Der Spiegel - ALE (2022-01-08)

(EriveltonMoraes) #1
WIRTSCHAFT

90 DER SPIEGELNr. 2 / 8.1.2022

Ü


berall in Deutschland werden in den
kommenden Tagen Handys rot auf-
leuchten, so warnt die staatliche Coro-
na-App vor einem gefährlich nahen Kontakt
zu Infizierten. Mehr als 230 000 solcher Ri-
sikowarnungen wurden Nutzerinnen und
Nutzern allein am vergangenen Mittwoch
angezeigt, ein Rekordwert seit der Einführung
der App im Juni 2020. Tendenz steigend.
Knapp 40 Millionen Mal wurde die App
inzwischen installiert, etwa 67 Millionen Euro
hat der Staat bisher dafür ausgegeben. Das
Bundesgesundheitsministerium hat den aus-
laufenden Vertrag mit der Deutschen Telekom
und SAP, den für Entwicklung und Betrieb
verantwortlichen Konzernen, bis zum 31. De-
zember 2022 verlängert, wie der SPIEGEL
erfuhr. Für weitere 25,2 Millionen Euro. In-
teressanterweise wurde die Verlängerungs-
option zwei Tage vor der Bundestagswahl
gezogen.
Bei der Vorstellung der App im Juni 2020
hatte Kanzleramtsminister Helge Braun
(CDU) das Projekt gelobt und hohe Erwar-
tungen geschürt. Er sprach von der »besten
Warn-App weltweit«. Sie herunterzuladen sei
»ein großer Schritt für die Pandemiebekämp-
fung.« Seitdem wurde kaum noch gelobt.
Fachleute kritisierten, dass die App zu lang-
sam weiterentwickelt wurde, neue Funktionen
und sinnvolle Anpassungen seien zu spät oder
gar nicht gekommen. Und angesichts der sich
auftürmenden Omikron-Welle stellt sich er-
neut die Frage: Was trägt die App überhaupt
zur Eindämmung der Pandemie bei?
Die Virusmutation stellt die Entwickler vor
besondere Probleme. Ob ein Kontakt zu einer
infizierten Person gefährlich war, berechnet die
App im Wesentlichen danach, wie lange und
wie nah der Kontakt war. Ab einer Begegnung
von mindestens neun Minuten mit 1,5 Meter
Abstand kann die App auf Rot springen.
Weil das Virus durch Varianten wie Delta
und Omikron infektiöser wurde, dürften in-
zwischen auch kürzere Kontakte für eine
Übertragung reichen. Das letzte größere Up-
date der Risikoberechnung stammt jedoch
aus dem April 2021, bevor die Delta-Variante
in Deutschland dominant wurde und lange
vor dem Aufkommen von Omikron. Ist die
App noch genau genug?
Eine Aktualisierung angesichts von Omi-
kron erachtet man im Bundesgesundheits-
ministerium bislang nicht für notwendig.
Hinter den Kulissen wurde das aber durchaus

er wogen. Ein Grund, warum man sich bislang
dagegen entschied: Engere Schwellenwerte
beim Abstand oder bei der Dauer der
Kontakte würden zu einem weiteren deut-
lichen Anstieg der Warnungen führen. Das
könnte mehr Fehlwarnungen verursachen,
was wiederum das Vertrauen in die App be-
schädigen würde, fürchtet manch ein betei-
ligter Experte.
Es war also offenbar auch eine politische
Abwägung, die zum Verzicht führte, technisch
wäre eine Omikron-Optimierung machbar.
Andere Stimmen weisen allerdings darauf
hin, dass der aktuelle wissenschaftliche
Kenntnisstand kein Update notwendig ma-
che. Aus dem Gesundheitsministerium heißt
es dazu offiziell, dass das RKI die Grundlagen
der Risikoberechnung fortlaufend beobachte.
Karl Lauterbach selbst hatte die langsame
Weiterentwicklung der Warn-App in der Ver-

gangenheit kritisiert und als neue Funktion
eine automatische Cluster-Erkennung vor-
geschlagen. So könnte die App eine größere
Menschenmenge registrieren und so mög-
licherweise besser vor riskanten Supersprea-
ding-Events warnen. Doch im nun von Lau-
terbach geführten Ministerium möchte man
diesen Ansatz offenbar nicht mehr weiterver-
folgen.
Im Kreis der App-Verantwortlichen denkt
man bereits an eine Zeit nach Omikron, ja
sogar an eine Nach-Pandemie-Ära. Corona
mag endemisch werden, eine digitale Kon-
taktverfolgung nicht mehr notwendig – doch
die Warn-App soll, wenn es nach ihnen geht,
überleben. Immerhin sei sie die erfolgreichs-
te öffentliche App aller Zeiten, mit Dutzenden
Steuermillionen entwickelt und deshalb »viel
zu schade fürs Museum der Kommunikation«,
sagt ein Beteiligter.
So kursieren bereits Ideen für ein zweites
Leben der App nach der Pandemie. Etwa als
neue »Bundes-Warn-App« für den Katastro-
phenschutz, in der bestehende Lösungen wie
Katwarn und Nina aufgehen könnten. Eine
andere Idee: Die Warn-App könnte zu einer
Gesundheits-App werden – über die dann etwa
E-Rezepte bei Apotheken eingelöst werden
könnten. Eigentlich sollte das schon seit Jah-
resbeginn flächendeckend möglich sein, nur
wie üblich bei der Digitalisierung hierzulande
bekamen die Verantwortlichen das nicht hin.
Wegen technischer Mängel hat Lauterbachs
Ministerium in letzter Minute vor dem Jahres-
wechsel die Pflicht zur Einführung des E-Re-
zepts aufgehoben und stattdessen den Probe-
betrieb verlängert. Wenn politisch gewünscht,
ließe sich die App wohl sogar als Nukleus eines
Impfregisters nutzen – viele Geimpfte haben
ihren Impfnachweis bereits hochgeladen.
Insbesondere die Telekom hätte an einer
längeren Nutzung der App wohl großes Inte-
resse, sie will ihr digitales Gesundheitsge-
schäft weiter ausbauen. Und da kann ein we-
nig zusätzliche Hilfe nicht schaden. Einer der
wichtigsten Verantwortlichen für die Warn-
App hat das Gesundheitsministerium Anfang
Dezember verlassen. Der Abteilungsleiter
Digitalisierung Gottfried Ludewig ist mit dem
Regierungswechsel in Elternzeit gegangen –
zurückkehren wird er nicht. Er wird von März
an Chef der Gesundheitssparte bei der Tele-
kom-Tochter T-Systems.

Die Corona-Warn-App


Eine Bilanz in Zahlen

, Mio. Mal
wurde die Corona-
Warn-App seit ihrem
Start Mitte Juni 
heruntergeladen

, Mio.
empfangene
Warnungen*

rund ,
Mio.
kosteten den Bund
bis Ende 
Entwicklung
und Betrieb

darunter
Mio.
positive Test-
ergebnisse


,
Mio.
PCR-Test-
ergebnisse
wurden bislang
übermittelt

* seit März 2021 von Personen, die die Datenspende
in der App aktiviert haben
S‰Quellen: RKI, BMG; Stand: 6. Jan.
Max Hoppenstedt, Marcel Rosenbach,
Cornelia Schmergal n

The App must go on


SOFTWARE Das Gesundheitsministerium hat den Vertrag mit SAP und Telekom zur Corona-Warn-App
verlängert. Dabei ist sie noch gar nicht an Omikron angepasst.

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