DEUTSCHLAND
44 DER SPIEGELNr. 2 / 8.1.2022
Dort habe ihr Ende 2013, Anfang
2014 ein befreundeter Überläufer aus
Damaskus erzählt: Auch Raslan sei
geflohen, er wohne ebenfalls in Am-
man. Ob sie ihn treffen wolle? »Ich
war neugierig, ihn ein zweites Mal zu
sehen. Eine komische Situation,
neben jemandem zu sitzen, bei dem
man verhaftet war, und plötzlich
trinkt man mit ihm Kaffee.« Warum
wollte Raslan sie sehen? Sie weiß es
nicht, aber »er schien der Meinung
zu sein, dass seine Abkehr vom Re-
gime und die aktive Oppositionstätig-
keit eine Art Freispruch für die Taten
waren, die er vorher begangen hatte.
Entschuldigt hat er sich nicht.«
Auch Raslan erinnert sich an das
Treffen, nur war seine Erwartung eine
andere: »Ich dachte, sie wollte sich
bedanken«, wohl für die zivile Be-
handlung, hat er in der ausführlichen
schriftlichen Stellungnahme für das
Koblenzer Gericht geschrieben. Sie
habe sich aber nicht bedankt.
Am kommenden Donnerstag soll
in Koblenz das »weltweit erste Straf-
verfahren gegen Mitglieder des As-
sad-Regimes wegen Verbrechen
gegen die Menschlichkeit« zu Ende
gehen. So jedenfalls hat die Bundes-
anwaltschaft den Prozess gegen Ras-
lan und einen Unteroffizier der syri-
schen Staatssicherheit bezeichnet.
Mehr als 100 Verhandlungstage lang
wurden seit April 2020 die mutmaß-
lichen Verstrickungen der Angeklag-
ten untersucht, aber vor Gericht stand
auch das gesamte Unterdrückungs-
und Mordsystem der Assad-Herr-
schaft.
So sieht das Weltrechtsprinzip es
vor: dass jeder Staat Völkerstraftaten
verfolgen kann, obwohl sie nicht im
eigenen Land passiert sind und keine
eigenen Staatsbürger betreffen. 2002
wurde das als Gesetz vom Deutschen
Bundestag beschlossen.
Beobachter rechnen mit einer ho-
hen Haftstrafe für Anwar Raslan bis
hin zu lebenslänglich. Nicht, weil ihm
nachgewiesen wurde, Menschen ge-
foltert oder getötet zu haben, sondern
weil er verantwortlich gewesen sei:
»Sein Tatbeitrag ergibt sich aus seiner
Stellung innerhalb der Hierarchie der
Abteilung 251«, führt die Anklage-
schrift aus. Raslan bestreitet, nach
Mitte 2011 noch die tatsächliche Ver-
antwortung in der Abteilung gehabt
zu haben. 2014 fand er aus humani-
tären Gründen Aufnahme in Deutsch-
land. Aus seiner früheren Position hat
er nie ein Geheimnis gemacht.
Es ist ein gewaltiges Verdienst die-
ses Verfahrens, die monströsen Ver-
brechen des syrischen Geheimdienst-
apparates durchleuchtet zu haben.
Dieser hat seit 2011 nicht mehr zur
Unterdrückung, sondern zur buch-
stäblichen Vernichtung aufständi-
scher Syrer gedient. Das spurlose Ver-
schwinden von mindestens 102 000
Menschen, der dokumentierte Folter-
mord an mehr als 14 000 wurden in
Koblenz gerichtlich behandelt. Das
ist ein Gewinn.
Doch ambivalent bleibt, wer hier
verurteilt wird. Anders als bei den
Sondertribunalen der Vereinten
Nationen etwa für Ruanda werden
hier Verbrechen einer noch herr-
schenden Macht verhandelt. Zur Re-
chenschaft gezogen werden können
nur jene, derer die Justiz überhaupt
habhaft werden kann, die sich vom
Regime abgewandt haben, desertiert
und geflohen sind.
E
ine kleine Frau mit Lockenkopf
und dunklen Augen lässt das
Grauen in Syrien im deutschen
Gerichtssaal lebendig werden. Vor
dem Koblenzer Oberlandesgericht
schildert die heute 38-jährige Journa-
listin L., wie sie in den Anfängen des
Aufstands gegen den Diktator Ba-
schar al-Assad am 2. Mai 2011 fest-
genommen worden war, als sie eine
Frauendemonstration in Damaskus
filmte. Von Ort zu Ort verschleppt,
landete sie schließlich im al-Khatib-
Gefängnis, Teil der Abteilung 251.
Dort habe sie stundenlang mit dem
Gesicht zur Wand in einem Gang ste-
hen müssen, geschlagen von den
Wächtern, die vorbeikamen. »Das
war dort normal. Es geschah ohne Be-
fehle.« Die Wärter hätten sie als Hure
beschimpft, gedroht, sie zu vergewal-
tigen.
Vielleicht hält die Ironie mancher
ihrer Antworten die Angst von da-
mals auf Distanz. Warum sie mit
einem Elektroschocker traktiert wur-
de? »Das weiß ich doch nicht«, er-
widert sie und lacht trocken. »Ich
hatte das Gefühl, dass sie ihn einfach
ausprobieren wollten.« Damals kam
L. wieder frei, aber sie ging weiter
zu Protesten, wurde ein Jahr später
nochmals festgenommen und traf am
dritten Tag in Haft den Mann, der nun
ein paar Meter schräg vor ihr auf der
Anklagebank sitzt: Anwar Raslan,
Chef der Ermittlungsabteilung al-
Khatib der syrischen Staatssicherheit.
Raslan habe den Wärtern befoh-
len, ihr die Augenbinde abzunehmen,
sie gebeten, sich zu setzen. Ihr einen
Kaffee angeboten, den sie aus Angst
ablehnte. Bevor er sie wieder abfüh-
ren ließ, »sagte ich zu ihm, ich könne
es nicht fassen, dass die Armee auf
die Straße gegangen ist, um Menschen
zu töten. Er hat nur genickt und den
Beamten gebeten, mich in die Zelle
zurückzubringen«. Auf ihre Bitte hin
ließ er sie im Flur noch eine Zigarette
rauchen. Abermals kam sie frei und
floh bald darauf in die jordanische
Hauptstadt Amman.
Die Schuldfrage
JUSTIZ Zum ersten Mal urteilt ein Gericht in Deutschland über syrische Geheimdienstler
wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Aber ist es richtig, wenn ausgerechnet
jene angeklagt werden, die desertiert sind? Von Hannah El-Hitami und Christoph Reuter
Angeklagter Raslan:
Er floh unter Lebens-
gefahr aus Syrien,
jetzt droht ihm eine
hohe Haftstrafe
Thomas Lohnes / AFP
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