DEUTSCHLAND
46 DER SPIEGELNr. 2 / 8.1.2022
Krieg führen zu können: im Irak, im Libanon,
ab 2011 in Syrien selbst.
Nicht mit dem Sicherheitsapparat an sich,
mit der Unterdrückung und der Folter, hatte
Oberst Raslan ein Problem, sondern mit dem
Durchdrehen des Apparats. Damit, dass ech
te Terroristen ausgerüstet und »massenhaft
Zivilisten umgebracht wurden, die absolut
nicht mit der bewaffneten Opposition zu tun
hatten«. Er habe Menschen zu Geständnissen
bringen sollen, die nichts zu gestehen hatten.
»Sie haben meine Arbeit lächerlich gemacht«,
sagte er damals über die Generäle. Es klang
nach einer Mischung aus Entsetzen und ge
kränkter Berufsehre.
Aus rechtsstaatlicher Perspektive ist beides
barbarisch. Niemand darf gefoltert oder ohne
faires Verfahren eingesperrt werden. Doch
dieses moralische Konstrukt, zwischen gutem
und bösem Unrecht unterscheiden zu wollen,
teilte Raslan mit vielen Überläufern aus Ar
mee, Partei und Geheimdiensten. Bis 2011,
sagte er in seiner Einlassung zu Prozess
beginn, habe er sich mit dem syrischen Justiz
und Staatssystem identifizieren können. Da
nach nicht mehr.
Anders als die meisten Offiziere in den
obersten Rängen der Geheimdienste gehört
Raslan nicht zu Assads Glaubensgemeinschaft
der Alawiten. Er ist Sunnit, kommt aus der
zentralsyrischen Ortschaft Hula, eine unge
wöhnliche Herkunft für eine steile Karriere im
syrischen Regierungsapparat. Ehrgeizig und
hochintelligent, studierte Raslan nach dem
Abitur Jura in Damaskus, bewarb sich bei der
Polizei und schloss einen Kurs für angehende
Polizeioffiziere 1993 als Zweitbester seines
Jahrgangs ab. Die prestigereiche Staatssicher
heit nahm ihn gern, dort machte er Karriere bis
zum Chefposten bei der Ermittlungsabteilung.
Doch als 2011 der Aufstand gegen Assad
begann, schloss sich seine Heimatstadt Hula
so rasch und resolut der Rebellion an, dass
Assads Todesschwadronen hier schon im Mai
2012 ein Massaker an Zivilisten verübten.
Raslan geriet zwischen die Fronten. In Hula
wurden seine Verwandten von seinen Kolle
gen beschossen, in Damaskus warf sein Vor
gesetzter ihm vor: »Die Bewohner deiner
Ortschaft sind Verräter.«
Sein Selbstbild, auch im System Assad als
professioneller Ermittler arbeiten zu können,
zerbrach. Er entschied sich zur Flucht, was
seinen Schilderungen zufolge monatelange
Vorbereitungen bis Ende 2012 erforderte, weil
er längst unter Beobachtung gestanden habe.
Kaum in den Rängen der Opposition im
Exil angekommen, wollte er fortfahren mit
dem, was er am besten konnte: einen Geheim
dienst leiten. Nur eben jetzt für die andere
Seite. Das Scheitern dieses Projekts gehört
zu den skurrilsten Schilderungen im Koblen
zer Gerichtssaal. Erzählt wird diese Geschich
te von einem ehemaligen syrischen Luftwaf
fenpiloten, der zum schriftstellernden Dissi
denten geworden war und 2011 als Häftling
in Raslans Abteilung landete. Damals hatte
Raslan ihm erzählt, dass er eigentlich auch
Schriftsteller werden wollte und mit ihm lie
ber über seinen Roman gesprochen hätte, als
ihn zu verhören.
Fortan seien sie in Kontakt geblieben, bei
de außer Landes. 2014 habe Raslan ihn nachts
in Istanbul plötzlich angerufen: »Er fragte, ob
ich zum TaksimPlatz kommen könne«, er
zählt der einstige Pilot im Zeugenstand. Ras
lan sei nach Istanbul gekommen, um einen
Sicherheitsdienst für die syrische Opposition
zu gründen. Doch der Mann, der das Treffen
organisiert hatte, sei einfach verschwunden
und habe die Teilnehmer auf den Hotelkosten
sitzen gelassen. »Raslan stand da mit einem
Koffer im Regen, sah frustriert und traurig
aus«, erinnert sich sein ExGefangener, der
ihn für einige Tage bei sich zu Hause aufnahm.
Noch eine Weile blieb Raslan aktiv in der
Opposition, flog 2014 sogar als Mitglied einer
Oppositionsdelegation zu Gesprächen mit
dem UnoSonderbotschafter für Syrien nach
Genf. Der prominente syrische Regimekriti
ker Riad Seif, der in Berlin im Exil lebt, emp
fahl Raslan dem Auswärtigen Amt als Kandi
daten für ein humanitäres Aufnahmepro
gramm. Auf legalem Weg mit Visa konnte
Raslan mit seiner Familie 2014 einreisen und
kam in Berlin unter.
Er habe immer Angst gehabt, schon seit
seiner Flucht, bestätigen mehrere Zeugen in
Koblenz: nicht vor der Rache seiner Opfer,
sondern vor den ehemaligen Kollegen. Im
Februar 2015 schreibt Raslan an die Berliner
Polizei: »Ich fühle mich akut bedroht, mein
Leben ist in Gefahr.« Er sei überzeugt, von
Agenten des syrischen Regimes beschattet zu
werden, sagt, er habe Angst davor, ver
schleppt zu werden. Den Berliner Beamten
schildert er, welche Position er in Syrien hat
te, warum er fürchte, als Verräter umgebracht
zu werden. Mit dem Personenschutz wird es
nichts, Raslans Verdacht ist zu vage. Aber die
Polizei nimmt auch keine Ermittlungen gegen
ihn auf. Niemand, so scheint es, interessiert
sich für Oberst Raslans Vergangenheit.
Erst ein Stammtisch alter syrischer Männer
in BerlinTegel wird die Dinge ins Rollen brin
gen. Raslan trifft dort einen alten Bekannten
wieder, der ihn als Zeuge in einer Ermittlung
gegen einen syrischen Offizier ans LKA Ba
denWürttemberg vermittelt. Die Stuttgarter
Polizisten reden mit Raslan, der zu ihrem Fall
wenig beitragen kann. Aber er spricht bei
dieser Gelegenheit ausführlich über seine
eigene Vergangenheit, über Gewalt bei Ver
nehmungen und über Tote. Das LKA horcht
auf und leitet den Fall 2017 an das Bundes
kriminalamt weiter, das gegen Raslan zu er
mitteln beginnt.
Als Raslan und der ehemalige Feldwebel
Eyad Alghareib am 12. Februar 2019 festge
nommen werden, ist von den Hoffnungen auf
einen baldigen Sturz der AssadDiktatur
nichts mehr übrig. Die Überläufer haben kei
ne politische Bedeutung mehr. Aber sie sind
mühelos an ihren Meldeadressen in Berlin
Pankow und Zweibrücken anzutreffen. In
anderen Fällen scheiterten Versuche, ehema
lige und amtierende hochrangige Mitglieder
des AssadRegimes zu verhaften, die sich im
Ausland aufhalten.
Brigadegeneral Khalid alHalabi, einst Ab
teilungschef der Staatssicherheit in der Stadt
Rakka, lebt trotz jahrelanger Bemühungen
europäischer Strafverfolger bis heute als freier
Mann in Wien. Gegen Jamil Hassan, einst
Chef des Luftwaffengeheimdienstes, erließen
Frankreich und die deutsche Bundesanwalt
schaft 2018 einen internationalen Haftbefehl.
Hassan ließ sich trotzdem allein 2019 mindes
tens zweimal im Libanon medizinisch behan
deln, ohne dass er festgesetzt worden wäre.
Ein Jahr zuvor war Raslans ehemaliger Chef
und heute mächtigster Mann der syrischen
Dienste, Ali Mamluk, unbehelligt nach Italien
geflogen, um dort mit dem Innenminister und
dem Chef des Auslandsgeheimdienstes zu
plaudern.
Während des Prozesses im Koblenzer Ge
richtssaal macht sich Anwar Raslan akribisch
Notizen, bittet seinen Dolmetscher, ihm mit
der richtigen Schreibweise deutscher Namen
zu helfen. Werden Karten oder Dokumente
an die Wand projiziert, setzt er die Brille auf
und mustert sie eingehend. Die Vertreter der
Bundesanwaltschaft und die Dolmetscher be
grüßt er mit einem dosierten Kopfnicken. Fast
hat es den Eindruck, als hielte er sich für einen
Ermittler in seinem eigenen Fall. Welche
Schuld er empfindet, wenn er die Opferzeu
gen hört, die mit größter Mühe die erfahrenen
Qualen in Worte fassen, lässt sich nicht er
ahnen. Raslans Miene zeigt keine Gefühls
regungen. Manchmal lacht er, selten schüttelt
er den Kopf oder schaut mit zusammenge
kniffenen Augen auf.
Zum ersten Mal wurden in Koblenz die
erschütternden Bilder des syrischen Militär
fotografen »Caesar« als Beweismittel verwen
det. Er hatte auch als Leistungsnachweis der
verschiedenen Geheimdienste Fotos von Er
mordeten gemacht. Dann floh er und brachte
Tausende Aufnahmen an die Öffentlichkeit.
Bild um Bild projiziert ein Rechtsmedizi
ner im November 2020 an die Wand des Ko
blenzer Gerichtssaals. Die Aufnahmen zeigen
ausgemergelte Leichen, die Lippen meist
leicht geöffnet, die Haut gelblich, auf der Stirn
nummerierte Zettel. Andere Vorgänge, wie
das systematische Verschwindenlassen der
Geheimdienstopfer in Massengräbern, kom
Koblenzer Ankläger im Gerichtssaal 2020
Thomas Lohnes / REUTERS
2022-02SPAllDeutschland458952202_ProzessAssad-Scherge40-044046 462022-02SPAllDeutschland458952202_ProzessAssad-Scherge40-044046 46 06.01.2022 22:20:5906.01.2022 22:20:59