Der Spiegel - ALE (2022-01-08)

(EriveltonMoraes) #1
DEUTSCHLAND

30 DER SPIEGELNr. 2 / 8.1.2022

D


er Mann hat eine ganz eigene Idee
von seinem Platz in Europa, das zeigt
sich mal wieder am 9. November. Die
Allianzvertretung am Brandenburger Tor
ist am Jahrestag des Mauerbaus und der
Reichspogromnacht bis auf den letzten
Platz gefüllt. Im Publikum sitzen Studen­
tinnen und Studenten, Mitarbeiter von Ab­
geordneten, Politikwissenschaftlerinnen.
Den Präsidenten des Europäischen Rats er­
lebt man nicht alle Tage, es könnte interes­
sant werden.
Das wird es auch, aber anders als erwar­
tet. Charles Michel soll eine Rede zur Lage
Europas halten. Er montiert die üblichen
Versatzstücke des EU­Diskurses aneinander:
Strategische Autonomie, Freihandelsabkom­
men, Einheit macht uns stärker – Schlag­
worte, die viele der Anwesenden schon zig­
mal gehört haben dürften.

Der interessante Teil der Rede geht an
diesem Abend fast unter. Wenige Meter von
der alten Berliner Mauer entfernt – »Es gibt
kein besseres Datum, keinen besseren Platz,
um über die Zukunft Europas zu sprechen«


  • bringt Michel die Finanzierung einer neu­
    en Grenzanlage ins Spiel. Die Anlage soll an
    der Außengrenze der EU gebaut werden,
    zwischen Polen, Lettland und Litauen auf
    der einen und Belarus auf der anderen Seite.
    Michel sagt nicht »Mauer«, sondern »phy­
    sische Grenzinfrastruktur«, aber das mindert
    die Wirkung seiner Worte nicht.
    Sie richten sich vor allem an eine Person:
    an EU­Kommissionspräsidentin Ursula von
    der Leyen. Sie müsste das Geld für den
    Bau freigeben, ist aber strikt gegen ein sol­
    ches Vorhaben. Und das hat sie kurz vor
    Michels Rede auf einem EU­Gipfel auch klar
    gesagt.


Es gibt in der EU unterschiedliche Mei­
nungen darüber, ob es sinnvoll wäre, dass
Brüssel einen Grenzzaun finanziert. Mit von
der Leyens Votum ist die Sache eigentlich
entschieden, entsprechend verärgert kom­
mentierte ihr Umfeld die Äußerung des Rats­
präsidenten. Wenn Michel die Finanzierung
des Zauns wirklich wichtig wäre, dann hätte
er das nicht in Berlin oder am Tag darauf in
Warschau öffentlich fordern dürfen. Er hätte
stattdessen versuchen müssen, hinter den
Kulissen eine Mehrheit unter den Mitglied­
staaten zu organisieren, ohne von der Leyen
öffentlich zu brüskieren.
Aber das ist nicht die Rolle, in der Michel
sich sieht.
Der Europäische Rat, dessen Präsident Mi­
chel ist, ist das mächtigste Gremium der EU.
In ihm sitzen die Staats­ und Regierungschefs.
Dass der Rat mächtig ist, heißt jedoch nicht,

Präsident von Europa


EU Der Belgier Charles Michel soll die Politik der Mitgliedstaaten koordinieren. Stattdessen liefert sich
der Ratspräsident einen grotesken Machtkampf mit Kommissionschefin Ursula von der Leyen.

Kontrahenten von der Leyen, Michel: Kalkulierter Affront

Stephanie Lecoco / AFP

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