Der Spiegel - ALE (2022-01-08)

(EriveltonMoraes) #1
AUSLAND

100 DER SPIEGELNr. 2 / 8.1.2022

men abgesehen, noch nicht in China
angekommen. Das könnte sich je-
doch ändern, wenn Zehntausende
Menschen aus dem Ausland zu den
Olympischen Winterspielen eintref-
fen, die am 4. Februar in Peking be-
ginnen.
Seit Wuhan hat wohl keine chine-
sische Stadt einen derart harten Lock-
down erdulden müssen wie Xi’an.
Durfte zunächst noch eine Person pro
Haushalt einkaufen gehen, wurde
dies nach vier Tagen untersagt. Ins
Freie darf man seither nur noch für
den Gang zu einer Teststation. Für
ihre Nahrungsmittel waren die Men-
schen fortan auf überlastete Liefer-
dienste oder staatlich organisierten
Nachschub angewiesen, der in man-
chen Teilen der Stadt nur aus minder-
wertigen Produkten bestand, anders-
wo sogar ganz ausblieb.
Im Internet machen die Menschen
ihrem Ärger Luft, seit Tagen trendet
der Hashtag »Es ist schwierig, in Xi’an
Nahrungsmittel zu kaufen«. Ein Vi-
deo verbreitete sich, in dem staatli-
ches Personal einen Mann verprügelt,
der sich zum Essenholen auf die Stra-
ße geschlichen hatte; ein halbes Dut-
zend gedämpfte Brötchen kullern aus
seiner Tasche.
In ihrer Not haben Menschen ver-
sucht, aus der abgeriegelten Stadt zu
fliehen – in tagelangen Gewaltmär-
schen, auf Leihfahrrädern, schwim-
mend durch einen kalten Fluss. Durch
den weitverbreiteten Unmut alar-
miert, hat die Lokalregierung mittler-
weile zwei hochrangige Parteikader
gefeuert und eine bessere Versorgung
versprochen.
Nach internationalen Maßstäben
sind die Infektionszahlen in Xi’an im-
mer noch niedrig. Offiziell wurden in
der Provinz Shaanxi, deren Haupt-
stadt Xi’an ist, in den vergangenen
vier Wochen 1883 Covid-Fälle re-
gistriert. 16 Infizierte in Xi’an sind

schwer erkrankt, fünf befinden sich
in lebensbedrohlichem Zustand.
Einen Covid-Todesfall haben die Be-
hörden in Xi’an bisher nicht gemel-
det. Inzwischen sinken die Zahlen:
Am Sonntag kam Xi’an erstmals seit
Heiligabend auf weniger als 100 Neu-
infektionen, seither blieben sie teils
deutlich unter dieser Marke.
Unklar ist, ob China bei einem
Ausbruch der noch infektiöseren
Omikron-Variante auf eine ähnlich
glimpfliche Bilanz hoffen darf. Zwar
sind rund 86 Prozent der Chinesin-
nen und Chinesen zweimal geimpft,
geboostert waren Mitte Dezember
etwas mehr als acht Prozent. Doch
die beiden in China am meisten ver-
abreichten Vakzinen, zwei Totimpf-
stoffe heimischer Hersteller, bieten
gegen eine Ansteckung mit Omikron
nur geringen bis gar keinen Schutz.
Das legen erste wissenschaftliche
Erkenntnisse über die neue Variante
nahe.
Besser sieht es aus, wenn ein
mRNA-Booster obendrauf kommt.
Doch einen eigenen solchen Impfstoff
hat China noch nicht einsatzfähig –
vollmundigen Ankündigungen von
Staatsmedien zum Trotz. Die natio-
nalistische »Global Times« behaup-
tete, verglichen mit den von den USA
und Deutschland entwickelten
mRNA-Vakzinen sei der kommende
chinesische mRNA-Impfstoff viel si-
cherer.
Die Produkte von Moderna und
Biontech sind in der Volksrepublik
nach wie vor nicht auf dem Markt.
Dabei hat der chinesische Pharma-
konzern Fosun in das Unternehmen
Biontech investiert und sich die Dis-
tributionsrechte in der chinesisch-
sprachigen Welt gesichert. Doch wäh-
rend Biontech in Taiwan, Hongkong
und Macau schon lange verimpft
wird, lassen sich die Regulierungs-
behörden des Festlands mit der Zu-
lassung des weltweit bewährten Impf-
stoffs Zeit. Für Peking ist es eine Fra-
ge der nationalen Ehre, keine Hilfe
des westlichen Auslands in Anspruch
zu nehmen.
Bis Anfang Januar hat das chine-
sische Festland ganze vier Omikron-
Fälle gezählt. Am meisten Aufsehen
erregte ein 67-jähriger Mann, der
Ende November aus dem Ausland
zurückgekehrt war, 14 Tage Hotel-
quarantäne in Shanghai absolviert
hatte und währenddessen regelmäßig
negativ getestet worden war.
Anschließend reiste er in seine
Heimatstadt Guangzhou weiter, um
dort eine weitere Woche Quarantäne
in seiner eigenen Wohnung abzusit-
zen, wie es in vielen chinesischen

H


err Xiang hatte Pech. Der
21-Jährige arbeitete in einem
Quarantänehotel im chine-
sischen Xi’an, als am 4. Dezember der
Flug PK854 aus Islamabad in der
Stadt eintraf. Wer zu Pandemiezeiten
nach China einreist, hat sich nach
Ankunft für mindestens 14 Tage in
Hotel quarantäne zu begeben; Xiang,
der 2021 seine Pflegerausbildung ab-
geschlossen hat, gehörte dort zum
medizinischen Personal. An jenem
Tag habe er den Neuankömmlingen
aus Pakistan geholfen, ihr Gepäck zu
tragen, sagte Xiang später der »Bei-
jing Youth Daily«.
»Danach entdeckte ich zwei fin-
gergroße Löcher in meiner Schutz-
kleidung, eines am Ellenbogen und
eines an der Hüfte«, erzählte er. »Ich
war damals der Ansicht, dass die Lö-
cher ja nicht groß waren, und dachte
mir nichts dabei. Heute glaube ich,
dass ich mich vielleicht zu diesem
Zeitpunkt infiziert habe.«
Am 9. Dezember wurde Xiang als
erster lokaler Infektionsfall in Xi’an
registriert. Es war der Auftakt eines
Coronaausbruchs, der heute als der
schwerste in China seit Beginn der
Pandemie in Wuhan gilt. Am 23. De-
zember wurde ein Lockdown über
Xi’an verhängt, 13 Millionen Men-
schen dürfen seither ihre Wohnung
nicht verlassen, das entspricht der
Einwohnerzahl Bayerns.
Als letzte große Volkswirtschaft
hält China an seiner Null-Covid-Stra-
tegie fest. Sie hat das Land zwar vom
Rest der Welt abgeschnitten, die Ge-
sundheit der Bevölkerung bislang
aber gut geschützt. Doch die neuen,
infektiöseren Varianten dürften diese
Strategie künftig erschweren. Viele
Länder sind daher bereits von Null-
Covid abgerückt.
Den Ausbruch in Xi’an schreiben
die Behörden der Delta-Variante zu,
Omikron ist, von wenigen Ausnah-

»Wir werden
keine Mühen
scheuen, der
Welt groß­
artige Spiele
zu zeigen.«
Staatschef Xi Jinping

Wenn Omikron auf


Olympia trifft


CHINA Seit Wuhan hat keine Stadt so einen harten Lockdown
durchlitten wie nun die 13-Millionen-Metropole Xi’an.
Dabei ist die neueste Coronavariante noch nicht mal angekommen –
was sich mit den Winterspielen in Peking ändern könnte.

CHINA

Xi’an

Peking

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