Der Spiegel - ALE (2022-01-08)

(EriveltonMoraes) #1
AUSLAND

106 DER SPIEGELNr. 2 / 8.1.2022

D


as neue Jahr beginnt mit einem Schuss.
Anna Stawytschenko steht inmitten einer
Menschenmenge, als silberne Streifen
von der Decke regnen. Um Punkt Mitternacht
hat der DJ eine Konfettikanone gezündet. Für
ein paar Minuten tönt »I Will Always Love
You« durch den Saal, dann wieder Elektro.
Stawytschenko, eine Frau in schwarzem
Samtkleid, 36 Jahre alt, hebt die Arme und
tanzt. Neben ihr tragen Menschen Einhorn-
kostüme und schillernde Masken, andere
Pelzimitate in Pink oder Lichterketten. An
den Handgelenken der Gäste im Squat 17b,
einem ehemals besetzten Haus in der ukrai-
nischen Hauptstadt Kiew, baumeln Eintritts-
bänder mit dem Slogan »Be Happy«.
Vor drei Jahren hat der ukrainische Präsi-
dent Wolodymyr Selenskyj seinen Landsleu-
ten versprochen, den Krieg im Osten zu be-

enden. Davon aber ist die Ukraine heute
weiter entfernt denn je. Stattdessen droht eine
Ausweitung des Konflikts. Russlands Präsi-
dent Wladimir Putin hat mehr als 100 000
Soldaten an die Grenze zur Ukraine verlegt.
Erst kürzlich riet die Stadtverwaltung Kiews
den Menschen, einen Koffer zu packen, um
im Falle einer Invasion schneller fliehen zu
können. Stawytschenko und viele andere in
der Stadt lässt das kalt.
Kiew ist in Partylaune statt in Kriegsangst.
Bei einer Umfrage im Dezember kam eine
Eskalation in der Ostukraine nur auf Platz
vier der wahrscheinlichsten Bedrohungen,
hinter den steigenden Gaspreisen, einer wach-
senden Wirtschaftskrise und der Coronapan-
demie. Die Bürgerwehr, die an Wochenenden
regelmäßig die Verteidigung der Stadt probt,
macht gerade Pause.

Woher nehmen die Menschen die Gelas-
senheit? »Wir leben schon fast acht Jahre in
diesem Stress«, sagt Stawytschenko. Seit
Russland im Frühjahr 2014 die ukrainische
Krim völkerrechtswidrig annektierte und pro-
russische Rebellen den Osten des Landes be-
setzten, hat Moskau Kiew immer wieder mit
einer Eskalation des Konflikts gedroht. Schon
im Frühjahr 2021 zog Kremlchef Wladimir
Putin Truppen an der Grenze zur Ukraine
zusammen. Anna Stawytschenko sagt, sie
habe aufgehört, sich Sorgen zu machen. Sie
habe Besseres zu tun.
Stawytschenko leitet das Kiewer Sinfonie-
orchester. Zum orthodoxen Weihnachtsfest
am 6. Januar spielen sie in diesen Tagen einen
Klassiker – Tschaikowskis Nussknacker. Für
das neue Jahr plant Stawytschenko, mit dem
Ensemble in Deutschland aufzutreten, wo sie
studiert hat. Sie hofft auf Reisen nach Venedig
und Salzburg.
Roman Naboschnjak dagegen fällt es
schwer, neue Pläne zu machen. Der 31-Jähri-
ge verkauft im Szenestadtteil Podil Brownies,
rund 20 Sorten hat sein Café im Angebot. Die
Idee dazu kam ihm bei einer Asienreise. Na-
boschnjak trägt Undercut und Ohrringe, er
lächelt oft und spricht mit ausladenden Ges-
ten. Nur ein Tattoo verweist auf seine Zeit bei
der Armee. Links prangt eine Fledermaus auf
seinem Arm, das frühere Symbol des ukrai-
nischen Militärgeheimdienstes.
Vom Sommer 2015 bis Herbst 2016 kämpf-
te Naboschnjak im Osten gegen die prorus-

Kiew tanzt weiter


UKRAINE Russland droht mit einer Invasion, die ukrainischen
Behörden raten den Bürgerinnen und Bürgern, sich für
den Ernstfall zu wappnen. Und die jungen Menschen in Kiew?
Schwanken zwischen Partystimmung und Kriegsangst.

Feiernde
Stawytschenko
(v.) auf einer
Silvesterparty
in Kiew
Julia Kochetova / DER SPIEGEL

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