Der Spiegel - ALE (2022-01-08)

(EriveltonMoraes) #1
AUSLAND

98 DER SPIEGELNr. 2 / 8.1.2022

der Beschuldigten bezweifeln die
Glaubwürdigkeit der Kronzeugen
und wollen die Argumente der An-
klage damit entkräften.
Eines aber ist für Gratteri jetzt
schon klar: »Wir können so viele
Menschen festnehmen, wie wir wol-
len«, sagt er, wenn sich die Gesell-
schaft nicht engagiere, sei alles um-
sonst. »Die Menschen müssen die
Räume besetzen, die wir jede Nacht
von der ’Ndrangheta befreien.«

Fast jedes Gespräch in Kalabrien
kommt irgendwann auf die Rolle der
Familie. Sie ist das Erfolgsrezept der
’Ndrangheta, sie garantiert ihren Zu-
sammenhalt, sie vermittelt schon Kin-
dern vermeintliche Ehrbegriffe für
ihre spätere Mafiakarriere. Aber in
Familien beginnt auch der Wider-
stand gegen die Clans.
Die Kirche San Martino Vescovo
in Soriano Calabro, einem Städtchen
in den Bergen, ist bis zum letzten
Platz gefüllt. Eltern, Geschwister und
Freunde feiern eine Messe für Filippo
Ceravolo.
Im Alltag verkaufte der 19-Jährige
mit seinem Vater Süßigkeiten auf den
Märkten der Umgebung. Mit der
’Ndrangheta hatte er nichts zu tun.
Bis zum Abend des 25. Oktober 2012.
Filippo Ceravolo fuhr gerade von
seiner Freundin in sein Elternhaus
zurück. Er hatte eine Panne, ein an-
deres Auto nahm ihn mit. Der Mann
am Steuer war ein in Ungnade gefal-
lener ’Ndranghetista. Mehrere Kugeln
durchsiebten den Wagen. Filippo
starb, ein Zufallsopfer der Mafia.
Jedes Jahr an seinem Geburtstag
treffen sich seine Familie und die
Freunde zum Gedenkgottesdienst.
Die Totenfeier ist zugleich eine

Demonstration. »Wir können immer
etwas gegen die Mafia unternehmen«,
steht auf einem Transparent vor der
Kirche, »Tränen für Filippo. Schande
für euch« auf einem anderen.
Danach spazieren sie durchs Zen-
trum der kleinen Stadt. »Filippo
müsste jetzt mit euch allen in der
Pizzeria Geburtstag feiern«, sagt
Martino Ceravolo. Am offenen Grab
seines Sohnes habe er eines verspro-
chen, hatte Ceravolo in der Kirche
gesagt: »Wir kämpfen weiter. Die
das verbrochen haben, müssen dafür
bezahlen.«

Kann sich Italien wirklich von der
’Ndrangheta befreien, wie Gratteri
hofft? Einfache Antworten gibt es
nicht, eines aber fällt auf: je weiter
die Distanz zu Kalabrien, desto grö-
ßer die Skepsis. In der Geschichte
Italiens wurde oft versucht, die Mafia
als Problem des Südens zu behan-
deln. Regierungen in Rom waren
nicht immer bereit, den Kampf gegen
das organisierte Verbrechen zu un-
terstützen.
Vielleicht, weil Geschäftsinteres-
sen betroffen waren. Vielleicht aus
Resignation. »Dass die Zivilgesell-
schaft mit ihren Vereinen jetzt gegen
die Mafia protestiert, ist nur ein Zei-
chen der Stärke der ’Ndrangheta«,
unkt ein Regierungsmitarbeiter in
Rom. Die ’Ndrangheta wisse, »dass
sie den Menschen auch ein bisschen
Hoffnung lassen muss«. Gratteri, die
Bürgerbewegungen – aus Sicht der
Clans sei das nur Show. »Die Men-
schen in Kalabrien wissen, wessen
Regeln sie zu befolgen haben.«
Vor Ort ist Zynismus keine Option.
Giuseppe Borrello gehört zu einer
Gruppe von Aktivistinnen und Akti-
visten. Er fand, dass sich Kalabrien
bei den Fahndern bedanken müsse.
Mit seinem Verein Libera und ande-
ren Gruppen lud er am 24. Dezember
2019, fünf Tage nach der Razzia, zu
einer Kundgebung ein.
Es war Weihnachten, und doch ka-
men 5000 Menschen aus ganz Kala-
brien nach Vibo Valentia. Sie zogen
von der Staatsanwaltschaft zum
Hauptquartier der Carabinieri. Dort
nahm der Kommandeur einen über-
wältigenden Applaus entgegen, sagt
Borrello. »Vor ihm teilte sich die Men-
ge wie das Meer, als Mose erschien.«
»Jahrelang lebten wir in Angst,
diese Verbrecher haben uns in einen
Zustand politischen, wirtschaftlichen
und sozialen Niedergangs versetzt«,
sagt Borrello. »Jetzt zeigen wir ganz
Italien, dass wir als Gemeinschaft zu-
sammenstehen und Kalabrien von
ihnen befreien können.« n

behöfen, steht deshalb eine neue,
103 Meter lange Halle mit 947 Plät-
zen für Beschuldigte, Anwälte und
Angehörige.
An der Decke hängen Monitore, die
Direktschalte zu den Angeklagten läuft
wie bei Zoom- oder Teams-Konferen-
zen eines Unternehmens, allerdings
flimmern die Männer nicht aus priva-
ten Wohnzimmern ins Gericht, son-
dern aus italienischen Gefängnissen.
Auf einem der Videos ist ein Kron-
zeuge zu sehen. Graue Haare, der
Ansatz einer Glatze, mehr ist nicht
zu erkennen. Er erzählt, was er vom
Mancuso-Clan weiß. »Ich habe noch
nie einen Unternehmer kennenge-
lernt, der nicht mit der Familie Man-
cuso befreundet war«, sagt der Pen-
tito. Ohne Beziehungen gebe es in der
Region keine Aufträge, keine Arbeit.
Dann fügt er hinzu: »Die Mancusos
sind Mörder, die lassen Leute erschie-
ßen. Da macht man sich natürlich
Sorgen.«
Während er spricht, ist auf einem
anderen Bildschirmfenster ein älterer
Mann zu erkennen. Er sitzt in einem
kargen Gefängnisraum, vor ihm lie-
gen Akten auf einem Tisch. Sein Ge-
sicht ist regungslos. Es ist »Onkel
Luigi«.
Jahrelang hatte Gratteri ihn und
seine Leute abhören und beschatten
lassen. Als Konzernzentrale diente
den Gangstern ein Schuppen auf dem
Land, den die Fahnder mit Mikrofo-
nen und Kameras ausgestattet hatten.
Was sie hörten, wirkte oft drehbuch-
reif, etwa Todesdrohungen wie diese:
»Am liebsten würde ich ihn vor seiner
Frau und seinem Sohn zu Mortadella
machen.«
Es wird noch lange dauern, die
Vorwürfe aufzuklären. Die Anwälte

Politischer,
wirtschaftli-
cher, sozialer
Niedergang.

Mordopfer Chindamo

IOS / ROPI

Aktivist Borrello bei
Kundgebung in
Vibo Valentia 2019:
Zynismus ist keine
Option

Privat

2022-02SPAllAusland456652202_Mafia-Report-094098 982022-02SPAllAusland456652202_Mafia-Report-094098 98 06.01.2022 19:58:3006.01.2022 19:58:30

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