Krankheit, aber über ihre Gefährlichkeit für
den Einzelnen wird fast schon hysterisch
berichtet. Ich selbst bin nicht geimpft, habe
mich infiziert und bin recht gut durch die
Krankheit gekommen, ohne Krankenhaus-
aufenthalt. Mittlerweile lese ich den SPIEGEL
und die Artikel auf SPIEGEL.de kaum noch.
Wenn Sie mich fragen, was geschehen müss-
te, damit ich den SPIEGEL wieder häufiger
lese, kann ich Ihnen darauf keine Antwort
geben. Ich glaube momentan nicht, dass die
Kluft zwischen Ihnen und mir zu überbrü-
cken ist.«
Joanna Engel, 43, Kaiserslautern, Verkaufs-
profi bei Tchibo: »Als alleinerziehende Mutter
habe ich nicht viel Zeit, um in Ruhe zu lesen.
Ich arbeite im Schichtdienst. Je nachdem,
wann ich arbeiten muss, schaffe ich es manch-
mal morgens, ein paar Seiten im SPIEGEL zu
lesen, manchmal abends – statt fernzusehen.
Ich bin gebürtig aus Polen und erst seit
1999 in Deutschland. Ich möchte mich ein-
lesen. Dabei interessiere ich mich eigentlich
für alle aktuellen Themen aus Deutschland,
aber auch aus ganz Europa, wie zum Beispiel
für die Lage an der polnisch-belarussischen
Grenze. Ich möchte mir eine Meinung bilden
können.
Deutsch ist nicht meine Muttersprache.
Manchmal sind in den SPIEGEL-Texten sehr
viele schwere Wörter drin. Ich schlage die
Bedeutung dann während des Lesens nach.
Ich sehe das einerseits als Herausforderung,
andererseits kostet mich das zu viel Zeit. So
bleibt einiges ungelesen. Bis ich die Hefte
wegwerfe, dauert es aber. Wenn mein Freund
da ist, gebe ich sie an ihn weiter oder lese
selbst später noch mal etwas nach. Zwischen-
durch habe ich aber auch schon mal gekündigt.
Der SPIEGEL ist nicht günstig, und wenn ich
es nicht schaffe, ihn zu lesen, frage ich mich
immer, ob es sich lohnt, so viel Geld auszu-
geben. Ich habe zurzeit ein Probe-Abo.
Jetzt, in der Coronazeit, fand ich viele Be-
richte furchtbar interessant. Ein Artikel über
die Lage auf den Intensivstationen hat mir
sogar bei der Impfentscheidung geholfen: Ich
war schon geimpft, aber bei meinen Kindern
war ich noch unsicher. Nachdem ich dann
gelesen habe, wie die Situation auf den In-
tensivstationen der Krankenhäuser ist, habe
ich gleich einen Termin gemacht. Das hat
mich wirklich berührt und überzeugt. Gerade
heute wurde mein jüngerer Sohn geimpft.«
Die Sprache des SPIEGEL – sie ist früher oft
als arrogant kritisiert worden, sie hat sich aber
verändert in den vergangenen Jahren, meinen
wir. Es spricht nicht mehr die anonyme Instanz,
die Sprache ist lockerer geworden. Nicht alle
finden das gut.
Hans Morgenthaler, 77, Bensheim, pensionier-
ter Lehrer:
SPIEGEL: Herr Morgenthaler, Sie schreiben
uns fast täglich, manchmal auch mehrmals
am Tag, um uns auf Grammatik- und Syntax-
fehler hinzuweisen. Haben Sie das Gefühl,
das bringt etwas?
Morgenthaler: Ehrlich gesagt, nein. Aber ich
hoffe ja immer, dass meine Mails auf Dauer
wirken. Bei der Grammatik stehen mir oft
die Haare zu Berge. Ganz schlimm ist es in
den Schlagzeilen, da wird regelmäßig der
Genitiv mit dem Dativ verwechselt. Das
kommt vor allem auf SPIEGEL.de vor, aber
auch im Magazin fallen mir immer wieder
Dinge auf.
SPIEGEL: Welche denn?
Morgenthaler: Da werden Windkraftanlagen
als Windräder bezeichnet. Das ist ja grauen-
haft. Das, was sich da dreht, ist doch kein Rad.
Vor vielen Jahren wurde im SPIEGEL auch
mal von Windmühlen gesprochen. Ja, was
wird denn da gemahlen? Und alles, was mit
der Kernphysik zu tun hat, wird mit Atom
bezeichnet. Das führt dann zu komischen An-
glizismen wie Atomdeal. Was kann man sich
darunter vorstellen? Ein Deal zwischen ge-
schäftlichen Atomen oder was? Aber auf so
etwas reagiere ich schon gar nicht mehr.
SPIEGEL: Warum bleiben Sie dem SPIEGEL
trotzdem treu?
Morgenthaler: Früher gab es dieses Bonmot:
Vor welchem Tag haben Politiker Angst?
SPIEGEL: Und?
Morgenthaler: Vor dem Montag, weil da der
SPIEGEL erschien. Heute ist das der Samstag.
Im Investigativen hat der SPIEGEL großartige
Sachen gemacht.
SPIEGEL: Was ist Ihnen da besonders im Ge-
dächtnis geblieben?
Morgenthaler: Die Enthüllungen des SPIEGEL
zur Flick-Affäre und zur Spendenaffäre unter
Helmut Kohl. Aber der SPIEGEL hat sich auch
ein paar Fehlleistungen erlaubt.
SPIEGEL: Welche?
Morgenthaler: Bei Christian Wulff hat der
SPIEGEL leider mit draufgehauen. Meiner Mei-
nung nach hatte sich Wulff aber nur Bagatellen
erlaubt. Oder der SPIEGEL hat einmal mit
Sammler Abraham: »Ich bin nicht krisenanfällig«
Maurice Weiss / DER SPIEGEL
Nr. 2 / 8.1.2022DER SPIEGEL 55
75 JAHRE DER SPIEGEL TITEL
2022-02SPAllTitel456452202_ReporterbesuchenLeser-054055 552022-02SPAllTitel456452202_ReporterbesuchenLeser-054055 55 06.01.2022 20:29:5406.01.2022 20:29:54