Der Spiegel - ALE (2022-01-08)

(EriveltonMoraes) #1
AUSLAND

96 DER SPIEGELNr. 2 / 8.1.2022

schwere, schusssichere Stahltür zu
seinem Zimmer. Leibwächter müssen
den Ermittler, der täglich Anschläge
fürchten muss, seit Jahrzehnten auf
Schritt und Tritt begleiten. Jetzt ist er
63 Jahre alt, die Haare werden weni­
ger, seine Leidenschaft nicht. »Ich
liebe diesen Job«, hat er bei einer
Parlamentsanhörung gesagt.
Gratteris Furor gegen die Clans ist
groß, manchen vermutlich zu groß,
auch in Rom, wo es traditionell am­
bivalente Haltungen zur Mafia gibt.
Vor Jahren sollte er Justizminister
werden, der damalige Premier Matteo
Renzi hatte ihm im Vorgespräch
»freie Hand« versprochen. Doch
dann bekam aus nie richtig aufge­
klärten Gründen ein Berufspolitiker
den Job.
Eine Ikone und ein Kruzifix hän­
gen in seinem Büro neben der italie­
nischen Flagge, auf dem Schreibtisch
stapeln sich die Akten. Gratteri ist
müde und verschnupft an diesem
Morgen, in der Nacht hat er schon
wieder eine Razzia angeordnet.
Fast jeden Monat, manchmal im
Wochentakt schlagen seine Leute zu,
stets gibt es Dutzende Festnahmen.
Mal wird tonnenweise Kokain ent­
deckt, mal lässt er auf einen Schlag
Immobilien, Unternehmen und gan­
ze Urlaubsresorts im Gesamtwert von
170 Millionen Euro beschlagnahmen.
So war es nicht, als Gratteri 2016
die Staatsanwaltschaft in der Haupt­
stadt Kalabriens übernahm. »In die­
ser Region geben wir die Komman­
dos«, erfuhr er aus dem abgehörten
Telefonat eines Mafioso. Sogar auf
den Fluren seiner Behörde lungerten
Männer der ’Ndrangheta herum.
»Ständig drangen Nachrichten
nach draußen«, sagt Gratteri. Er bau­
te Sicherheitskontrollen am Eingang
ein und tauschte Fahnder aus, denen
er nicht traute. »In Friedenszeiten
wärst du ein guter Ermittler«, habe
er gesagt, »aber wir haben keinen
Frieden. Wir haben Krieg.«

»Wenn man einmal saubere Büros
hat, kann man mit der Arbeit begin­
nen«, sagt Gratteri. Die Botschaft
kam auch auf der anderen Seite an:
»Er hat alle verjagt, es kommt keiner
mehr rein«, hieß es in einem anderen
abgehörten Telefonat.
Väter, Söhne, Enkel – zwei, drei
Familien bilden in der ’Ndrangheta
eine Einheit, die dann zum Beispiel
eine Kommune beherrsche, sagt Grat­
teri. »Alles, was dort passiert, wird
von ihnen kontrolliert.« Es gelte eine
strenge Hierarchie: »Der Boss ist Herr
über Leben und Tod. Unter ihm gibt
es eine Art Finanzminister. Und einen
Kriegsminister, der Waffen verwaltet
und Nachwuchskiller trainiert.«
Junge Männer, die der Organisa­
tion beitreten wollen, werden einem
erfahrenen ’Ndranghetista zur Seite
gestellt. »Wer einen Schießbefehl in­
frage stellt, fliegt sofort raus«, sagt
Gratteri. »Ein Anfänger darf nicht
diskutieren, er muss gehorchen.«
Nach etwa anderthalb Jahren folge
ein ritueller Schwur beim Chef der
lokalen Familie. Der ritze mit einem
Messer einen Finger des Neulings auf,
sein Blut tropfe auf ein in Flammen
aufgehendes Bild des Erzengels
Michael. »Von diesem Moment an
existiert für ihn nur noch die ’Ndran­
gheta«, sagt Gratteri.
Die Blutsbande und das Schweige­
gebot Omertà machten es der Justiz
lange Zeit fast unmöglich, potenziel­
le Aussteiger als »pentito«, als Kron­
zeugen, zu gewinnen. Ohne Aussagen
keine Urteile, kein Ende der allgegen­
wärtigen Verbrechen. Es war ein Teu­
felskreis.
Gratteri versucht, ihn zu durch­
brechen. Deshalb die vielen Razzien,
die es vorher so nicht gab. »Wir
machen das ganz systematisch«, sagt
er, »wir nehmen jede Woche 20, 30,
50 Leute wegen Mafiaverbindungen
fest.« Auf diese Weise, hofft er, wächst
in der Region langsam das Vertrauen
in die Justiz.
»Kommt zu uns, erzählt uns eure
Sorgen, erstattet Anzeige«, lautet sein
Aufruf an die Bevölkerung. Einmal
pro Woche setzt er sich selbst an
einen Schalter in seinem Justizpalast,
jeder, jede kann vorbeikommen und
berichten, wie ihm oder ihr Schutz­
gelder abgepresst oder Wucherkredi­
te aufgedrängt werden.

Bevor der »Rinascita Scott«-Prozess
beginnen konnte, musste der Staat
einen Verhandlungssaal bauen: Nir­
gendwo in Kalabrien hätte man
gleichzeitig 355 Angeklagte vor Ge­
richt stellen können. Unweit der
Küste, zwischen Feldern und Gewer­

pur. Heute gehört das Anwesen dem
Staat, der es zu einer Bildungsstätte
über die Verbrechen der Mafia um­
bauen lässt. Früher war es eine der
Residenzen von Mancuso.
Seine Familie lebt seit Generatio­
nen im Ort. Der Siegeszug des Clans
begann in den späten Siebzigerjah­
ren, als die Mancusos am Bau des
kalabrischen Güterhafens Gioia Tau­
ro mitverdienten. Der Hafen wurde
zum Umschlagplatz für Millionen von
Containern pro Jahr, außerdem für
Waffen und Drogen.
Luigi Mancuso, auch »Zio Luigi«,
»Onkel Luigi«, genannt, gilt als einer
der mächtigsten Mafiachefs Italiens.
Von 1993 bis 2012 saß er bereits we­
gen Drogengeschäften und Mitglied­
schaft in einer mafiosen Vereinigung
in Haft. Seither, so der Vorwurf, soll
er am Wiederaufstieg seines Clans ge­
arbeitet haben.
In Kalabrien wird er als sagenhaf­
te, fast sakrosankte Figur beschrie­
ben. Alle Mafiosi der Region »erlagen
seinem Charme«, sagt ein Aussteiger,
sie hätten ihn »wie ein Heiligenbild«
verehrt. »Ich habe nie jemanden
schlecht über Luigi Mancuso reden
hören. Er stand immer an der Spitze
der ’Ndrangheta.
Auf den ersten Blick, das haben
die Ermittlungen gezeigt, verdient
die Familie auf scheinbar normale
Weise ihr Geld. Man betreibt Cafés,
verlegt Glasfasernetze in Rom, ist
beim Wiederaufbau erdbebenzer­
störter Orte in den Abruzzen dabei,
investiert in Tourismusprojekte. Als
»Onkel Luigi« am 19. Dezember 2019
in einem Hochgeschwindigkeitszug
festgenommen wurde, kam er gerade
von einem Termin in der Business­
metropole Mailand nach Kalabrien
zurück.
Finanziert werde vieles davon
durch Drogengeschäfte, schreibt die
italienische Anti­Mafia­Behörde DIA.
»Die Mancusos sind extrem gefähr­
lich«, heißt es im jüngsten Bericht der
Direzione Investigativa Antimafia.
Ermittlungen hätten bewiesen, dass
die ’Ndrangheta »zu blutigen Drogen­
clans in Südamerika genauso effizient
und geschickt Beziehungen aufbaut
wie zu Politikern, Beamten, Unter­
nehmern und Freiberuflern« in Ita­
lien. »Das Niveau der Infiltration von
Politik und Behörden wird immer
höher.«

Nicola Gratteri sitzt an seinem
Schreibtisch in der Staatsanwaltschaft
von Catanzaro. Auf Bildschirmen
sieht er genau, was auf dem Flur vor
seinem Büro los ist. Nur wenn er auf
einen Knopf drückt, öffnet sich die

Ein Anfänger
muss
gehorchen.

Videoübertragung
im »Rinascita
Scott«-Prozess: Viele
Verbrechen werden
nie aufgeklärt

Gianluca Chininea / AFP

Mafioso Mancuso

CC / ROPI

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