Der Spiegel - ALE (2022-01-08)

(EriveltonMoraes) #1
120 DER SPIEGELNr. 2 / 8.1.2022

WISSEN

Hilfsmittel der Seuchenüberwachung. Eigent-
lich gelten Polio-Wildviren, die Erreger der
Kinderlähmung, weltweit als fast ausgerottet,
mit isolierten Rückzugsgebieten in Afgha-
nistan oder Pakistan. Obwohl Israel seit 1988
als poliofrei gilt, fanden israelische Forscher
2013 plötzlich Rückstände von Polioviren im
Abwasser der Negev-Region. Die Verwaltung
startete eine Impfkampagne und erstickte die
»stille Ausbreitung« im Keim. Mittlerweile
überwachen 50 Länder auch das Abwasser,
um das Zir kulieren von Polioviren frühzeitig
zu er kennen.
Vor allem in der Endphase einer Pandemie
könnten Frühwarnsysteme, die schnell Alarm
schlagen, aber Entwarnung geben können,
immer wichtiger werden – insbesondere an
Feiertagen, wenn Pandemiedaten erst mit
vielen Tagen Verspätung zusammengetragen
werden.
Neben den Abwassertests gibt es noch an-
dere Testverfahren, bei denen die Forschen-
den allerdings auf die Mitarbeit vieler Frei-
williger angewiesen sind.
Seit April 2020 fühlt Dirk Brockmann der
Nation den Puls. Gemeinsam mit seinem
Team wertet der Physiker am Institut für Bio-
logie der Humboldt-Universität für das RKI
die Vitaldaten von mehr als einer halben Mil-
lion freiwilligen Spendern aus, die von Fit-
nessarmbändern und Smartwatches erhoben
werden: Schlaf, Puls, Schritte. Die »Daten-
spende«-App sammelt all diese Daten und
überträgt sie pseudonymisiert auf die Server
der Forschenden.
Anfangs schienen vor allem die Pulsdaten
aufschlussreich zu sein: Der durchschnittliche
Ruhepuls der Teilnehmenden liegt bei 61
Schlägen pro Minute; eine Erhöhung um bis
zu drei Schläge im Mittel deutet auf eine In-
fektion hin, möglicherweise weil das Immun-
system aktiv wird, was für den Körper an-
strengend ist. Auch die Schlafdauer schnellt
statistisch gesehen um täglich rund eine Stun-
de in die Höhe. Erst nach einem Monat nor-
malisiert sich die Schlafdauer wieder.
Doch inzwischen scheint festzustehen: Der
deutlichste Hinweis auf eine Infektion ist der
drastische Rückgang der täglichen Schritte,
deren Anzahl sich bei einem Kranken mehr
als halbiert. Nimmt die Zahl der täglichen
Schritte bei vielen Menschen gleichzeitig ab,
lassen sich frühzeitig Infektions-Hotspots er-
kennen – lange bevor die Gesundheitsämter
ihre Zahlen ans RKI melden.
Ein Nachteil der digitalen Fieberkurve: Die
Auswahl der Datenspender ist nicht repräsen-
tativ, ausgerechnet die besonders gefährdeten
Älteren ab 60 Jahren sind bislang schwächer
vertreten. Außerdem können auch äußere

Faktoren den Puls hochtreiben oder die
Schritte verringern, etwa eine sommer liche
Hitzewelle. »Vor allem aber bleiben symp-
tomfreie Infektionen für die Fitness tracker
unsichtbar, das ist bei Abwassertests anders«,
sagt Jörg Drewes, Professor für Siedlungs-
wasserwirtschaft an der Technischen Univer-
sität München.
Seit drei Jahrzehnten schon erforscht der
Wissenschaftler, was Körperausscheidungen
über menschliche Gemeinschaften verraten:
Keime, Koks, Antidepressiva. »Abwasser ist
ein Spiegel der Gesellschaft«, sagt er.
Voriges Jahr stellte Drewes ein Modell-
projekt auf die Beine, gemeinsam mit Ge-
meinden im Berchtesgadener Land, einer
Tourismusregion im hintersten Südostzipfel
von Bayern. Die gewohnten Verwaltungs-
strukturen waren durch die Pandemie aus
dem Tritt geraten, erzählt Drewes, das habe
die Chance für den Aufbau eines »alternati-
ven Krisenmanagements« geboten – digital,
spontan, innovativ.
Inspiriert wurde es von den Erfahrungen
des Sanitätsdienstes der Bundeswehr bei der
erfolgreichen Eindämmung der Ebola-Epi-
demie, die 2014 in Westafrika ausbrach. Zwei-
mal pro Woche nahm das Team Proben in
Klärwerken, schickte sie per Expresszustel-
lung ans TZW in Karlsruhe, um sie mit der
PCR-Methode analysieren zu lassen. Das er-
staunliche Ergebnis: Die Abwasserproben
zeigten zehn Tage vor den offiziellen Fall-
zahlen anrollende Infektionswellen. »Dieses
Frühwarnsystem kann als Blaupause für an-
dere Kommunen in Deutschland dienen«, ist
Drewes überzeugt.
Die Abwassertests eigneten sich aber
auch als Früh-Entwarnsystem: Sobald die
Spuren von Viren in Kläranlagen abnahmen,
konnte schneller Entwarnung gegeben
werden.
Auch über die Feiertage haben Drewes
und andere Forschende Abwasserproben
untersucht. Die vorläufigen Auswertungen
deuten darauf hin, dass die Omikron-Variante
bereits im zweistelligen Prozentbereich ver-
breitet ist – zumindest bei Proben aus Karls-
ruhe und dem Berchtesgadener Land. Doch
diese PCR-Ergebnisse sind vorläufig. Sie
müssten erst noch durch eine Sequenzierung
bestätigt werden, sagt Drewes. Das Problem:
Viele Labore waren auch nach Silvester noch
in der Feiertagspause. Die beste Abwasser-
testung läuft ins Leere, wenn es dann beim
Labor hakt.
Aber kommt das Abwassermonitoring
nicht eh zu spät, zwei Jahre nach Beginn der
Pandemie? Im Gegenteil, findet Drewes, Co-
rona könnte eine einzigartige Chance sein,
endlich eine flächendeckende Abwasserüber-
wachung aufzubauen. »Wir müssen für zu-
künftige Seuchen gewappnet sein«, so der
Wasserexperte: »Denken Sie an Kinderläh-
mung, Schweinepest und antibiotikaresisten-
te Keime. Nach der Pandemie ist vor der
Pandemie.«

Nicht jeder Infizierte
lässt sich testen – aber
jeder geht aufs Klo.

Hilmar Schmundt n

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