Der Spiegel - ALE (2022-01-08)

(EriveltonMoraes) #1
Nr. 2 / 8.1.2022DER SPIEGEL 151

Für immer ein
Mädchen
»Wer überlebt den Atomkrieg?
Die Kakerlaken und Cher!«, so
ging einmal ein sehr gemeiner
Witz über den amerikanischen
Superstar, die unkaputtbare
Künstlichkeit von Chers Er-
scheinung und die unwidersteh-
liche Macht, mit der sie sich
der Vergänglichkeit entgegen-
stemmte. Tatsächlich war bei
ihr immer alles offen für Verän-
derung. Mal trug sie ihre Haare
in einer roten Lockenmähne,
mal blond, meistens schwarz,
mal als Vokuhila, aber auch
lang. Nun allerdings hat Cher,
mittlerweile 75 Jahre alt, durch-
blicken lassen, dass es eine
Grenze gebe, die sie nicht über-
schreiten werde: Ihre Haare

ergrauen zu lassen. »Das ist für
andere Frauen in Ordnung. Ich
werde es aber nicht tun!«, sagte
sie dem »People«-Magazin.
Nun ist es Cher zwar gelungen,
sich in so etwas wie ihren eige-
nen Avatar zu verwandeln, ein
alters- und zeitloses Wesen, das
wie ein Mensch gewordenes
Hitradio das Beste der Sechziger,
Siebziger, Achtziger und Neun-
ziger verkörpert. Aber, sagt sie,
man solle das alles nicht so
wichtig nehmen. »Die Men-
schen, die sich darüber Gedan-
ken machen, wie jemand sein
Make-up trägt, sollten sich lie-
ber ein eigenes Leben besor-
gen.« Mit ihrer modischen Ver-
gangenheit zeigt sie sich aller-
dings heute zufrieden. Dabei
gibt es fast nichts, das sie nicht
ausprobiert hat, Chers Outfits
machten sie so populär wie ihre
Musik: einen Hut aus Dutzen-
den Federn, Netzkleider, Pail-
lettenroben, silberne Overknee-
Stiefel und immer wieder
transparente Kleider, die mehr
zeigen als verhüllen. »Ich moch-
te das alles, wirklich«, sagt sie.
Dabei habe sie auch einige
lächerliche Entscheidungen ge-
troffen. »Aber die sind mir
egal.« Und das hat nichts mit
Schönheitsoperationen, son-
dern eher mit einer mentalen
Disposition zu tun: »Wenn du
niemals aufhörst, ein Mädchen
zu sein, dann wirst du auch nie-
mals alt.« EVH

Das Gesicht dieses
Frühjahrs
Der kanadische Superstar
Abel Tesfaye alias The Weeknd,
31, ist einer der großen Gestal-
tenwandler des Pop. Musika-
lisch kommt er von düsteren
Underground-Hip-Hop-Ent-
würfen, sein Hit »Blinding
Lights« ist ein großartiges Stück
Achtzigerjahre-Retropop – vor
einigen Wochen hat es Chubby
Checkers Gassenhauer »The
Twist« als erfolgreichsten Song
der Popgeschichte abgelöst.
Auch für seine Videoclips hat
Tesfaye sich immer wieder in
neue Charaktere verwandelt,
allerdings war er dabei nie so
radikal wie jetzt: Für das Cover
seines neuen Albums »Dawn
FM« hat Tesfaye sich künstlich
altern lassen. Ergraut und mit
Sorgenfalten, blickt er aus dem

Bild und sieht dabei etwa so
aus, wie man sich nach zwei
Jahren Pandemie fühlen kann –
die einem ja auch vorkommen
konnten wie eine Ewigkeit.
Er habe beim Schreiben der
Musik die Idee gehabt, seine
Hörerinnen und Hörer seien
gestorben und in der Vorhölle
gelandet, sagte Tesfaye nun
dem Branchenblatt »Billboard«.
»Das habe ich mir immer vor-
gestellt, als würde man in einem
Stau stecken bleiben und müss-
te da rauf warten, das Licht am
Ende des Tunnels zu erreichen.
Und während man da steht
und wartet, läuft im Auto das
Radio, und ein Moderator hilft
dabei, auf die andere Seite
ans Licht zu kommen.« Selten
hat Pop der Rettung aus dem
pandemischen Alltagselend
so glaubwürdig ein Gesicht ge-
geben. RAP

Queere Muse


Gerade gibt es in den deut-
schen Feuilletons viel zu lesen
über die preisgekrönte Dreh-
buch autorin und Regisseurin
Julia von Heinz, 45 (»Und mor-
gen die ganze Welt«), und ihre
neue ARD-Miniserie »Eldorado
KaDeWe« (SPIEGEL 52/21) –
eine Familien- und Liebesge-
schichte, die im Umfeld des be-
rühmten Berliner Luxuskauf-
hauses spielt. Manche finden
die Serie sehr gut, andere
mögen sie überhaupt nicht.
Über einige Stilelemente lässt
sich sicherlich streiten (zum
Beispiel darüber, dass die Pro-
tagonisten der Serie, die im
Berlin der Weimarer Republik
spielt, mit der heutigen U-Bahn
fahren) – über eine Sache je-

doch nicht: Die lesbischen Sex-
szenen der Serie sind einfach
fantastisch. Und das liegt inter-
essanterweise an einer sehr
ungewöhnlichen Muse der Re-
gisseurin Julia von Heinz:
ihrer 17-jährigen, queeren Toch-
ter. Es sei ihr nämlich wichtig
gewesen, sagt Heinz in Inter-
views, dass sie auch eine Serie
für ihre Tochter produzieren
wolle. Mit vielem, was diese
sonst im deutschen Fernsehen
finde, könne sie sich nämlich
nicht identifizieren. Zum
»Stern« sagte Heinz: »Ich woll-
te meiner Tochter jetzt mal
zeigen, dass man auch im öffent-
lich-rechtlichen Weihnachts-
fernsehen zeigen kann, dass es
kein ›normal‹ und kein ›anders‹
mehr gibt, sondern dass alles
NurPhoto / IMAGO normal ist.« NGA

Sabine Gudath / IMAGO

The Weeknd

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