Der Spiegel - ALE (2022-01-08)

(EriveltonMoraes) #1
AUSLAND

94 DER SPIEGELNr. 2 / 8.1.2022

M


aria Chindamo fuhr am Morgen des


  1. Mai 2016 über eine Landstraße zu
    ihrem Olivenhain. Am Eingangstor
    wurde sie wohl schon erwartet. Auf jeden Fall
    lief der Motor ihres Autos noch, als später die
    Carabinieri eintrafen. Die Einfahrt war mit
    ihrem Blut vollgespritzt, von der Frau selbst
    fehlte jede Spur.
    Sie sei ermordet, die Leiche dann »den
    Schweinen zum Fraß vorgeworfen« worden,
    sagte ein festgenommener Mafioso später den
    Ermittlern.
    Genau fünf Jahre danach versammeln sich
    auf derselben Landstraße, vor demselben
    Tor, Hunderte Menschen. Carabinieri stehen
    Spalier. Don Ennio, der Priester, ist gekommen,


außerdem Staatsanwälte, eine Staatssekretärin
aus Rom. Am Zaun hängt ein großes Foto.
Maria Chindamo strahlt in die Kamera. »Dove
sei?«, steht neben dem Bild. »Wo bist du?«
Maria hatte sich von ihrem Mann getrennt,
ein selbstbestimmtes Leben gesucht; damit
habe sie den Ehrenkodex der Mafia verletzt,
deshalb musste sie sterben, glauben ihre An-
gehörigen. »Sie war eine fantastische Mama
und immer für uns da«, sagt Federica, die
mittlere Tochter. Sie studiert Jura und möch-
te Staatsanwältin werden. »Ich würde gern
einen Beitrag leisten, um meine Heimat zu
verändern.«
Ihre Heimat, das ist Kalabrien. Genauer
gesagt: die Provinz Vibo Valentia am Süd-

westzipfel des italienischen Stiefels. 152 000
Einwohner, Felsbuchten, lange Strände, mehr
als 1000 Meter hohe Berge. Und bis vor nicht
langer Zeit mehr Morde als in jeder anderen
italienischen Region. Hier tobt der momentan
härteste Kampf gegen die Mafia, die in Kala-
brien ’Ndrangheta heißt – ein Dialektwort,
das unter anderem mit »Heldentum« über-
setzt wird.
Dabei scheut die ’Ndrangheta den Konflikt
mit dem Staat, sie versucht, Aufsehen zu ver-
meiden. So wurde sie zur weltweit am besten
vernetzten kriminellen Organisation Italiens.
Während die sizilianische Mafia die Regie-
rung mit Attentaten provozierte, während die
kampanische Camorra in ihrem Kampf gegen

Mit Krawatte und Schrotflinte


ITALIEN Ein Staatsanwalt aus Kalabrien nimmt es mit der ’Ndrangheta auf, dem mächtigsten
Verbrechersyndikat Europas. 355 mutmaßliche Mafiosi hat er in Italiens größtem Prozess
seit Jahrzehnten auf die Anklagebank gebracht – darunter den Boss der Bosse. Von Frank Hornig

Polizeieinsatz im kalabrischen Molochio: »Wir nehmen jede Woche 20, 30, 50 Leute fest«

Alessio Mamo

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