Der Spiegel - ALE (2022-01-08)

(EriveltonMoraes) #1
wohner abgeliefert. Selten dürfte der
SPIEGEL der Antwort auf die Frage, warum
der Osten so ist, wie er ist, nähergekommen
sein. Vielleicht war das Cover ein letzter
Rückfall in alte, west-chauvinistische Zeiten.
Journalisten sind keine Politiker. Sie sind
nicht unmittelbar verantwortlich dafür,
wenn ein Bundesland gegen die Wand ge-
fahren wird, jahrzehntelang gab es schwere
Versäumnisse, gerade in Sachsen. Die CDU
hat den Rechtsextremismus maßgeblich ver-
harmlost, die Skepsis gegenüber der Demo-
kratie, den Parteien und staatlichen Institu-
tionen nicht ernst genommen und die Zivil-
gesellschaft schmählich im Stich gelassen.
Das kann auch der beste Journalismus nicht
reparieren.
Aber Redaktionen wie die des SPIEGEL
können dazu beitragen, dass die Vernünfti-
gen sich repräsentiert und wahrgenommen
fühlen. Journalismus beeinflusst den Ton
von Debatten und prägt den Blick derer, die
sich durch ihn ein Bild von einer Region und
ihren Menschen machen. Er wirkt auch auf
die Zivilgesellschaft, die langfristig darüber
entscheidet, wohin sich ein Land bewegt.
Der SPIEGEL wird von denen, die die Demo-
kratie aushöhlen, nicht zur Kenntnis genom-
men. Im besten Fall aber von denen, die sie
retten können.
Wie kann der Journalismus dem Osten
gerecht werden? Was kann der SPIEGEL tun?
Gute Berichterstattung über Ostdeutschland
ist nicht zuerst eine Frage des Geldes. Auch
wenn mehr Reporter vor Ort guttun wür-
den – entscheidend ist am Ende, wie die
Redaktion und ihre Führung auf den Osten
blicken. Von oben herab wird das nichts.
Den Osten ernst nehmen, nur so kann es
gehen. Und zwar nicht die Schreihälse. Son-
dern die Menschen in der dritten oder vier-
ten Reihe, die nur hinterhertrotten. Und
dann vor allem jene, die sich ein anderes,
besseres Ostdeutschland wünschen, sich
aber nicht mehr aus der Deckung trauen.
Sie müssen Gehör finden, ihr Leben muss
stattfinden, wenn es um den Osten geht. Der
Anspruch auch des SPIEGEL sollte sein: raus
aus den Mustern der Berichterstattung, weg
von den üblichen Verdächtigen. Echtes In-
teresse für den Alltag im Osten. Die Zeit der
Zuspitzung ist vorbei, die Wirklichkeit ist
krass genug.
Nach der Vereidigung des neuen Bundes-
kanzlers Olaf Scholz las ich auf SPIEGEL.de
einen Kommentar über dessen Kabinett, in
dem kaum Ostdeutsche sitzen. Geschrieben
hatte ihn Timo Lehmann, Jahrgang 1991, in
Sachsen-Anhalt studiert, eine neue SPIEGEL-
Generation. Lehmann schrieb: »Man kann
als Westdeutsche den Sachsen einfach
Dummheit oder Larmoyanz vorwerfen,
weil sich zu viele nicht impfen lassen oder
AfD wählen. Allein: Helfen wird das gar
nichts.«
Der Mann hat Ahnung. Und man darf
festhalten: So isser inzwischen auch, der
SPIEGEL. n

HATE SPEECH

Es geht nicht


um Kritik


Der Hass im Netz wird vor allem zum Problem, wenn der Hass das Netz
ver lässt. Betroffene sind auf sich gestellt – denn weder Polizei noch
Justiz sind ausreichend geschult. Ein Essay von Margarete Stokowski

W


enn man über die polarisierte Gesell-
schaft und den öffentlichen Diskurs
redet, landet man immer wieder beim
Thema Hass im Netz – aber was damit ge-
meint ist, ist oft eigenartig unklar. Alle wissen


  • oder scheinen zu wissen –, dass Hass im
    Netz schlimm ist und schlimmer wird, Debat-
    ten schädigt und zur Spaltung der Gesellschaft
    beiträgt. Aber wenn es um die Details geht,
    ist die Kenntnislage bei Nichtbetroffenen oft
    eher dünn.
    Ich habe das häufig bei Lesungen oder an-
    deren Veranstaltungen erlebt, fast immer wer-
    de ich bei solchen Anlässen gefragt, wie ich
    als Autorin damit umgehe, dass ich von Hass
    im Netz betroffen bin. Die Fragen gehen dann
    meistens in die Richtung: »Wie ist das für Sie,
    was macht das mit Ihnen?« Und: »Was kann
    man dagegen tun?«
    Zwei Punkte dazu: Was »es« mit »mir«
    macht, halte ich erstens nicht für den zentra-
    len Punkt der Debatte. Das Interesse daran
    ist verständlich, aber manchmal habe ich das
    Gefühl, dass diese Frage von einer gewissen
    Sensationslust getragen ist: Na, hält sie das
    aus? Wird sie uns etwas über Nervenzusam-
    menbrüche und schlaflose Nächte erzählen?
    Wird sie nicht. Sie kommt schon klar.
    Und zweitens: Um wissen zu können, was
    man gegen Hass im Netz tun kann, muss man
    erst mal klären, worum es da geht.
    Denn weder »Hass« noch »im Netz« sind
    selbsterklärend. Als ich auf einer Lesung sag-
    te, dass ich das meiste, was sich an Hasskom-
    mentaren unter meinen Texten oder Tweets
    oder in meinem Posteingang einfindet, ein-
    fach ignoriere und nur ab und zu mal jeman-
    den anzeige, meldete sich ein Zuhörer, Typ
    Lehrer kurz vor der Pensionierung, und frag-
    te: »Aber ist es nicht auch wichtig, Kritik ernst
    zu nehmen? Machen Sie es sich da nicht etwas
    leicht, wenn Sie das ignorieren?«
    Aber es geht nicht um Kritik. Der Zuhörer
    wusste tatsächlich nicht, was ich meinte: nicht
    Leute, die eine andere Meinung haben als ich.
    Sondern Leute, die mir Beleidigungen oder
    Drohungen schicken. Texte darüber, wie sie
    mich vergewaltigen, erschießen, verprügeln,
    anzünden, aufhängen wollen. Dass ich eine
    gierige polnische Schlampe und eine eklige


Zecke sei, dass ich hässlich sei und meine Eier-
stöcke verfault seien, dass sie hoffen, dass ich
von Arabern vergewaltigt würde.
Der Hass ist mir persönlich egal. Wenn
man politische Autorin ist, gewöhnt man sich
daran, oder man hört auf und macht etwas
anderes. Ich habe mich daran gewöhnt. Man
macht diesen Job nicht, um möglichst beliebt
zu werden; da gäbe es erfolgversprechendere
Wege. Wenn man so etwas sagt, denken Leu-
te oft, man wolle nur besonders abgebrüht
klingen, aber es stimmt. Altenpflegerinnen
gewöhnen sich, soweit ich weiß, ja auch da ran,
mit Exkrementen zu tun zu haben.
Was man aber nicht ignorieren kann, ist,
wenn Leute ankündigen, dem Hass Taten fol-
gen zu lassen. Und damit sind wir bei einem
zentralen Problem: Hass im Netz bleibt nicht
notwendigerweise im Netz. Das wird spätes-
tens dann klar, wenn sich Menschen auf
Telegram zu Fackelmärschen vor Häusern
verabreden oder live streamen, wie sie jeman-
den am Arbeitsplatz »besuchen«.
Ein häufiger Ratschlag an Leute, die so-
genannte Shitstorms erleben, ist: Mach doch
mal das Handy aus. Ein weiterer Ratschlag:
Zeig die doch an, wenn sie dich beleidigen
oder bedrohen. Das erste Problem daran:
Beide Ratschläge widersprechen sich. Wenn
man jemanden anzeigen will, muss man alles
dokumentieren, man braucht Links zu Pos-
tings und Profilen und zusätzlich Screenshots.
Das kann man nicht zusammenstellen, wenn
man »einfach mal das Handy ausmacht«.
Und das zweite Problem: Es geht nicht weg,
wenn man wegguckt. Im Zweifel kann es sogar
gefährlich werden, wenn man nicht mitbe-
kommt, dass Leute einen Angriff ankündigen
oder die Wohnadresse veröffentlichen. Soge-
nanntes Doxing ist längst ein zentraler Be-
standteil von Hass im Netz geworden: die Ver-
öffentlichung privater Daten einer Person, also
etwa von Politiker:innen oder Journalist:innen,
gegen deren Willen, zwecks Einschüchterung.
Dabei kann es um die Wohnadresse gehen,
aber auch um die Telefonnummer, Mail-
Adresse, um Auto und Autokennzeichen, die
Namen der Kinder oder anderer Familienmit-
glieder oder um Orte, an denen die Person oder
ihre Familienmitglieder sich häufig aufhalten.

70 DER SPIEGELNr. 2 / 8.1.2022

TITEL 75 JAHRE DER SPIEGEL

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