Der Spiegel - ALE (2022-01-08)

(EriveltonMoraes) #1

I


m Jahr drei der Pandemie, 50
Jahre nach dem ersten Bericht
des Club of Rome und dem
schlimmsten Artensterben seit den
Dinosauriern, ist den wenigsten nach
Feiern zumute. Im Gegenteil: Wir ha-
ben gerade drei Krisen zum Preis von
zweien; jedenfalls mehr Krisen, als
wir brauchen. Der Frust sitzt auf allen
Seiten tief, verstummt sind all die
schönen Ideen, was man alles »nach
der Pandemie« ändern wolle.
Das Wichtigste in einer Krise ist es,
erst mal zuzugeben, dass man eine hat.
Auch ganz persönlich. Ich zum Bei-
spiel habe es nicht geschafft, eine Frau
aus meinem privaten Umfeld und ihre
Familie zu überzeugen, sich gegen Co-
vid-19 impfen zu lassen. Ich kam und
komme gegen ihre tiefe Überzeugung,
die Impfung sei riskanter als die Er-
krankung, nicht an. Dabei habe ich im-
mer geglaubt, dass es reiche, wenn man
lange genug die Sorgen ernst nimmt,
Dinge erklärt, auf verlässliche Quellen
hinweist. Ist aber nicht so, »das Inter-
net« war vertrauenswürdiger.
Es wäre leicht, sich über die ob-
skuren Theorien zu erheben. Impfgeg-
ner gibt es, seit es Impfungen gibt. Aber
die Dimension, die Lautstärke und die
Aggressivität in der Debatte sind neu.
Deshalb müssen wir uns damit ausein-
andersetzen und uns Fragen stellen:
Warum sind die Verschwörungstheore-
tiker, die Coronaleugner so erfolgreich?
Manchmal frage ich mich: Hätte es in
den Sechzigerjahren bereits das Inter-
net gegeben, hätten wir heute noch
Polio und Pocken? Und wo sind die
eigenen blinden Flecken der Medien-
branche und Kommunikatoren?
Daher meine sieben(-einhalb)
Wünsche für ein besseres Krisenma-
nagement:

Wunsch 1: Sagen, was man nicht weiß
Wissenschaft ist immer der aktuelle
Stand des Irrtums – aber das Beste,

was wir haben. Das Vertrauen in die
Wissenschaft ist nach wie vor da, es
ist bei vielen zwischen 2018 und 2020
sogar gestiegen. Das zeigt eine
weltwei te Umfrage des Wellcome
Global Monitor 2020 mit mehr als
100 000 Teilnehmenden aus 113 Län-
dern. Je mehr die Politik auf die Wis-
senschaft hört, desto mehr vertrauen
die Befragten auch der Politik. Das
gibt Hoffnung!
Vertrauen gewinnt man, wenn
man die Unsicherheiten der eigenen
Aussagen klar benennt. Das sollte
auch für Talkshows gelten: Die per-
sönliche Meinung und der Sachstand
des Wissens müssen besser unter-
schieden und benannt werden. Das
hilft gegen falsche Sicherheit und
»false balance«: dass Sachverhalte
plötzlich strittig erscheinen, weil
Pseudoexperten das behaupten.
Wissen und Informationen sind im
Überfluss vorhanden. Deshalb ist es
falsch zu glauben, wir müssten nur
weiter forschen und veröffentlichen,
dann würde die Welt vernünftig. Al-
lein »Sagen, was ist« hilft da nicht.
Man muss es auch richtig sagen. Des-
halb wundere ich mich, dass im neuen
Expertenrat mit Cornelia Betsch und
Ralph Hertwig nur eine Expertin für
Gesundheitskommunikation und ein
Entscheidungspsychologe sitzen  –
neben lauter Virologen. Virologen
wissen nicht, was gegen virale Des-
informationskampagnen im Netz
hilft. Das wissen Kommunikations-
profis. Vielleicht lässt sich Sascha
Lobo nachnominieren?

Wunsch 2: Über die Wirkung reden
Zu Risiken und Nebenwirkungen fra-
gen Sie Ihren Arzt oder Apotheker.
Aber mit wem soll man dann eigent-
lich über den Nutzen reden? Die Wir-
kung der Impfung ist: Sie verhindert,
an Covid-19 schwer zu erkranken,
ins Krankenhaus zu müssen und

schlimmstenfalls zu sterben. Doch
woran denken Sie zuerst, wenn Sie
Hirnvenenthrombose hören oder
Herzmuskelentzündung? An die
Impfungen?
Was bei den Debatten über Impf-
empfehlungen oft nicht klar genug
gesagt wird: Thrombosen und Herz-
muskelentzündungen sind in erster
Linie »Nebenwirkungen« der Infek-
tion mit dem Virus. Sie sind bei
Covid-19 ohne vorherige Impfung
viel häufiger. Sehr viel häufiger. Aber
in der Debatte dominiert die Sorge
über eine äußerst seltene Möglichkeit
einer Herzmuskelentzündung nach
einer Impfung.
Die wichtigere Frage ist doch:
Welche Auswirkungen hat die un-
geschützte Infektion? Und wie oft
haben wir zu groß über sehr seltene
Ereignisse berichtet und die Größen-
verhältnisse außer Acht gelassen? Ich
habe für die ARD eine Doku gedreht
über Long Covid. Seitdem weiß ich:
Etwa jeder Zehnte hat anhaltende Be-
schwerden nach einer Erkrankung
ohne Impfschutz. Zum Teil über Mo-
nate und Jahre.
Ungeimpfte sagen, sie hätten
Angst vor Langzeitwirkungen. Lang-
zeitschäden macht nicht die Impfung,
Langzeitschäden macht das Virus.

Wunsch 3: Erfolge sichtbarer machen
Wissen Sie, wie viele Menschen nicht
an Covid-19 gestorben sind, weil sie
geimpft waren? Die beste Studie, die
ich dazu gefunden habe, schätzt das
für Europa sehr vorsichtig ein, nur für
den Zeitraum zwischen Dezember
2020 und November 2021 und nur
bei Menschen über 60 Jahren. Und
trotzdem (Trommelwirbel!): Europa-
weit hat die Impfung etwa eine halbe
Million Menschen vor dem Tod be-
wahrt. Das sind 500 000 Omas und
Opas, Onkel und Tanten, Mütter und
Väter, die leben. Das sollten wir mal
richtig feiern!

Wunsch 4: Die Macht der Basis nutzen
Feuerwehrleute, Rettungssanitäter,
Pflegefachkräfte und überhaupt die
Gesundheitsberufe sind in der Öffent-
lichkeit wesentlich glaubwürdiger als
alle Politiker, Journalisten und Kri-
senmanager zusammen. Weil über
die Akzeptanz einer Botschaft we-
niger ihr Inhalt entscheidet als ihr
Überbringer, braucht die Szene neue
Botschafter, nicht nur Wissenschaftler,
sondern auch Menschen von der
Basis.
Danke an Menschen wie Franziska
Böhler, Alexander Jorde, Ricardo
Lange, Tobi Schlegl oder Joko und
Klaas für die Aktion »Pflege ist

Hirschhausen,
Jahrgang 1967, hat
Medizin und
Wissenschafts­
journalismus studiert.
Er ist Arzt, Wissen­
schaftsjournalist,
Fernsehmoderator
und Gründer der
Stiftung »Gesunde
Erde – Gesunde
Menschen«.

KRISENMANAGEMENT

7 ,5 Wünsche für die


nächsten Jahre


Impfgegner gibt es, seit es Impfungen gibt. Aber die Lautstärke und die
Aggressivität in der Debatte sind neu. Ich frage mich, warum die
Verschwörungstheoretiker so erfolgreich sind. Und was man dagegen tun
kann? Ein paar Anregungen von Eckart von Hirschhausen

Dominik Butzmann / laif

72 DER SPIEGELNr. 2 / 8.1.2022

TITEL 75 JAHRE DER SPIEGEL

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