KULTUR
Nr. 2 / 8.1.2022DER SPIEGEL 137
versucht, als tragische Prinzessin und als
moderne Frau, die an den überkommenen
Konventionen des britischen Königshauses
scheitert, macht »Spencer« zunichte. Und
fügt einer Frau, die von Anfang an in den
medialen Repräsentationen von sich gefangen
war, so viele neue Bilder hinzu, dass es sie
letztlich befreit.
Schlüssel dafür ist eine Besetzung, die so
unplausibel ist, dass sie sofort fasziniert: die
US-amerikanische Schauspielerin Kristen Ste-
wart, die Ende der Nullerjahre durch die
»Twilight«-Filme zum Weltstar geworden ist.
Zwei hochkarätige britische Schauspielerin-
nen hätten zuvor abgesagt, erzählte »Spen-
cer«-Produzent Paul Webster. Sie hätten wohl
Bedenken gehabt, ob sie gegen die mediale
Präsenz von Diana ankommen könnten.
Dann habe Pablo Larraín, der Regisseur, Ste-
wart vorgeschlagen. »Es ging darum, jeman-
den zu finden, der sich von den Fesseln der
öffentlichen Figur lösen kann«, so Webster.
»Und Kristen ist komplett angstbefreit.«
Anders als angstbefreit kann man Ste-
warts Leistung in »Spencer« kaum nennen.
Sie trifft Dianas Akzent, deren leicht gepress-
te Stimme und den waidwunden Blick, der
aus einem zur Seite und nach unten gewand-
ten Gesicht sein Gegenüber sucht. Mehr
noch als Diana aber spielt Stewart Dianas
Spiel, zeigt die Techniken von deren Selbst-
inszenierung. In einer frühen Szene von
»Spencer« hat sich Diana auf dem Weg nach
Sandringham House verfahren. Sie ist un-
erlaubterweise ohne Sicherheitspersonal in
ihr Porsche-Cabriolet gestiegen und losge-
fahren. Nun muss sie bei einer Tankstelle
nach dem Weg fragen. Auf Stöckelschuhen
und im Chanel-Jäckchen betritt sie das gut
besuchte Café der Tankstelle, bei jedem
Schritt weiß sie alle Augen auf sich. An der
Kasse angekommen, senkt sie kurz den
Blick, wendet sich zum gefüllten Raum und
schaut mit einem koketten Lächeln in den
Augen wieder auf: »Wo bin ich?«
Eigentlich müsste Diana die Gegend um
Sandringham gut kennen, schließlich ist sie
in der Nähe aufgewachsen. Ob sie sich nur
für diesen Moment an der Tankstelle, diesen
Auftritt verfahren hat? Der Zweifel, wie viel
Kalkül in Dianas Tragödie steckt, ist jedenfalls
geweckt und wird bis zum Schluss des Films
nicht ausgeräumt. Charles’ Betrug an Diana
ist allgegenwärtig, ebenso ihre Bulimie. Und
doch traut sich »Spencer« zu fragen, was ge-
nau an einem Leben im Überfluss so schlimm
ist, an den Ballkleidern und Kostümen, den
erlesenen Diners und den mit Champagner
gefüllten Picknickkörben. Unglückliche Ehen
gab und gibt es viele. Warum nimmt uns die-
se eine unter den privilegiertesten Menschen
dieser Erde so sehr mit? Sind wir 25 Jahre
nach Dianas Tod womöglich immer noch das
Publikum, das sie sich für das Drama ihres
Lebens ausgesucht hat? Und können wir die-
ser Inszenierung je entkommen?
»Spencer« schafft es zu entkommen, weil
der Film die Inszenierung ins leicht Irre über-
dreht. »Eine Fabel aus einer wahren Tragö-
die« hat Regisseur Pablo Larraín sein Werk
genannt. Dabei streift der Chilene genauso
oft das Horrorgenre oder die Farce – etwa
wenn er Diana wie eine Geisterfahrerin in
den Aufmarsch von Kellnern laufen lässt, die
alle zur selben Zeit Teller mit blassgrüner Ge-
müsesuppe servieren sollen. Mit den Worten
»Dude, I’ll do it« hat Stewart das Projekt zu-
gesagt, erinnert sich Larraín. Zu diesem Zeit-
punkt hatte sie Steven Knights Drehbuch
noch gar nicht gelesen.
So spontan scheint Stewart in der Wahl
ihrer Rollen meistens gewesen zu sein. »Wenn
es auch nur eine Szene gab, die ich richtig
gern spielen wollte, und ich den Rest gehasst
habe, habe ich trotzdem zugesagt«, hat Ste-
wart dem »New Yorker« erzählt. Entspre-
chend kommt sie, obwohl erst 31 Jahre alt,
auf mittlerweile rund 50 Produktionen in
ihrem Lebenslauf, darunter grandiose Flops
wie die Neuauflage von »3 Engel für Charlie«,
aber auch stille Meisterwerke des Indepen-
dentkinos wie »Certain Women«.
Stewart wuchs als Tochter eines Setmana-
gers und einer Drehbuch-Supervisorin in Los
Angeles in unmittelbarer Nähe zur Filmindus-
trie auf. An Castings teilzunehmen sei jedoch
ihre eigene Idee gewesen, sagt Stewart. 2001,
mit elf Jahren, ergatterte sie ihre erste Kino-
rolle, ein Jahr später war sie als Tochter von
Jodie Foster in »Panic Room« zu sehen. Mit
17 Jahren, als sie als Bella Swan in »Twilight«
gecastet wurde, hatte sie schon mit Sean Penn,
Meg Ryan und Samuel L. Jackson gedreht.
40 Millionen Dollar Umsatz – das war
die Erwartung an die Verfilmung der schwüls-
tigen Vampirromane von Stephenie Meyer.
Am Ende, nach vier Filmen, hat die »Twi-
light«-Reihe drei Milliarden Dollar weltweit
eingespielt, die Hauptdarsteller Robert Pat-
tinson und Kristen Stewart wurden zu globa-
len Stars.
In dieser Zeit machte Stewart die Erfah-
rungen, die sich am ehesten mit denen von
Lady Di vergleichen lassen: Sie wurde zur
Gefangenen ihrer eigenen Bilder. Weil sie in
»Twilight« einen Teenager spielte, der sich
nicht um seinen Ruf kümmert, und weil sie
kein künstliches Lächeln aufsetzte, wenn sie
ihre Filme auf dem roten Teppich bewerben
musste, galt Stewart bald selbst als unnahbar,
unkooperativ – und vor allem als unbegabt.
Als dann noch Paparazzifotos von Stewart
auftauchten, auf denen sie den verheirateten
Regisseur ihres nächsten Blockbusters »Snow
White and the Huntsman« küsst, schien ihre
Karriere völlig aus dem Ruder zu laufen.
Dann traf Stewart den französischen Regis-
seur Olivier Assayas.
Sie habe in ihrem Leben vielleicht fünf
richtig gute Filme gedreht, hat Stewart kürz-
lich gesagt, ohne konkrete Titel zu nennen.
Wer ihre Werke kennt, denkt unweigerlich an
ihre Arbeiten mit Assayas. 2014 spielte sie in
seinem Film »Die Wolken von Sils Maria«
mit, einem Metadrama über das Filmgeschäft.
Stewart ist die amerikanische Assistentin
eines französischen Film- und Theaterstars,
gespielt von Juliette Binoche. Zum ersten Mal
kommt ihre Mischung aus vollkommen natür-
lich und absolut undurchschaubar perfekt
zum Tragen. »Ich bin das, und es gibt keine
Trennlinie«, sagt Stewart über ihre Art, sich
Rollen anzueignen, »und ich glaube so sehr
daran, wenn es gut ist.«
Stewart gewann für »Die Wolken von Sils
Maria« als erste amerikanische Schauspiele-
rin überhaupt den französischen Filmpreis
César. Im Anschluss drehte sie mit Assayas
»Personal Shopper«. Wieder ist sie eine As-
sistentin, diesmal eines Pariser Models, für
Unglückliche Ehen gab und
gibt es viele. Warum fas
ziniert uns diese so sehr?
Szene mit Darstellerin Stewart: Der Vergangenheit verfallen
Pablo Larraín / DCM
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