Der Spiegel - ALE (2022-01-08)

(EriveltonMoraes) #1
DEUTSCHLAND

22 DER SPIEGELNr. 2 / 8.1.2022

SPIEGEL: Herr Nouripour, ist Atomkraft grün
und nachhaltig?
Omid Nouripour: Sicher nicht.
SPIEGEL: Ist Erdgas grün und nachhaltig?
Nouripour: Erdgas wird im Übergang zu er-
neuerbaren Energien noch gebraucht, aber es
ist nicht nachhaltig, und wenn man es so be-
zeichnet, riskiert man, dass es mehr wird als
ein Übergang.
SPIEGEL: Beides soll nach dem Willen der
EU-Kommission in der Taxonomie als grüne
Technologie eingestuft werden. Ihre Partei
reagiert empört. Wie groß ist der Schock
für Sie?
Nouripour: Man muss mal eines zur Taxono-
mie vorab sagen: Wer hat’s erfunden? Die
Grünen! Die Grünen in Europa haben darauf
gedrängt, weil immer noch viel zu viel Geld
in fossile Energien fließt – seit dem Pariser
Abkommen waren es allein 3,8 Billionen
US-Dollar durch die 60 größten Banken. Die
Idee war, ein Gütesiegel zu schaffen, um
Geld in Erneuerbare zu lenken. Es gab im-
mer wieder Gerüchte, dass die Kommission
auch den Neubau von Atomkraftwerken
ohne echte Auflagen in der Taxonomie auf-
führen könnte. Aber dass es so arg kommt,
war nicht klar.
SPIEGEL: Die Entscheidung war seit Monaten
abzusehen. Warum ist Ihre Partei so über-
rascht?
Nouripour: Wir haben natürlich versucht, Ein-
fluss zu nehmen. Wir versuchen weiterhin,
den Vorschlag zu verändern.
SPIEGEL: In welche Richtung?
Nouripour: Atomkraft ist nicht nachhaltig, und
wir wollen nicht, dass Finanzströme in Rich-
tung dieser Energien geleitet werden. Wir
werden später entscheiden müssen, ob wir
die Klage Österreichs unterstützen.
SPIEGEL: Gas ist ein fossiler Energieträger.
Diese Bundesregierung, der die Grünen an-
gehören, hat sich dafür eingesetzt, dass Gas
ebenfalls als nachhaltig eingestuft wird. Ist
den Grünen der Koalitionsfriede wichtiger
als Klimaschutz?
Nouripour: Wenn Sie mir etwas Pathos ver-
zeihen: Nichts ist wichtiger als der Klima-
schutz, weil es um das Überleben der Mensch-
heit geht.
SPIEGEL: Viele von denen, die das genauso
sehen, blicken verwundert auf Deutschland,
wo man gegen die nahezu CO 2 -freie Atom-

kraft kämpft, um dafür fossile Energien aus-
zubauen: Ist den Grünen ihre Anti-AKW-
Folklore wichtiger als Klimaschutz?
Nouripour: Ich erinnere mich, dass George W.
Bush mal verkündet hat, 50 Atomkraftwerke
bauen zu wollen. In den letzten 20 Jahren
wurde eins in den USA gebaut. Vermeintliche
»Klimaschützer« fordern immer wieder die
Renaissance der Atomkraft, aber es gibt im-
mer erhebliche Widerstände, ein ungelöstes
Müllproblem und einen teuren und gefähr-
lichen Rohstoffabbau.
SPIEGEL: Wenn dem so wäre, müssten Sie sich
über die Listung von Atomenergie in der
Taxonomie nicht ärgern.
Nouripour: Doch. Wir sind das Hochtechno-
logieland, das auf Atomkraft verzichtet. Es
geht auch um einen Wettbewerb der Trans-
formationsmodelle. Man darf dabei die Kurz-
sichtigkeit von Investitionsersuchen nicht
unterschätzen. Dabei können finanzielle
Schäden entstehen; auch wenn sich Atomkraft
nicht dauerhaft neu etabliert, wird der Ausbau
der echten erneuerbaren Energien so ver-
zögert.
SPIEGEL: Wird Deutschland dem Vorschlag
der EU-Kommission trotzdem zustimmen?
Nouripour: Die Grünen werden nicht zustim-
men. Die Haltung zur Atompassage ist ein-
hellig in der Regierung.
SPIEGEL: Eine Enthaltung wäre faktisch aber
ein Ja.
Nouripour: Über das Abstimmungsverhalten
in Brüssel wird in der Koalition zu reden sein,
bisher liegt noch nicht einmal die finale Vor-
lage vor.
SPIEGEL: Aktuell werden das französische
Transformationsmodell, das auf Atomkraft
setzt, und das deutsche Modell, das ohne
Gas nicht auskommt, in der Taxonomie be-
rücksichtigt. Es ist sehr unwahrscheinlich,
aber wenn Sie könnten: Würden Sie beides
streichen?
Nouripour: Da wären wir Grüne sofort dabei.
Das hat Robert Habeck stets betont.
SPIEGEL: Die Diskussion belegt einmal mehr:
Deutschland ist abhängig von Gas, auch von
russischem Gas. Wie viel Druck kann eine
grüne Außenministerin auf Russland machen?
Nouripour: Wir werden ohne Gas aus Russ-
land unseren jetzigen Bedarf nicht decken
können, das stimmt. Die Energiepartnerschaft
mit Russland reicht in die Zeit der Sowjet-

union zurück, bis 1971, sie war immer recht
stabil, erst seit Kurzem werden Gaslieferun-
gen zurückgehalten und politisiert. Das ist ein
ernstes Problem.
SPIEGEL: Russland hat rund 100 000 Soldaten
an der Grenze zur Ukraine postiert. Experten
fürchten, Wladimir Putin könnte einen Ein-
marsch vorbereiten. Droht Europa ein neuer
Krieg?
Nouripour: Die Motive für die Mobilisierung
kennen wir nicht, aber mir fallen nicht allzu
viele wohlmeinende Gründe ein. Das ist sehr
besorgniserregend. Ich bin froh, dass Olaf
Scholz demnächst Wladimir Putin treffen will.
Auch Außenministerin Annalena Baerbock
arbeitet Tag und Nacht daran, eine militäri-
sche Eskalation zu verhindern.
SPIEGEL: US-Präsident Joe Biden hat dem
ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selen-
skyj Unterstützung zugesichert – in Form von
Sanktionen gegen Russland. Wie sollte sich
Deutschland verhalten?
Nouripour: Es ist gut, dass die USA sich ein-
schalten und klarmachen, dass sie im Kriegs-
fall nicht die Hände in den Schoß legen. Was
das bedeutet, hängt davon ab, was genau
passiert. Niemand will neue Sanktionen, aber
sie können notwendig werden. Sie müssen
abgebaut werden, wenn Russland einlenkt,
und verschärft werden, wenn Russland eska-
liert.
SPIEGEL: Sehen Sie die Gefahr eines Krieges,
an dem Nato-Truppen beteiligt sind?
Nouripour: Ich pflege aus Erfahrung mit inter-
nationaler Politik einen gewissen Pessimis-
mus. Entscheidend ist deshalb, eine militäri-
sche Eskalation zu verhindern.
SPIEGEL: Das überrascht uns. Sie halten eine
militärische Unterstützung der Ukraine also
für möglich?
Nouripour: Wir sprechen hier über den Bei-
stand innerhalb der Nato und der EU. Die
Lage wäre natürlich eine andere, wenn Gas-
plattformen vor Odessa besetzt werden soll-
ten, sodass russische Soldaten wenige Kilo-
meter vor rumänischen und damit EU-Ho-
heitsgewässern stehen. Man kann das nicht
schablonenhaft beantworten. Jetzt ist aber
die Stunde der Diplomatie.
SPIEGEL: Wir haben eher den Eindruck,
Deutschland wolle Russland im Falle eines
Angriffskriegs nicht mal hart sanktionieren,
aus Angst, sonst im Winter frieren zu müssen.

»Atomkraft ist nicht nachhaltig«


GRÜNE Omid Nouripour, 46, Kandidat für den Parteivorsitz, erklärt, warum er von
der EU-Klassifikation von Erdgas und Atomkraft überrascht wurde, und fürchtet, dass die Nato
in einen Krieg mit Russland hineingezogen werden könnte.

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