoritäre System,
das Ehrlichkeit und Transparenz zum
wichtigsten Zeitpunkt, also beim Aus-
bruch der Epidemie, gelähmt hat. Es war
die Angst vor der Verantwortung, die in
Verantwortungslosigkeit mündete, ehe
die Zentralregierung umschwenkte und
mit aller Macht durchgriff. In den USA
zeigt sich die Schwäche des komplett auf
den Präsidenten ausgerichteten Sys-
tems, wenn dieser Präsident unberechen-
bar ist und Unwahrheiten spricht. Den
Coronatest haben weder China noch die
USA bestanden.
von björn finke
E
s war der Tag der Wirtschaftsfest-
spiele in Brüssel. Die EU-Kommissi-
on präsentierte am Dienstag auf ei-
nen Schlag ihre Industrie- und ihre Mittel-
standsstrategie sowie Pläne, den Binnen-
markt zu stärken. Mit diesem Arbeitspro-
gramm will die Behörde Europas Wirt-
schaft unterstützen. Das ist auch nötig,
denn die Firmen stehen vor großen Her-
ausforderungen: Sie müssen sich auf
schärfere Regeln zum Klimaschutz ein-
stellen, mehr in Digitales investieren und
sich gegen neue Rivalen aus China behaup-
ten. Viele Ideen aus den Papieren sind alt-
bekannt, viele sind sinnvoll, aber man-
ches ist heikel, etwa wenn es um die Re-
form des Wettbewerbsrechts geht.
Zu begrüßen ist die Absicht, Geschäfte
im EU-Ausland zu vereinfachen. Dank des
gemeinsamen Binnenmarktes sollen Be-
triebe nicht auf bürokratische Hürden sto-
ßen, wenn sie Waren oder Dienste in ande-
ren europäischen Staaten anbieten. Doch
die Klagen nehmen zu: Regeln sind zu
kompliziert, Staaten setzen EU-Vorgaben
unterschiedlich um. Besonders mühsam
wird es, wenn Konzerne nicht Waren, son-
dern Mitarbeiter ins Ausland schicken,
zum Beispiel Monteure oder Berater. Bei
solchen Dienstleistungen ist Europa von
einem Binnenmarkt weit entfernt – dabei
wird dieser Sektor immer bedeutender.
Es ist eine wunderbare Errungenschaft
der EU, die kleinen nationalen Märkte –
im Prinzip – durch einen riesigen europäi-
schen ersetzt zu haben. Für Betriebe sin-
ken die Kosten, für Verbraucher steigt die
Auswahl. Konzerne aus den USA und Chi-
na haben seit jeher einen großen Heimat-
markt; der Binnenmarkt hilft Europas Fir-
men mitzuhalten. Umso wichtiger ist es,
verbleibende Hürden niederzureißen.
Auf diesem Binnenmarkt sind aber
auch Unternehmen tätig, die unfaire Vor-
teile genießen. So profitieren manche chi-
nesische Konzerne zu Hause von Subventi-
onen und können deswegen in Europa Wa-
ren billiger verkaufen als die dortigen
Wettbewerber. Oder sie übernehmen die-
se Rivalen gleich zu überhöhten Preisen.
Die Kommission verspricht mehr Schutz
vor solchen Praktiken. Das ist löblich, je-
doch nur, solange es nicht in blanken Pro-
tektionismus umschlägt, also eine Ab-
schottung vor unliebsamer Konkurrenz.
Heikel ist auch, welche Hoffnungen
manche Politiker mit der angekündigten
Überprüfung der Wettbewerbsregeln ver-
binden. So bemängeln die deutsche und
die französische Regierung, dass die Fusi-
onskontrolle der Kommission die Bildung
vonEuropean Championszu sehr erschwe-
re: Zusammenschlüsse großer Unterneh-
men, die dank ihrer Marktmacht angeb-
lich besser gegen Rivalen aus China und
den USA bestehen können. Und der franzö-
sische Binnenmarkt-Kommissar Thierry
Breton klagt, die Regeln seien zu sehr dar-
auf ausgelegt, durch möglichst starken
Wettbewerb die Preise für Verbraucher
niedrig zu halten – zulasten der Industrie.
Die zuständige Kommissionsvizepräsi-
dentin Margrethe Vestager wehrt sich
aber gegen eine Aufweichung, und das zu
Recht: Derartige Wirtschaftslenkung hat
noch nie funktioniert. Würgen Konzerne
mit Fusionen den Wettbewerb ab und er-
höhen die Preise, erfreut das vielleicht auf
kurze Sicht die Aktionäre. Doch wer nur
wenig Konkurrenz hat, wird träge. Außer-
dem verhindert die Machtballung den Auf-
stieg junger Firmen. Gerade ein Blick auf
Deutschland beweist, dass Größe nicht al-
les ist: Viele Mittelständler sind in ihren Ni-
schen Weltmarktführer. Wichtig ist es,
der Beste zu sein – nicht der Größte.
M
an hört jetzt ständig diese
Geschichten. Über die Mut-
ter, die mit ihren beiden
Söhnen trotz Südtirol-Qua-
rantäne auf dem Spielplatz
im Münchner Osten auftaucht, weil man
es in der Enge des Zuhauses mit Kindern
halt selten lange aushält. Und über den Va-
ter mit dem Sohn im selben Alter, der dar-
aufhin empört auf dem Absatz kehrt-
macht und wieder nach Hause geht, weil
sein Kind mit den Quarantänekindern
nicht spielen soll. Oder die Geschichte aus
dem Büro eines bayerischen Unterneh-
mens, wo sich zwei Kolleginnen nach den
Faschingsferien in der Kaffeeküche beina-
he prügeln, weil die eine direkt aus Italien
ins Büro gekommen ist und die andere
fand, dass man da erst einmal zu Hause
bleibt und die Inkubationszeit abwartet.
Selten konnte man so tief in die Seelen
von Kollegen, Freunden und Verwandten
blicken wie in den vergangenen Tagen. In
Grenzsituationen zeigt sich eben, wie un-
terschiedlich die Menschen mit Unsicher-
heit umgehen – und nach wie vor sind das
Coronavirus und seine Folgen eine einzige
große Unsicherheit. Die einen reagieren
panisch, obwohl zwar überall zur Vorsicht
gemahnt wird, zur Panik aber den Behör-
den zufolge bisher kein Anlass besteht.
Die anderen reagieren betont gelassen, ob-
wohl auch unreflektierte Gelassenheit un-
angemessen ist. Menschen sind unter-
schiedlich, und die Frage, die sich jetzt
stellt, lautet: Wie kommen wir alle gemein-
sam durch die nächsten Wochen? Wie hal-
ten wir uns aus?
Nur mit Rücksichtnahme – und mit Ver-
ständnis für das Risikoempfinden des je-
weils anderen. Weder Spott über angebli-
che Hypochondrie, noch Ärger über mögli-
chen Leichtsinn bringen uns weiter. Auch
wenn es manchmal schwerfällt: Wenn
sich jemand mit 50 Rollen Klopapier zu
Hause derzeit wohler fühlt, dann sollte er
auch 50 Rollen Klopapier nach Hause tra-
gen dürfen. Noch ist ja genug da.
Umgekehrt gilt aber auch: Wer nicht zu
einer Risikogruppe zählt, darf am öffentli-
chen Leben teilnehmen, auch wenn er
sich mal räuspern muss. Gesellschaftliche
Ausgrenzung erfahren schon längst nicht
mehr nur Menschen mit asiatischem Aus-
sehen, sondern auch Kinder, deren Schu-
len vorsichtshalber geschlossen wurden.
Hier ist, bei aller gebotenen Vorsicht, auch
Augenmaß wichtig. Und Zeit für einfühlsa-
me Gespräche: Nicht nur auf dem Spiel-
platz im Münchner Osten dürften zuletzt
viele Tränen geflossen sein.
Während Jens Spahn und die Gesund-
heitsminister der Länder nun größere Ver-
anstaltungen infrage stellen oder absa-
gen, sind auch wir alle gefragt. Auch wir
müssen täglich abwägen: Ist eine Woh-
nungsparty zum 50. Geburtstag schon ei-
ne kleine Großveranstaltung? Soll man
Freunde zur Begrüßung umarmen? Soll
man ins Kino, ins Schwimmbad? All diese
Fragen werden in den kommenden Wo-
chen noch drängender werden. Und es
wird immer Situationen geben, in denen
jeder Einzelne selbst entscheiden muss.
Die Abwägung im Alltag kann uns kei-
ne Regierung abnehmen, ebenso wenig
wie unser Verantwortungsbewusstsein.
Nur weil man als gesunder Mittvierziger
sein eigenes Sterberisiko als gering ein-
schätzt, trägt man trotzdem Verantwor-
tung für jene mit höherem Risiko, meist al-
so für die Älteren. Das bedeutet natürlich
auch: Es darf keine Lösung sein, die Kin-
der aus geschlossenen Kitas von den Groß-
eltern betreuen zu lassen, damit Vater und
Mutter weiter ins Büro gehen können.
Denn es sind ja vor allem die Großeltern,
für die das Virus besonders gefährlich ist.
Und sollte es am Ende gerade auch zum
Schutz der Älteren zu einer flächendecken-
den Quarantäne kommen, unser Alltag
wirklich pausieren müssen, dann ist das
alleine noch keine Tragödie.
Vielleicht schadet es neben allen Sor-
gen und Erschwernissen nicht, das Virus
auch als kleine gesellschaftliche Übung zu
begreifen, als Übung im gegenseitigen
Umgang, in Solidarität. Denn die Epide-
mie ist ja nicht der einzige Anlass, bei dem
sich zeigt, wie weit die Vorstellungen der
Deutschen oft auseinandergehen. Auch in
der Klimadebatte, in der die einen am
liebsten große Autos verbieten wollen und
die anderen einen neuen Fahrradweg als
Angriff auf ihr Lebensmodell begreifen,
werden wir uns alle gegenseitig ertragen
müssen. Und das können wir auch.
Der Historiker Rutger Bregman be-
schreibt in seinem Buch „Im Grunde gut“
ein Phänomen, das Hoffnung macht. Er ar-
gumentiert, dass die Menschen in den Kri-
senzeiten der Geschichte, während Krie-
gen und Seuchen, sich sehr viel vernünfti-
ger und solidarischer verhalten haben, als
man das gemeinhin glauben mag. Dass
der Mensch auch in schwierigen Zeiten
ein soziales Wesen ist. Jetzt ist die Zeit,
den Beweis anzutreten.
Dem Präsidenten geht es
bei der Verfassungsreform
nur um die eigene Macht
Die harmonischen und stilis-
tischen Möglichkeiten der
Popmusik sind vergleichs-
weise übersichtlich. Die Ge-
schichte des Pop ist deshalb
auch die Geschichte des munteren Neu-
kombinierens musikalischer Ideen. Die
Grenze zwischen Originalität und Plagiat
ist dabei naturgemäß fließend. Urheber-
rechtsstreitigkeiten gehören dementspre-
chend seit jeher zum Geschäft. Wobei die
Faustregel gilt: Je erfolgreicher ein Song
ist, umso wahrscheinlicher ist es, dass
ihn eigentlich jemand anderes geschrie-
ben und seinen Teil der Tantiemen haben
will. Was dann manchmal stimmt – und
manchmal nicht. Gerade wurde von ei-
nem Berufungsgericht in San Francisco
entschieden, dassLed Zeppelindas Intro
zu ihrem berühmtesten Song „Stairway
To Heaven“ doch nicht vom Song „Tau-
rus“ der eher unbekannten BandSpirit
geklaut haben. Zu den berühmten Fällen,
die zu Recht zugunsten der Beklauten
ausgingen, gehört dagegen die Auseinan-
dersetzung derDoorsmit denKinksum
den Doors-Song „Hello, I Love You“, des-
sen markantes Gitarren-Riff ziemlich ge-
nauso klingt wie das Riff des Kinks-Hits
„All Day And All Of The Night“. Oder der
Beach-Boys-Klassiker „Surfin U.S.A.“, der
ein allzu dreistes Cover des Chuck-Berry-
Hits „Sweet Little Sixteen“ war. In beiden
Fällen wurde sich allerdings außerge-
richtlich geeinigt. crab
4 HF2 MEINUNG Mittwoch,11. März 2020, Nr. 59 DEFGH
FOTO: GONZALO FUENTES/REUTERS
CHINA UND AMERIKA
Zwei Systeme, ein Versagen
EUROPÄISCHE WIRTSCHAFTSPOLITIK
Größe wird überschätzt
sz-zeichnung: pepschgottscheber
CORONAVIRUS
Aushalten
von katharina riehl
RUSSLAND
Putin für immer
von silke bigalke
AKTUELLES LEXIKON
Pop-Plagiat
PROFIL
Rachida
Dati
Galionsfigur
derBourgeoisie
von Paris
Im Fall einer Seuche
helfen nur Ehrlichkeit
und Transparenz
Sind Konzerne zu mächtig,
verhindert das den
Aufstieg junger Unternehmen
Die Epidemie ist auch
eine gesellschaftliche Übung –
in Solidarität