Der Spiegel - ALE (2022-01-08)

(EriveltonMoraes) #1
KULTUR

132 DER SPIEGELNr. 2 / 8.1.2022

V


or sieben Jahren, es war Anfang Ja nuar,
veröffentlichte die französische Zeit-
schrift »Charlie Hebdo« auf ihrem Titel
eine Karikatur: Michel Houellebecq als Wei-
ser, der in die Zukunft schaut. Der Rest ist
Geschichte. Der Anschlag auf die Redaktion
am selben Tag, die vielen Toten, der islamis-
tische Terror, der über Monate das Land be-
drohte. Und ein Schriftsteller, der, so schien
es, tatsächlich früher als andere gespürt hatte,
dass etwas in der Luft lag – und einen Roman
daraus gemacht hatte, »Unterwerfung«. In
dem Buch ging es um politische Gewalt, um
den Niedergang Frankreichs, um das Erstar-
ken des politischen Islam bei den Präsident-
schaftswahlen 2022.
Inzwischen hat dieses Jahr 2022 tatsächlich
begonnen. Ein muslimischer Präsident ist,
anders als Houellebecq es vorhergesagt hat,
in Frankreich nicht zu erwarten. Doch es er-
scheint, im französischen Original genau am
Jahrestag des Anschlags auf »Charlie Hebdo«,
wieder ein Roman von Michel Houellebecq.
Abermals geht es um die Präsidentschafts-
wahlen, diesmal die des Jahres 2027. Aber-
mals geht es um Gewalt. Das Buch heißt »Ver-
nichten«. Das klingt noch beunruhigender als
»Unterwerfung«.
Der Staatschef in Houellebecqs neuem
Buch trägt keinen Namen. Er hat bereits sei-
ne zweite Amtszeit hinter sich und darf des-
halb, so sieht es die französische Verfassung
tatsächlich vor, nicht noch einmal antreten.
Hier kommt Paul Raison ins Spiel, die Haupt-
figur des Romans. Ein Kollege charakterisiert
den Endvierziger als »ernsthaft, kein bisschen
lustig, geradezu streng, ehrlich gesagt, aber
er ist vernünftig« – da haben wir’s: Raison ist
ein sprechender Name. Der Mann verkörpert
die Vernunft. Und er ist enger Mitarbeiter
eines französischen Wirtschafts- und Finanz-
ministers namens Bruno Juge. Der wiederum
gilt bei Houellebecq als ein Favorit für die
Wahlen 2027.
Man könnte hier an Bruno Le Maire
denken, derzeit französischer Wirtschafts-
und Finanzminister – und ein Freund
Houellebecqs. »Le Monde« hat Le Maire
bereits als das Vorbild für die Romanfigur
Juge ausgemacht. Und auch Le Maire selbst
hat sich geäußert: Ein Thema von »Vernich-
ten« sei die französische Industrie, behaup-

tete er und berief sich auf seine guten Kon-
takte zum Autor. Er hat ein wenig über-
trieben. Aber wer übertreibt nicht, wenn es
um Houellebecq geht? Der Schriftsteller,
mittlerweile 65, macht zumindest in der
europäischen Öffentlichkeit verlässlich fast
alle nervös.
Die französische Industrie spielt in »Ver-
nichten« höchstens indirekt eine Rolle. Mi-
nister Juge hat es geschafft, sein Land wieder
an die Weltspitze zu führen. Frankreich ist
nun fünftstärkste Wirtschaftsmacht, gleich
hinter Deutschland – und damit Ziel für eine
terroristische Bedrohung neuer Art. Ein Inter-
netvideo zeigt, wie Bruno Juge unter der
Guillotine geköpft wird.
Derart brutale Szenen gab es nicht mal in
»Unterwerfung«. Und Le Maire müsste sich
eigentlich fragen, welche Art Scherz sein
Freund Houellebecq da mit ihm treibt. Im
Buch ist der Schock schnell verklungen. Das
Video war ein Fake, die Öffentlichkeit bleibt
seltsam gelassen. Die Terrorgefahr jedoch be-
steht weiter. Zuerst haben die Attentäter es
auf den Welthandel abgesehen, vor der spa-
nischen Küste attackieren sie ein Frachtschiff.
Dann geht es gegen eine dänische Samen-
bank. Schließlich sterben Migranten. Am
Ende gerät ein Technologieunternehmen
ins Visier. Die Ziele der Terroristen scheinen
diffus, wiederkehrend sind nur die kryp-
tischen Symbole und unverständlichen
Schriftzeichen, die in Videos die Attacken
begleiten. Alles wirkt ein bisschen esoterisch,
fast satanistisch. Irgendwann ist das Bild eines
Teufels dabei. Der Geheimdienst kann damit
erst mal nichts anfangen: Was soll das? Rech-
te, Linke oder Dschihadisten würden so etwas
nicht tun.
Was sich gerafft liest wie die Zusammen-
fassung eines leicht okkulten Weltunter-
gangsthrillers, ist nur ein Strang von Houelle-
becqs bislang umfangreichstem und kom-
plexestem Buch. Es geht um menschliche

Beziehungen in fast allen Formen: um das
Arbeitsleben, um Familie, um Krankheit und
Fürsorge und, das mag überraschend sein für
einen Roman von Houellebecq, um das Ver-
trauen zwischen den Menschen. Um das Ver-
trauen in das Leben an sich. Wenn nicht sogar
um die Liebe.
Auch die Romanfigur Paul Raison unter-
scheidet sich grundsätzlich von den bisherigen
Romanfiguren Houellebecqs. Er schätzt sei-
nen Vorgesetzten und seine Arbeit. Mit sei-
nem Leben ist er eigentlich zufrieden, obwohl
seine Frau Prudence seit Jahren nicht mehr
mit ihm schläft. Auch das Onanieren hat
Raison aufgegeben. In jedem anderen Buch
Houellebecqs wäre dies der Anlass für eroti-
sche Fantasien, den Check von Pornoseiten,
Dates mit Escortgirls. Und irgendwann sucht
auch Paul eine Prostituierte auf. Aber er tut
das aus höheren Motiven. Natürlich geht das
Ganze schief. Die Szene liest sich wie ein Spiel
des Autors mit dem eigenen Ruf. Sie ist bei-
nahe rührend.
Seit seine Karriere Ende der Neunziger mit
den Romanen »Ausweitung der Kampfzone«
und »Elementarteilchen« begann, hat sich
das Menschenbild des Schriftstellers Michel
Houellebecq nicht wesentlich vom Hard-
boiled-Krimi unterschieden: die Frauen zu-
mindest Schlampen, wenn nicht Nutten, die
Männer Streuner. Allesamt bindungslose
Wesen, entfremdet von Partnerschaft und von
jeder anderen Art Gemeinwesen, vom fran-
zösischen Staat sowieso.
Verlässliche Ablenkung bot ihnen nur die
Sexualität, und seien deren Spielarten noch
so absurd. »Serotonin«, der vorige Roman
Houellebecqs aus dem Jahr 2019, gipfelte da-
rin, dass eine Japanerin Sex mit drei Hunden
hat. Von einer solchen Szene wäre es nicht
mehr weit zur Selbstparodie. Doch der Autor
verzichtet in »Vernichten« auf die allermeis-
ten derartigen Effekte und auch auf den für
seine Figuren bislang ebenso typischen »rant«
über den Niedergang Frankreichs.
Der Titel legt nahe, dass dieses Buch auch
eine Etüde über das Vernichten in den ver-
schiedensten Formen ist. So vernichten die
Terroranschläge Güter und Leben; eine In-
trige vernichtet Existenzen, sogar den eige-
nen Partner. Krankheiten haben vernichten-
de Auswirkungen. Vor allem aber ist »Ver-
nichten« ein Roman über Resilienz, ein fast
schon programmatischer Text darüber, dem
Nichts etwas entgegenzusetzen: ein Werte-

Teufel an der Wand


LITERATUR Michel Houellebecq hat einen neuen Roman geschrieben: »Vernichten«. Er kreist um Terror, die
französischen Wahlen – doch im Kern geht es um die Auseinandersetzung zwischen Ratio und Religion.

»Vernichten« ist ein Roman
über Resilienz, ein fast
schon programmatischer
Text darüber, dem Nichts
etwas entgegenzusetzen.

Michel Houellebecq: »Vernichten«. Aus dem Franzö­
sischen von Stephan Kleiner und Bernd Wilczek.
DuMont; 624 Seiten; 28 Euro.

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